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Der gordische Knoten

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Tja, kaum zu glauben, aber wahr. Es ist wieder soweit. Er muss da durch. Er muss irgendwie Stand halten; muss den Urlaub irgendwie aushalten; ihn irgendwie meistern. Die vorgegebene Struktur fällt weg, und er ist gezwungen, ein neues System zu kreieren, mit dem er umgehen kann.

Schon verwunderlich: kaum fällt die verhasste Routine weg, hat er nichts anderes zu tun, als eine eben solche wieder aufzubauen. Das Gleiche, nur eben anders.

Ein Widerspruch? Natürlich! Das Leben ist voll von Widersprüchen. Es ist das, was das Leben überhaupt erst lebenswert macht; es unberechenbar und unvorhersehbar werden lässt; gar aufregend.

Vorhersehbarkeit ist der Feind, den es zu besiegen gilt. Denn das Bewusstsein ist auf Kontraste ausgelegt. Fehlt der Kontrast, besteht die Gefahr, dass alles zu einem Einheitsbrei zusammenläuft; dass keine Details mehr wahrgenommen werden können; dass alles im Kopf vereinheitlicht wird.

Das Bewusstsein ist auf Diversität geradezu angewiesen; auf Unterschiedlichkeit; auf Abgrenzung. Fehlt diese, fühlt sich alles irgendwie fad an; ohne richtigen Geschmack; ohne Identität.

Und dennoch scheint es das Gefühl zu geben, nach Verlässlichkeit streben zu wollen; nach Überschaubarkeit; nach Verständnis.

Es sind zwei Gefühle; zwei Bedürfnisse, vereint in einem einzigen Individuum; vereint in einer einzigen Gesellschaft. Wir wollen Verlässlichkeit, Transparenz und Durchschaubarkeit, und dennoch gibt es das Verlangen, überrascht zu werden; den Anstoß zu erhalten, neue Denkwege einzuschlagen; einschlagen zu müssen. Wir wollen uns weiterentwickeln, benötigen hierzu aber dennoch ein gewisses Maß an Routine. Wir wollen Verlässlichkeit, benötigen hierzu aber dennoch ein gewisses Maß an Chaos.

Urlaub ist ein Ausbruch aus den Routinen der Arbeit. Arbeit ist ein Ausbruch aus den Routinen des Urlaubs.

Das Chaos bricht immer wieder in unser Leben ein und zwingt uns, unser System zu überdenken; neue Wege zu gehen; Lösungen auf neue Anforderungen der Außenwelt zu finden. Dabei gibt es und muss es immer das Risiko geben, es nicht bestehen zu können.

No risk, no fun.

Zur Zeit befindet er sich noch in diesem Prozess, seinen Urlaub für sich so zu gestalten, wie er es braucht. Es geht darum, mit dem Chaos umzugehen; es nach den eigenen Bedürfnissen zu strukturieren.

Das Leben ist widersprüchlich, und genau darin liegt die Würze. Es lässt uns ständig auf neue Herausforderungen reagieren. Nur so kommen wir voran. Deshalb ist unser Bewusstsein darauf ausgelegt.

Doch es gibt Bedingungen neuer Art, die Probleme aufwerfen, die nur schwerlich zu beheben sind. Es sind die neuen Medien und mit ihnen die Möglichkeit, in Echtzeit erfahren zu können, was auf der anderen Seite der Erde geschieht.

Das Bewusstsein ist so angelegt, dass es auf Dinge reagiert, die in unserem Umfeld geschehen. Denn nur in diesem Bereich sind wir überhaupt handlungsfähig. Die Medien zeigen uns aber Ereignisse, die in weiter ferne geschehen. Das Problem hierbei: unser Bewusstsein reagiert in der gleichen Weise darauf, als geschehe es in unserem direkten Umfeld, obwohl wir aber keine richtige Handlungsfähigkeit diesbezüglich besitzen. Es lenkt uns so von unserem direkten Umfeld ab; lässt uns mit Dingen beschäftigen und auf diese reagieren, die uns eigentlich gar nichts angehen.

Es lässt uns in gewisser Weise ein Gefühl von Transzendenz spüren. Das Gefühl also, als befänden wir uns währenddessen in einem Bereich jenseits unserer Wirklichkeit. Eine Art Ersatzreligion also. Es lässt uns über unseren eigentlichen Status erheben; informiert uns über das Weltgeschehen; macht uns alle im gewissen Sinne zu Weltbürgern. Und lässt uns vor allem vergessen, was direkt vor unserer Tür geschieht. Verdrängt es, weil der mögliche Inhalt unseres Bewusstseins nun einmal begrenzt ist.

Die Routine wird dadurch in einer Art Bewusstlosigkeit ausgeführt.

Wir sind wie betäubt durch die Themen, die immer wieder durch die Medien geistern; die die Menschheit für eine begrenzte Zeitspanne in Atem hält. Sei es nun Griechenland, die Flüchtlingskriese, Corona, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, oder ein Löwe, der eigentlich ein Wildschein ist und durch die berlinnahe Provinz geistert, oder vielmehr durch das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Themen, die ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln, weil es Themen sind, mit denen sich viele Menschen gleichzeitig beschäftigen; auseinandersetzen.

Doch was geschieht nun während dieses Theaters in unserem unmittelbaren Umfeld überhaupt tatsächlich?

Aufstehen, immer zur gleichen Uhrzeit; sich fertig machen, immer zur gleichen Uhrzeit; zur Arbeit gehen, immer zur gleichen Uhrzeit; Pause machen, immer zur gleichen Uhrzeit; Feierabend machen, immer zur gleichen Uhrzeit und auf der Arbeit immer die gleichen Leute treffen. Kein Entrinnen, weil es nötig ist; weil das System nun einmal so aufgebaut ist. Nur der Kopf hat die Möglichkeit, sich während dieser quälenden Eintönigkeit mit etwas anderem zu beschäftigen. Und tut dies, weil es ein tief verwurzeltes Bedürfnis darstellt. Wer will sich schon dauerhaft mit seinen Routinen auseinandersetzen; mit seinem echten Leben?

Er baut sich im Urlaub Routinen auf, die es nur im Urlaub gibt. Es erfüllt das Bedürfnis der Abwechslung und gleichzeitig der Vorhersehbarkeit. Er beschäftigt sich auch im Urlaub mit den transzendenten Themen. Denn er hat auch hier das Bedürfnis, sich von den Routinen, die im Urlaub entstanden sind, geistig zu lösen; diese irgendwann nicht mehr wahrnehmen zu müssen.

Der gordische Knoten bleibt also bestehen. Er ist vielleicht nur durch wirklich extreme Verhaltensweisen zu zerschlagen. Doch dies ist ein Bedürfnis, das niemals zu stark werden darf, weil das Umsetzen dessen immer auch Vernichtung bedeutet.
 
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