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4 Seiten

Hoch hinaus

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Der Weg ist steinig. Er muss aufpassen, dass er nicht ausrutscht. Er hat nur diese bescheuerten Sandalen an. Die Sonne brennt. Es ist heiß. Er schwitzt. Sein Herz pocht. Er keucht. Berge um ihn herum. Eine wundervolle Landschaft, die ihn quält; die ihn zerreißt; die ihm nach und nach das Leben aussaugt. Wasser. Fände er hier doch nur eine Quelle. Seine Lippen sind aufgedunsen; teils schon aufgeplatzt.
Sein Blick wird immer verschwommener. Seine Ausdauer neigt sich dem Ende zu. Einfach hinlegen, mit Blick in den Himmel? Die Augen schließen; einschlafen; bewusstlos werden und in die andere Welt übergehen?
Dieser Gedanke wird mit jedem Schritt, den er tut, und eigentlich gar nicht mehr leisten kann, immer verführerischer. Der Gedanke an die Erlösung immer süßer. Immer mehr nimmt es Raum in seinem Bewusstsein ein; besetzt es sein Denken; fesselt ihn und lässt ihn jeden Schritt noch viel schwieriger ausführen. Was könnte jetzt überhaupt noch sein Ziel sein? Weshalb auch nur einen einzigen Schritt weitermachen?
Touristen sind dumm. Diese Einstellung kennt man von den Bergführern hier. Denn sie denken, dass ihre Schützlinge nicht wissen, wie man sich in solch einer Umgebung zu verhalten hat und dass diese es auch nicht annehmen würden, selbst wenn man versucht, es ihnen zu erklären. Keine Frage: er ist genau so ein dummer Tourist. Im Grunde hat er sich an nichts gehalten, was man versucht hat, ihm zu erklären. Da, wo er herkommt, muss er sich an so viele Vorschriften halten; an Bestimmungen; an Regeln; an Gesetze. Und er hält sich an alles. Er ist ein gewissenhafte Bürger. Doch hier, hier ist er im Urlaub. Auch im Urlaub von diesen vielen Bestimmungen, an die er sich stets zu halten hat. Versucht ihm hier jemand etwas vorzuschreiben, wie etwa, was für Schuhe er zu tragen hat, verschränkt er nur seine Arme, und dreht sich weg. Was würde er jetzt für ordentliche Schuhe geben! Mit Sandalen ins Hochgebirge scheint tatsächlich keine so gute Idee zu sein. Oder die ganzen Vorschriften, wie diese, dass man immer in Sehweite der Gruppe zu bleiben hat. Jetzt kommt ihm diese Vorschrift tatsächlich sinnvoll vor. Er wollte nur kurz austreten; hat die Gruppe weitergehen lassen; hat sein Geschäft verrichtet und als er wieder aufschließen wollte, musste er feststellen, dass der Weg, an den man sich die ganze Zeit gehalten und auch orientiert hat hinter einer Biegung mit einem kleinen Felsvorsprung geendet hat. Ab einer bestimmten Höhe gibt es bei diesem Berg keine Wege mehr. Man hatte es ihnen bei der Einführung zu dieser Tour gesagt. Er hat aber natürlich demonstrativ nicht zugehört. Von dieser Stelle an hat es keinen Anhaltspunkt mehr gegeben, in welche Richtung die Gruppe weitergegangen sein könnte. Er hat die Gruppe weder sehen noch hören können. Kurz hat er überlegt, ob er den Weg einfach zurückgehen sollte. Hat sich dann aber dagegen entschieden. Wenn er einfach auf gleicher Höhe wie der Weg hinter ihm bleibt, dann müsste das doch irgendwie klappen.
Jetzt ist er schon Stunden unterwegs. Immer stur geradeaus. Der Ehrgeiz hat ihn gepackt. Das war auch so eine Vorschrift gewesen: sollte es vorkommen, dass einer doch verloren geht, dann soll die Person genau an dieser Stelle bleiben, wo es geschehen ist. Sobald der Verlust bemerkt wird, kommt man, um die verlorengegangene Person zu bergen. Vorschriften; Bestimmungen; Verordnungen, all diese Dinge, die er nur allzu gut von zu Hause kennt. Im Urlaub pfeift er darauf! Deshalb ist er doch im Urlaub: um sich von all dem zu erholen!
Seine Beine schmerzen, und vor allem auch seine Füße. Jetzt ist es amtlich: Sandalen sind tatsächlich nicht für das Hochgebirge geeignet. Er bleibt stehen. Das erste Mal schaut er hinter sich. Er hat keine Ahnung, wie groß die Entfernung ist, die er zurückgelegt hat. Er hat auch keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen ist. Er schaut wieder nach Vorne und wischt sich den Schweiß mit seinem Schweißband, das er um sein Handgelenk trägt, aus den Augen. Macht es Sinn, umzukehren? Was, wenn die Sucher an der Stelle schon waren, an der er sie verloren hat, und er erst danach dort ankommt? Ein zweites Mal würden sie sicherlich nicht an der gleichen Stelle suchen kommen. Wobei, wenn er den Weg finden würde, könnte er diesem auch alleine zurück folgen. Er schaut nach oben. Die Sonne ist schon ein ganzes Stück weitergerückt. Bald würde es dunkel werden. Doch wie sollte er, selbst wenn er den Weg tatsächlich finden würde, diesem ohne Taschenlampe folgen können?
Es erscheint ihm unmöglich. Es hat Stellen auf dem Weg gegeben, Passagen, mit Lücken, die so gefährlich waren, dass die Begleiter jeden Einzelnen an der Hand darüber führen mussten. Exakt dieser Nervenkitzel macht diese Tour ja gerade zu etwas Besonderem für die Touristen, und eine alleinige Rückkehr für ihn über diesen Weg im Dunklen und obendrein ohne Taschenlampe völlig unmöglich.
Er dreht dennoch um. Er möchte den Weg dennoch finden. Ausgeschlossen, dass er diesen in der Nacht meistern könnte, morgen früh aber vielleicht schon. Hierfür müsste er immer noch hier oben die Nacht überstehen, sicher. Doch darüber kann er sich auch später noch, wenn er den Weg dann gefunden hat, den Kopf zerbrechen.
Die Sonne schreitet unerbittlich weiter ihren Weg am Firmament.
Er versucht einfach, den Weg genau so zurückzugehen, wie er gekommen war. Seine Benommenheit hat zugenommen. Sein Durst ebenso. Wie auch die Schmerzen in den Beinen und in den Füßen. Einen einzigen Vorteil hat er jetzt: ein Ziel. Den Weg möchte er jetzt finden. Einen richtigen Anhaltspunkt hat er aber nicht. Nur die vage Richtung dorthin. Er hat bei seinem Hinweg anscheinend keinerlei Spuren hinterlassen. Es sieht wie eine Steppe aus, mit kniehohen Büschen, an denen man vorbei geht. Und auf dem Boden dazwischen befindet sich lediglich Geröll.
Er fühlt sich jetzt so schwach, dass er aufpassen muss, dass er nicht stolpert. Dies wäre eine Katastrophe. Seine Sturheit hält ihn am weitergehen. Hier aufzugeben, ist mit seinem Urlaubs-Ego einfach nicht zu vereinbaren. Und dann geschieht es. Er rutscht mit seinen Sandalen auf einem größeren Stein aus; die Füße schnellen nach oben und er landet sehr unsanft mit dem Rücken auf dem Geröll. Sofort spürt er Schmerzen an den unterschiedlichsten Stellen seines Rückens und seiner Glieder, die einen Wettbewerb auszutragen scheinen, wer es schafft, die Aufmerksamkeit am Meisten auf sich zu lenken.
Er liegt nun ruhig da und schaut in den Himmel. Er schließt seine Augen, holt tief Luft. Es bereitet ihm Schmerzen am Rücken. Er öffnet wieder seine Augen und versucht, sich aufzurichten. Etwas hindert ihn daran. Anscheinend hat er sich irgend einen Bruch zugezogen. Er bewegt seine Füße. Zumindest dies klappt noch.
Nun ist es wohl aus. Würde er sich nicht wieder aufrichten können, ist eine Rettung aussichtslos. Noch einmal holt er tief Luft, beißt die Zähne zusammen, weil alleine dies ihm schon Schmerzen bereitet, versucht sich erneut mit aller ihm zur Verfügung stehenden Willenskraft aufzurichten, doch der Schmerz an seinem Rücken wird dadurch so stark, dass er fast ohnmächtig davon wird. Er lässt sich wieder zurücksinken. Sein erhebliches Übergewicht ist ihm dabei auch nicht gerade eine Hilfe.
Die Sonne ist langsam am untergehen. Er spürt jetzt deutlich, dass es kälter wird. Könnte sein, dass man immer noch nach ihm sucht. Sollte es so sein, würde man die Suche sicherlich bald beenden.
Rings um ihn herum stehen die kniehohen Büsche. Ein hübsches Grab für einen derart dummen Touristen, findet er und muss kurz auflachen und hätte wohl noch weitergelacht, wenn ihm dies nicht derartige Schmerzen bereitet hätte.
 
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