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Die Kinder von Brühl 18/Teil 4/Hammer Zirkel Ährenkranz/ Episode 3/Frau Schöne das Fersenkäppchen und Elses Ungeduld

Romane/Serien · Erinnerungen
© rosmarin
Episode 3

Frau Schöne das Fersenkäppchen und Elses Ungeduld

Das von Else angedrohte Nachspiel, also das „Wir reden später darüber“, blieb aus. Auch an den folgenden Tagen tat Else so, als sei nichts geschehen.
Rosi und Jutta hatten sich wieder beruhigt. Und bald hatten sie die Drohung vergessen. Wie es aussah, hatte Else keine Lust mehr, sich dauernd mit den Kindern auseinander zu setzen. Besonders mit Rosi, die ständig das letzte Wort haben musste, wie sie sich ausdrückte.
„Wir haben heute Handarbeit“, sagte Rosi zu Jutta und Karlchen. „Mal sehen, was die Schöne heute wieder für eine Überraschung hat.“
„Wir auch“, erwiderte Jutta. „Ich finde die gut. Sie hat uns schon viel beigebracht. In der kurzen Zeit.“
„Aber sticken konnten wir schon vorher. Das hat uns Mariechen beigebracht.“ Rosi setzte ihren Ranzen auf und lief vorneweg. Über das Kopfsteinpflaster den Brühl hinauf. Jutta und Karlchen hinterher.
„Wir haben morgen Handarbeitsunterricht“, sagte Karlchen. „Finde ich aber blöd. Wozu braucht ein Junge das. Für Feilen und Bohren und Malern gibt es doch auch kein Unterrichtsfach. Das lerne ich alles von Richard. Da könnten die Mädchen die Handarbeiten ja auch von den Frauen lernen.“
„Irgendwie hast du recht“, stimmte Rosi Karlchen zu. „Aber die Jungen sind nun mal mit in der Klasse. Und schaden kann es ja nie.“
„Wer weiß, wozu es gut ist“, lachte Karlchen. „Das sagt doch Mama immer.“
*
Nachdem der Handarbeitsunterricht mit Beginn des letzten Schuljahres ausgefallen war, weil die Handarbeitslehrerin in Rente gegangen ist, hatte die Schule endlich eine neue Lehrerin bekommen. Frau Schöne.
Frau Schöne war schon etwas älter. Sie sah echt gemütlich aus. Besonders, wenn sie lachte. Und sie lachte oft in ihrer freundlichen Art. Wie sich sehr bald heraus stellte, liebte sie besonders das Nähen und das Stricken. Häkeln und Sticken natürlich auch. Aber Stricken war ihr besonderes Steckenpferd. Diesmal hatte sie einen großen Korb mit Schafswolle mitgebracht.
„Selbst gesponnen. Selbst gefärbt“, sagte Frau Schöne stolz. „Ein Glück, dass wir eine kleine Schafzucht haben.“
Die „kleine Schafzucht“, war allerdings ein richtiger Betrieb mit einem richtigen Schäfer und zwei riesigen Schäferhunden, die die Schafherde zusammenhielten, wenn sie auf den saftigen Wiesen hinter dem Bad bis zum Feld und weiter nach Niederreißen zu, weideten.
„Der ideale Zeitraum für die Schur liegt je nach Wetter zwischen Mitte Mai und Ende Juni“, klärte Frau Schöne die Kinder fröhlich auf. „Und weil der Mai in diesem Jahr so schön sonnig ist, konnten wir schon so früh mit der Schur beginnen. Die Wolle spinnen und färben. Das Scheren der Schafe muss aber mindestens vier Monate vor Beginn des Herbstes erfolgen.“
„Warum denn das?“, wollte Rosi wissen.
„Damit die Schafe im Winter wieder genug Wolle auf ihrem Körper haben“, erwiderte Frau Schöne. „Sozusagen als Kälteschutz.“
„Schade, dass wir kein Spinnrad haben“, meldete sich Helga. „Wie sieht so ein Ding eigentlich aus? Bei Dornröschen kommt das doch auch vor. Die hatte sich doch an der Spindel gestochen.“
„Genau“, bestätigte Heinrich. „Danach fielen alle im Schloss in einen hundertjährigen Schlaf. Und eine wilde Rosenhecke wuchs um das Schloss herum. Und wuchs und wuchs und wuchs“, sagte er spöttisch.
Natürlich lachten jetzt alle Kinder.
„Ja, ja“, fiel Frau Schöne in das Gelächter ein, „so eine Spindel kann ganz schön gefährlich sein. Wenn man nicht damit umgehen kann.“
„Und wie sieht ein Spinnrad nun aus“, fragte Helga nochmal.
„Ich zeichne es an die Tafel“, sagte Frau Schöne. „Damit ihr einen kleinen Eindruck bekommt.“
Frau Schöne ging zur Tafel und malte mit weißer Kreide, die sie aus einem Fach unter der Tafel hervor holte, ein einfaches Spinnrad an die Tafel. Dann erzählte sie etwas über das Wolle spinnen.
Verstanden hat Rosi allerdings nichts. Die anderen Kinder wohl auch nicht.
Heinrich meldete sich wieder und sagte: „Das ist wohl eine Wissenschaft für sich.“
„Ja“, stimmte ihm Frau Schöne zu, „man braucht viel Liebe und Geduld für dieses alte, schöne Handwerk. „Aber heute geht es ums Stricken. Und zwar um die Ferse bei den Strümpfen. Ihr wisst, die Winter sind kalt. Da freut sich jeder über warme Strümpfe. Und besonders über selbst gestrickte.“
Das leuchtete allen Schülern ein. Nur Rosi nicht. Sie würde nie und nimmer selbst gestrickte Strümpfe anziehen. Schon gar nicht aus Schafswolle. Da käme sie aus dem Kratzen ja gar nicht mehr heraus. Ihr reichte schon die schreckliche blauweißkarierte Bettwäsche, die sie noch immer jeden Abend vom Inlett befreite. Else hatte es bestimmt schon bemerkt. Doch sie sagte nichts mehr dazu. Wie halt zu den vielen anderen Dingen, die ihr nicht gefielen, auch.
Frau Schöne hatte das Fersenkäppchenstricken schon vorbereitet. Auf jedem Platz lagen ein Knäuel Wolle, ein Nadelspiel Stricknadeln, also fünf Stricknadeln, und eine Schere.
„Die Fersenwand wird zwischen der 1. und 4. Stricknadel gestrickt“, vernahm Rosi wie aus weiter Ferne Frau Schönes Stimme. „Über die Nadel 4 und 1 rechte Maschen stricken. Wenden und die Rückreihe links stricken. Das Ganze wiederholen. Bis 20 Reihen gestrickt sind.“
Langsam ging Frau Schöne durch den Mittelgang der Klasse mit den Sechsersitzreihen rechts und links. Manchmal blieb sie stehen und redete leise mit einem Schüler. Oder half ihm sogar.
Zu Rosi kam Frau Schöne nicht. Rosi saß ja in der ersten Reihe. Platz zwei. Links. Und wenn man so weit vorne sitzt, kann man schnell mal übersehen werden.
„Als Hausaufgabe strickt ihr eine Ferse, die so aussieht wie ein Käppchen für eure Puppe“, sagte Frau Schöne.
„Jungen spielen doch nicht mit Puppen“, weigerte sich Göbel Max. „Und Stricken ist doch sowieso was für Mädchen.“
Das saß. Die Jungen in der Klasse waren genau seiner Meinung. Doch das beeindruckte Frau Schöne nicht.
„Papperlapapp“, sagte sie. „Der Handarbeitsunterricht ist für Jungen und Mädchen. So steht es im Lehrplan. Und deshalb bringt nächsten Mittwoch jeder Schüler ein selbstgestricktes Käppchen mit. Sonst gibt es eine fünf auf dem Zeugnis.“
Das war eine klare Ansage. Der Haken war nur, Rosi hatte nicht zugehört. Und auch nicht zugeschaut, als Frau Schöne eine Ferse strickte. Und den Kindern zeigte, wie sie sie stricken sollten.
„Und natürlich können euch auch eure Eltern dabei helfen“, beendete Frau Schöne den Unterricht.
„Eltern helfen“, dachte Rosi.
Dafür hatte Else bestimmt nicht die Zeit. Und erst recht nicht die Geduld. Das hatte sie ja gesehen, als sie nähen lernen wollte. Als sie den Faden nicht schnell genug in das Nadelöhr bekommen und zu allem Übel auch noch rückwärts getreten hatte, und das mehrmals, war Else der Geduldsfaden gerissen.
„So geht das nicht“, hatte sie wütend gesagt. „Du ruinierst noch meine teure Singernähmaschine, wenn du ständig rückwärts trittst. Also lassen wir das. Ich habe ja schließlich mehr zu tun, als immer das Gleiche zu sagen.“
Also haben sie es gelassen. Rosi hat nie gelernt, mit der Nähmaschine umzugehen. In ihrem späteren Leben hat sie alles, was genäht werden musste, mit der Hand genäht.
*
In Brühl 18 hängte Else gerade die Wäsche auf im Hof. Jutta und Karlchen saßen nebeneinander auf der Bank vor dem Tisch unter dem blühenden Zwetschgenbaum und machten ihre Hausaufgaben. Bertraud Johanna und Gitti und Walti jagten mit den Ziegen und Freia um die Wette. Der Fliederbusch hinter dem Mist vor Schmidts niedriger Gartenmauer verströmte seinen süßen Duft. Auf dem Mist gackerten und scharrten die Hühner in den kärglichen Abfällen nach den ersten Insekten und Larven. Vielleicht auch nach den bunt schillernden Schmeißfliegen. Doch die hatten sich in diesem Jahr noch nicht blicken lassen. Andere Fliegen gab es bisher auch nur vereinzelt.
Zwischen den Hennen stand der Hahn in seiner Pracht und ließ sich von der Maiensonne bescheinen.
Als Else Rosi sah, sagte sie „Schön, dass du kommst. Da kannst du mir gleich bei der Wäsche helfen.“
„Immer ich“, bockte Rosi. „Die anderen waren doch vor mir hier.“
„Die müssen Hausaufgaben machen“, sagte Else unwirsch. „Komm schon. Oder soll ich immer alles alleine machen?“
Das saß. Rosi bekam ein schlechtes Gewissen. Else ging es noch schlimmer als ihr. Sie musste wirklich immer alles alleine machen. Na fast. Das heißt, wenn sie ihr nicht half. Was in letzter Zeit immer öfter vorgekommen ist. Wenn es ihr im Haus zu ungemütlich wurde. Sie ist dann lieber mit den Ziegen und Freia zu den Wiesen oder gar bis zum Feld gerannt.
Schneeweißchen und Rosenrot waren schön gewachsen. Sie waren so allerliebst, wenn sie hinter ihr hersprangen und freundlich meckerten. Und noch schöner war es, wenn Freia hinter, vor, oder neben ihr und Schneeweißchen und Rosenrot her sprang und so tat, als müsste sie sie beschützen.
Auf dem Feld auf der kleinen Bank konnte sie endlich mal in Ruhe Hausaufgaben machen. In Brühl 18 hatte sie ja weder Zeit noch Ruhe. Immer gab es was zu tun.
„Wozu Hausaufgaben machen“, sagte Else, wenn sie sich beschwerte. „Du lernst doch so nebenbei.“
Von wegen, dachte Rosi jetzt. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Else zu fragen, ob sie ihr zeigt, wie man eine Käppchenferse strickt.
„Na gut“, sagte Rosi. „Was soll ich machen?“
„Na, die Wäsche aufhängen. Da kann ich was anderes machen. Ich muss noch schnell zur Stadelmann. Die fertigen Russentücher hinbringen. Bin gleich wieder zurück. Bis dahin pass auf, dass die Kleinen keine Dummheiten machen.“
Else eilte ins Haus.
„Ja, ja“, murrte Rosi weiter. „Immer ich.“
Rosi nahm die Wäsche aus dem Wäschekorb. Den Klammerbeutel ließ sie stehen.
„Bertiie“, rief Rosi Bertraud Johanna. „Komm mal ganz schnell her. Reich mir mal die Klammern.“
„Ich kann jetzt nicht!“, rief Bertraud Johanna zurück. „Ich muss auf Gitti und Walti aufpassen. Damit sie keine Dummheiten machen.“
„Na klar“, sagte Rosi.
Missmutig zog Rosi den Klammerbeutel mit den Klammern zu sich heran. Ziemlich wütend, hing sie die Wäsche auf und klammerte sie fest. Ein Glück nur, dass es die Kleine Wäsche war.
Kaum, dass Rosi mit Aufhängen fertig war, kam Else zurück.
„Du bist ja schon fertig“, lobte Else Rosi. „Die Stadelmann sagt, wir sollen mehr Tücher nähen. Aber ich schaffe das nicht.“
„Und ich schaffe nicht, eine Ferse zu stricken“, nahm Rosi einen Anlauf.
„Was für eine Ferse?“, fragte Else abwesend.
„Na eine Ferse, die aussieht, wie ein Käppchen.“
„Wozu denn das?“, wunderte sich Else. „Eine Ferse, die aussieht, wie ein Käppchen.“
„Mensch Mama“, sagte Rosi, „Die Ferse am Strumpf.“
„Ach so“, lachte Else, „dann sag das doch gleich.“
„Habe ich doch.“
„Und was ist nun damit?“, wollte Else wissen.
„Die sollen wir zu Hause weiter stricken. Hat Frau Schöne gesagt.“
„Dann strick doch.
„Ich kann nicht.“
„Und warum kannst du nicht?“
„Weil ich noch gar nicht angefangen habe.“
"Und warum hast du noch nicht angefangen?"
„Weil ich es nicht begriffen habe.“
„Und warum hast du es nicht begriffen?“, fragte Else begriffsstutzig. „Hast du wieder vor dich hin geträumt? Oder Löcher in die Luft gestarrt?“
„So etwa“, gab Rosi kleinlaut zu. „Zeigst du mir nun, wie man eine Ferse strickt? Sonst bekomme ich eine fünf in Handarbeit.“
„Davon geht die Welt auch nicht unter“, sagte Else leichthin. „Aber natürlich zeige ich es dir.“
„Oh schön“, freute sich Rosi.
„Komm mit. Wir gehen in die Stube“, sagte Else. „Du weißt ja, wo mein Wollkorb steht.“
Und ob Rosi das wusste. Der Wollkorb stand immer vor dem Sofa neben dem Zeitungsständer mit Elses Groschenromanen. Von denen Richard sagte, dass sie wirr im Kopf machen. Else aber entspannten.
Else ging ins Haus. Rosi trabte langsam hinterher. „Ob das mal gut geht“, dachte sie ahnungsvoll.
Natürlich ging es nicht gut. Else zeigte Rosi drei oder vier Mal, wie man eine Ferse strickt. Doch Rosi begriff es nicht.
„Du bist doch zu dumm“, wütete Else. „Aber, damit du keine fünf bekommst, stricke ich dir das Puppenkäppchen. Das ist doch das einfachste der Welt.“

Rosi bekam eine Eins für „ihr“ Puppenkäppchen. Allerdings hat sie nie gelernt, eine Ferse zu stricken.

***

Fortsetzung folgt
 
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