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Werden, was man ist

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Es gibt durchaus unterschiedliche Lebensmodelle. Es gibt Lebensmodelle, die zum Beispiel auf Gesundheit, Selbstverwirklichung oder Selbstoptimierung ausgelegt sind. Die versuchen, das Beste aus dem vorhandenen genetischen Material herauszuholen; die sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinandersetzen; die wissen wollen, wie man sich richtig ernährt; was man politisch korrekt sagen und denken soll; was man in einem bestimmten Lebensabschnitt schon alles erreicht haben muss, um als erfolgreich zu gelten. Solche Leute gibt es. Und es gibt Leute wie Egon. Egon ist das alles egal. Denn Egon hat sich ja auch nicht dazu entschieden, geboren zu werden. Er hat sich nicht dazu entschieden, in einem System leben zu wollen, wie er lebt. Er hat das Leben an sich ganz einfach nicht gewollt, weshalb er konsequenter Weise zum Leben ganz laut „nein“ sagt. Und versucht dies auch zu zeigen.
Überall wird Freiheit gepredigt. Freiheit der Wahl des Geschlechts, der Marke, die man konsumieren möchte, Freiheit im Ausleben der Sexualität, Freiheit, Freiheit und noch einmal Freiheit. Es gibt so viel Freiheit, zu der jeder verdammt zu sein scheint, dass eine Entscheidung gar keine Konsequenz mehr zu haben scheint. Zumindest wird dies suggeriert. Doch selbstverständlich fühlt es sich nicht immer so an.
Kann man bei der Schulpflicht von Freiheit sprechen? Kann man beim Zwang, Geld haben zu müssen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, von Freiheit sprechen? Kann man von den gesellschaftlichen Normen, denen man zwangsläufig unterworfen ist, von Freiheit sprechen? Kann man von den Gesetzen, die für jedermann gelten, von Freiheit sprechen? Was für eine Art von Freiheit soll dies sein?
Sicherlich, Egon hat die Freiheit, sich für eine kriminelle Laufbahn zu entscheiden. Doch dies hat sehr wahrscheinlich zur Folge, dass er durch die Justiz letztendlich seiner Freiheit beraubt wird. Wie kann man angesichts dessen von Freiheit der Wahl sprechen? Ebenso bei Normverletzungen. Diese haben zwangsläufig gesellschaftliche Sanktionen zur Folge, die zu Einschränkungen der Freiheit führen können. Zum Beispiel in dem man von seinen Mitmenschen gemieden wird. Wo kann man hierbei von Freiheit sprechen?
Es scheint ein absolut falsches Versprechen zu sein. Bei diesem Versprechen hat sich doch jemand versprochen!
Egon schaut sich diese ganzen Ungereimtheiten an. Er ist sich aber bewusst, dass er nichts daran ändern kann. Er hat nur die Macht, sein eigenes Verhalten; sein eigenes Aussehen; seine eigenen Einstellungen so zu gestalten, dass es sich zumindest für ihn als richtig anfühlt.
Egon eckt damit an. Überall. Die Leute, die so viel von Freiheit reden, können mit seiner Art von Freiheit gar nichts anfangen. Er hat dazu auch einfach nichts zu sagen. Was würde es nützen, seine Meinung dazu zu äußern? Egon hat noch nie erlebt, dass irgendjemand bei einer Diskussion fremde Ansichten angenommen hätte. Ansichten sind eng verbunden mit Identitäten. Und die Definition einer Identität ist nun einmal, dass sie bei verändernden Umständen Bestand behält.
Abschreckend fühlt sich die Welt für ihn an. Und die Welt schreckt sich wohl auch von ihm ab. Gut so. So hält man sich auf Abstand. Doch so gibt es auch keinen Weg aus der Misere, sondern die Situation verschärft sich nur umso mehr. Die Kluft vergrößert sich. Die Entfremdung schreitet unaufhaltsam voran.
Egon stammt aus einem angepassten Elternhaus. Aus einem Beamtenelternhaus. Er hat einen Bruder, der den Vorgaben der Eltern folgt; der angepasst ist; der einfach funktioniert. Egon ist das schwarze Schaf der Familie; der Schandfleck, der ertragen werden muss, weil er ja „irgendwie auch dazu gehört“, wie sein Vater mal so schön gesagt hat.
Leben will leben. Egon lebt. Egon will leben. Nur eben nicht so.
Was tun, wenn man in solch einem Dilemma gefangen zu sein scheint?
Würde er nicht leben wollen, verhielte sich die Sache viel einfacher. Dann würde er sein Leben ganz einfach beenden, ohne hierbei sein Gewissen belasten zu müssen. Doch so einfach ist es leider nicht. Denn es gibt durchaus ein paar Dinge, die Egon am Leben durchaus zu schätzen weiß. Postpunk zum Beispiel. Ian Curtis im Besonderen, mit seiner Band Joy Division. Die Musik der Doors und Jim Morrison. Tim Burton und die meisten seiner Filme. Salvadore Dali und Pablo Picasso. Caspar David Friedrich und Hölderlin. Friedrich Nietzsche und vor allem Schopenhauer, der es ihm ganz besonders angetan hat. Dicht gefolgt von Kirkegaard. Hunter S. Thompson und Jack Kerouac. Ausnahmslos alle Filme von Terry Gilliam und alles von Monty Python. Die Underground – Kultur in jeder noch so kleinen Stadt in jedem Land auf dieser Welt. Alles jenes also, das das Bestehende in irgendeiner Weise in Frage stellt.
Egon beschäftigt sich intensiv mit allem, was nur im Entferntesten nach Gegenkultur riecht; nach etwas, das der Gesellschaft seinen ungeschminkten Spiegel vorhält und ganz laut ruft: NEIN! So wie er ja auch.
Dies hat allerdings zur Folge, dass alles, was von der Gesellschaft angenommen wird, von Egon nicht angenommen werden kann. Dass alles, was die Gesellschaft gut findet, Egon nicht gut findet; von ihm letztendlich abgelehnt wird. Vor allem der Kommerz in jedweder seiner Form. Denkt Egon nur an dieses Wörtchen, stellen sich seine Nackenhaare auf, weil es zutiefst entmenschlichend ist; weil es das Humane aus allem herausnimmt, und den Fokus auf das rein Materielle richtet. Eine Antithese zum Humanismus also. Die Menschen werden dabei dazu verleitet, etwas gut zu finden, nicht deshalb, weil es gut ist an sich, sondern weil es Profit bringt. Menschen werden in ihrem Denken und in ihrem Handeln in eine ganz bestimmte Richtung gelenkt, und das mit völlig falschen Versprechungen. Nämlich nur, damit andere Menschen ein schönes Leben führen können. Eine Minderheit, die die Masse gerade aufgrund dessen, wie leicht diese zu manipulieren ist, verachtet. Es bedingt einen ekelhaften Zynismus oder hat diesen zwangsläufig zur Folge. Es bringt unmenschliche Menschen hervor; Oberflächlichkeiten; reines Existieren. Die Essenz geht verloren; das Wahre; das Echte. Popkultur und Massenphänomene. Geschmack wird gelenkt und gebildet. Entfremdung.
Das Echte ist davon weit entfernt. Der Zugang zum Inneren wird versperrt; wird abgeriegelt, weil eigene Gedanken und Wünsche ein Hindernis bei der Verwirklichung des Ziels des Profits für eine Minderheit darstellen.
Jede Gleichstellung von Menschen ist nach Meinung von Egon ein Verbrechen an den Individuen, gar an der gesamten Menschheit. Denn die Menschheit ist auf Diversität geradezu angewiesen, weil nur dadurch Neuartigkeit, also ein neuer Zugang zu Realität, hergestellt werden kann, letztendlich auch Innovation. Doch eine staatlich auferlegte Diversität, wie sie gepredigt wird, kann hierbei nicht gemeint sein, weil schon viel zu viel vorgegeben wird. Der wahre Kern eines Menschen, und davon ist Egon zutiefst überzeugt, ist viel mehr und viel komplexer als das und kann demnach sehr viel unterschiedlicher sein, als das was seit neustem als divers anerkannt wird. Denn dabei handelt es sich nur um weitere vorgegebene Muster von Möglichkeiten; um weitere Schablonen, die der Staat seinen Schäfchen als Seins-Möglichkeit zuspricht.
Egon ist meistens in schwarz gekleidet. Sein Schwerpunkt liegt auf seinem Innern, nicht auf dem Äußeren. Er möchte zumindest für sich ein Denken und ein Handeln kreieren, von dem er das Gefühl haben kann, dass er es wirklich selbst ist; dass es keine von außen auferlegte Schablone darstellt. Und dabei ist es ihm völlig egal, ob es von der Gesellschaft angenommen wird, oder eben nicht.
Werden, was man ist. Das große Kredo hat absolut nichts von seiner Tragweite verloren. Es ist heute vielleicht sogar noch wichtiger geworden, denn je.
Amen.
 
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Kommentare  

Guter reflektierter Text. Da bewahrheitet sich
doch wieder, dass die Freiheit die Einsicht in die
Notwendigkeit ist. Nur für wen?
Hegel war der erste, der das Verhältnis von
Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für
ihn war die Freiheit die Einsicht in die
Notwendigkeit.
‚Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern
dieselbe nicht begriffen wird'.

Gruß von


rosmarin (17.08.2024)

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