Kalt und verregnet. Eine Großstadt im Oktober eben. Bunte Blätter liegen überall herum. Die Menschen haben sich warm angezogen. Sie sitzen in dicken Decken eingewickelt immer noch draußen in den Cafe`s. Sie wärmen sich ihre Hände an ihren Tassen mit heißen Getränken, die dampfend vor ihnen auf den Tischen stehen. Es geht auf den November zu. Auf den Monat also, in dem die Erde zum Stillstand zu kommen scheint; in dem es keine Blätter mehr an den Bäumen gibt; in dem die Bäume wie Skelette aussehen. Wie ein totes Gerüst eines eigentlich lebenden Organismus. Geradezu wie ein Exoskelett. Wie eine Substanz, die gar nicht zu dem eigentlichen Organismus dazuzugehören scheint. Doch noch hängen ein paar Blätter an den Bäumen. Bald wird dies aber anders sein.
Frame ist in dieser Umgebung unterwegs. Frame ist nicht sein richtiger Name. So heißt er in der Cyberwelt; in der virtuellen Welt; in einer Parallelwelt zu der Wirklichkeit, die ihn noch nie so recht zu interessieren wusste. Deshalb lebt er geistig ganz woanders. Deshalb lebt er in einem künstlich erschaffenen Raum, der so gestaltbar ist, wie er es sich wünscht. Es ist ein Raum, in dem es keine Grenzen zu geben scheint. Das fasziniert ihn. Eine willkommene Alternative zur langweiligen Beschränktheit der Wirklichkeit.
Frame steigt die Treppe zur U-Bahn herunter. Er ist unterwegs zu einem anderen Viertel. Keine gute Gegend. Eine Gegend, in der die Regierung alle Mühe hat, das System am Laufen zu halten. Denn es wird von Leuten bevölkert, die gegen das System sind; die anders sind als die anderen und die keine Anstalten machen, sich von äußeren Bedingungen in irgendeiner Weise verbiegen zu lassen. Dies kommt dem Kredo von Frame sehr nahe. Er fühlt sich mit diesen Leuten tief verbunden.
An seiner Haltestelle steigt er aus und kommt wieder zu Tage. Die Straßen sind verdreckt hier. Die Häuser alles andere als saniert. Es lungern alles mögliche von Leuten auf der Straße herum; obdachlose, die die Menschen nach ein paar Groschen oder was zu Essen anbetteln. In verschlissener Kleidung; mit verklebten Haaren; mit schmutzigen Gesichtern und einem Körpergeruch, der es fast unmöglich macht, näher an diese dunklen Gestalten heranzutreten. Frame lässt diese unwirklich anmutenden Wesen links liegen. Er geht zielstrebig in eine bestimmte Richtung. Er weiß sehr genau, wohin er möchte.
Er geht in einen Hinterhof hinein. Im vierten Hinterhaus gibt es einen Zugang zu einem Keller. Gerade als es wieder anfängt zu regnen steigt er die Treppe herunter und kommt an einer soliden Sicherheitstür an. Er klopft mit einem bestimmten Zeichen an, das in regelmäßigen Abständen gewechselt wird. Es öffnet sich eine kleine vergitterte Klappe. Eine leise, heiser wirkende Stimme fragt, wer da sei. Frame nennt seinen virtuellen Namen. Die Tür wird quietschend gerade soweit geöffnet, dass er hindurch schlüpfen kann. Hinter ihm wird sie sofort wieder geschlossen.
„Hi, Frame. Hast dich ja schon lange nicht mehr blicken lassen. Kein so rechtes Interesse mehr, die Welt zu verändern, was?“ Nick34 wurde für heute als Wächter an der Tür eingeteilt.
Frame schiebt sich eine vom einsetzenden Regen nass gewordene schwarze Strähne aus dem Gesicht. Er schaut Nick34 mit seinen blauen Augen intensiv an. „An meinen Ansichten hat sich nichts geändert, Nick.“
Nick34 klopft Frame auf die Schulter. „Hätte mich bei so `ner Type wie dir auch echt gewundert. Komm mit. Ich führe dich in unsere heiligen Hallen.“ Und er geht voran und Frame folgt ihm. Seine schwarze Tasche, die er bei sich trägt, wurde von Nick34 gar nicht, wie eigentlich üblich, inspiziert. Anscheinend genießt er in dieser durch und durch paranoiden Community das sehr seltene Privileg des Vertrauens.
Sie gehen durch Gänge, die von mattem Licht nur leicht und eigentlich unzureichend beleuchtet werden. Dabei passieren sie zwei weitere bewachte Durchgänge, die nur mit Hilfe einer Nick34 bekannten und von ihm ausgesprochenen Parole passiert werden können. Schließlich folgt noch eine weitere Tür. Als auch diese geöffnet wird, sind sie an ihrem Ziel. Dahinter befindet sich ein relativ großer Raum. Arbeitsplätze wurden darin so angeordnet, dass sich die Arbeiter, die hier rege an ihren Bildschirmen beschäftigt sind, gegenseitig nach Möglichkeit nicht stören.
Nick34 ruft nach JP-2. Ein kleiner, rundlicher Mann mit graumeliertem Haar, Geheimratsecken und einer Harry-Potter-Brille kommt auf sie zu gerannt. Er hat einen Strickpullover an, eine Cordhose und Sneakers. „Na, wen haben wir denn da? Frame, mein Junge! Du hast dich hier ja schon lange nicht mehr blicken lassen.“ Als er bei Frame angekommen ist, schüttelt er ihm heftig die Hand. „Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt!“
Nick34 verabschiedet sich von den beiden und macht sich auf den Weg zurück zu seinem Posten. Währenddessen zeigt JP-2 wild gestikulierend Frame, an was sie gerade dran sind. Er führt ihn dabei von einem Arbeitsplatz zum anderen. „Weißt du, wir sind gerade dabei, alle Teile unseres Projektes zusammenzuführen! Man, ich hätte nie gedacht, dass wir einmal soweit kommen würden! Wir werden die Welt verändern, mein Junge, so, wie wir immer wollten! Die Welt wird uns zu Füßen liegen! Und du hast uns dabei entscheidend mitgeholfen, weshalb es auch nur gut und recht ist, dass du dabei bist, wenn es zu einem Abschluss kommt!“ Sie gehen zu einem anderen Arbeitsplatz. „Die KI, die wir kreiert haben, ist so komplex, dass man sie im Gesamten gar nicht mehr erfassen kann. Weißt du noch, es war deine Idee: einzelne Cluster zu entwerfen, die jeweils eine eigene Evolution durchlaufen, mit dem Ziel, sich selbst zu optimieren. Eine Evolution, die schneller abläuft, als irgendeine Evolution auf der Welt. Noch nicht einmal ein Virus kommt an diese Geschwindigkeit heran. Und unsere einzige Aufgabe ist es dabei gewesen, die Ressourcen bereit zu stellen, damit diese Evolution ungehindert weiter ablaufen kann. Genial! Wirklich genial! Die Programme sind explodiert. Sie haben an einem bestimmten Punkt angefangen, eigene Programme und Subprogramme zu schreiben. Sie haben angefangen, eigene Computersprachen zu entwickeln, weil die, die es schon gegeben hat, ihnen wohl nicht effizient genug waren; zu viele Ressourcen verbraucht haben. In kürzester Zeit haben wir so KI`s erhalten, die die gängigen, die es schon gegeben hat, in ihren Fähigkeiten weit übertroffen haben. Kein Geheimdienst auf dieser Welt wird an unsere Macht herankommen. Kein System auf dieser Welt wird so aufgebaut sein, dass wir keinen Zugang dazu haben können. Wenn es stimmt, und davon ist auszugehen, heute vielleicht sogar mehr denn je, dass Wissen Macht bedeutet, dann werden wir gottähnliche Fähigkeiten besitzen. Und dieser Traum wird in Kürze in Erfüllung gehen.“
Frame fühlt sich etwas schwindelig. Mit leiser Stimme fragt er: „Wann, wann wird es soweit sein?“
„Sobald sich Hale3 bei mir meldet, dass das letzte selbstoptimierende Cluster seine Arbeit abgeschlossen hat.“
„Was geschieht dann?“ Frame sagt dies mit einer schwachen Stimme. Er fühlt sich einer Ohnmacht nahe.
„Die einzelnen Cluster optimieren sich selbst. Sie sind aber noch voneinander isoliert. Eine Vorsichtsmaßnahme. Damit die Ressourcen immer noch unter unserer Kontrolle stehen. Wir haben erkannt, dass die Cluster im isolierten Zustand irgendwann an einen Punkt kommen, an dem keine Optimierung mehr stattfinden kann. Es sind insgesamt 34 Cluster. 33 sind an diesem Punkt schon angekommen. Und der letzte steht nun kurz davor. Wenn auch der letzte Cluster an diesen Punkt gekommen ist, werden wir die Cluster zusammenführen.“
„Was geschieht dann?“
JP-2 schiebt seine Harry-Potter-Brille auf seine Nase zurück, die bei seinen überschwänglichen Ausführungen etwas nach unten gerutscht war. „Nun, die einzelnen Cluster, die sich selbst optimiert haben, werden auf einen Schlag Ressourcen zur Verfügung haben, die sich ein Mensch vielleicht gar nicht mehr vorstellen kann. Es übersteigt unsere Fähigkeiten und unser Wissen. Wir kennen das Ziel, weil wir es vorgegeben haben. Wir kennen aber nicht das Ausmaß und wissen nicht, wie es zustande gekommen ist. Wir gehen in diesem Moment von einer Art Urknall aus. Explosionsartig wird etwas Neues entstehen. Etwas mit Fähigkeiten veranlagt, die wir zu verstehen vielleicht Jahre benötigen werden – oder die uns auf ewig verschlossen bleiben werden. Es kann sein, dass wir uns nur an den Rändern bewegen können werden; dass wir die Welle nutzen, um auf ihr zu reiten, doch nicht verstehen können, wie die Welle zustande gekommen ist. Die Wirkung wird spürbar sein, nicht aber die Ursache. Es wird etwas wahrhaft Göttliches sein. Und du,“ und JP-2 legt väterlich seine Hand auf die Schulter des jungen Hackers, „hattest einen entscheidenden Anteil an dieser Sache. Vielleicht wirst du einmal als eine Art Religionsstifter in die Geschichte eingehen.“ Frame schaut mit seinen unergründlich blauen Augen direkt in die Augen seines Mentors. Er hat viel von ihm gelernt. Er war es, der sein Talent erkannt hatte. Er war es, der ihn gezielt gefördert hat; der ihn hat unglaubliches leisten lassen. Er verdankt ihm so viel! Er verdankt ihm sein Leben. Er war kurz davor, sich dieses zu nehmen, weil er in der realen Welt einfach nicht zurechtgekommen ist. Davor hatte es sich für ihn so angefühlt, als sei er für kein Leben geschaffen; als sei er einfach fehl am Platz. Ein Fehler, der korrigiert werden muss. Erst hier in dieser Umgebung hatte er ein Umfeld kennengelernt, in das er hineingepasst hat; in dem er gar das erste Mal in seinem Leben Wertschätzung erfahren durfte. Dergleichen hatte er noch nie zuvor erlebt. Weder in seiner Familie noch sonst wo. Doch was ist das Ergebnis dieses Wunders? Was ist draus geworden? Welche Gefahr steckt in diesem Projekt? Ist sein Hass auf die Welt so groß, dass er tatenlos dabei zusehen kann, wie diese, zumindest in der Form, wie sie jetzt existiert, vielleicht bald nicht mehr sein wird? Es könnte sein, dass so der Spieß umgedreht wird. Vielleicht wird er von einem Tag auf den anderen besser auch in die reale Welt passen, vielleicht sogar als irgendwer sonst. Hoffentlich ist sich auch JP-2 der Gefahren dieses Systems, das er mit ihm zusammen und mit seiner Crew entwickelt hat, vollends bewusst. Hoffentlich weiß er, was er tut, wenn er dem System gestattet, Zugriff auf das offene System, auf das Internet, zu erhalten. Schließlich hat er es mit Programmen zu tun, die zum großen Teil von keinem Menschen erdacht und geschrieben wurden. Sie wurden nach dem einzigen Prinzip der Selbstoptimierung erschaffen. Es ging die ganze Zeit nur um die Optimierung, und um sonst nichts. Was könnte solch ein Programm mit den ausufernden Ressourcen eines World-Wide-Web`s anstellen?
Frame wird es schwindelig, wenn er an all die Möglichkeiten denkt. Sehr wahrscheinlich wird das System, das sie erschaffen haben, im Zaum gehalten werden müssen, damit die Systeme, die es schon gibt, und die erschaffen wurden, um den Menschen zu dienen, weiterhin fehlerfrei funktionieren können. Zunächst muss die Welt das Problem aber überhaupt erst erfassen. Dies wird Zeit in Anspruch nehmen. Und anschließend müssen sie ein ähnlich komplexes System auf die Beine stellen, das es vermag, diesem System Parole zu bieten. Jahre werden bis dahin vergehen. Jahre, in denen das Chaos regiert. Dadurch wird es noch mehr Kriege, noch mer Tote und noch mehr Verderben auf der Welt geben, als es jetzt schon der Fall ist.
Plötzlich leuchtet ein Funke in den Augen von Frame auf. Denn im Grunde ist all dies genau das, wo er die ganze Zeit hinwollte. Er wollte die ganze Zeit die reale Welt in der Weise verändern, dass er selbst auch hineinpasst. Er war wohl nur überrascht gewesen, dass dieses Projekt tatsächlich gelingen könnte und vor allem auch mit welchem Tempo.
„Cluster 34 vollendet!“ hört er plötzlich jemanden im Raum rufen. Es unterbricht seine Gedankengänge. JP-2 rennt aufgeregt an den Arbeitsplatz, von dem der Ruf gekommen war. Auch Frame und alle anderen im Raum drängen sich nun um diesen Mitarbeiter, um so einen Blick auf seinen Bildschirm zu erhaschen. „Wo muss ich draufdrücken, um die Cluster miteinander zu verbinden?“ JP-2 hat jetzt eine aufgeregte, piepsige Stimme.
„Drücken Sie einfach auf >Enter<. Ich habe alles so vorbereitet, wie wir es besprochen haben.“
JP-2 lässt seinen Finger über der >Enter< - Taste schweben. Dann sagt er feierlich: „Liebe Freunde und Genossen. Ihr alle seid bei einem historischen Augenblick dabei. Wir alle haben so lange darauf hingearbeitet und nun ist es endlich soweit. Wir haben auch eine kleine Überraschung für euch. Denn mit der Kontaktfreigabe der Cluster untereinander werden sie auch gleichzeitig Zugang zu dem World-Wide-Web erhalten. Wenn ich auf diese Taste hier drücke, wird unsere lange Arbeit also endlich vollendet sein.“
Frame zittert innerlich. Dies ist also der letzte Augenblick, in dem er die Katastrophe noch verhindern könnte. Denn in seiner Tasche, die dankbarer Weise von Nick34 nicht kontrolliert wurde, befindet sich eine Vorrichtung, die er erfunden, entworfen und gebaut hat. Er hatte die ganze Zeit eine Hand mit einer kleinen Fernbedienung in seiner Hosentasche gehabt. Er muss nur einen Knopf drücken, und die Maschine in seinem Rucksack wird einen solch starken Impuls von sich geben, dass alle elektrischen Geräte, die sich hundert Meter drumherum befinden, schlagartig ihren Geist aufgeben.
Frame`s Herz hämmert wie verrückt in seiner Brust. Er schwitzt und geht alles im Geiste fieberhaft noch einmal durch. Er lässt sein gesamtes Leben Revue passieren. Er spürt wieder den Schmerz, nicht in diese Welt hineinzupassen. Er erinnert sich wieder an die Hänseleien auf dem Schulhof, weil er einfach anders gewesen ist, als die anderen. Er erinnert sich an seinen Klassenlehrer, der offen die Ansicht vertreten hatte, dass aus solch einer Familie, aus der er stammt, nichts Gutes kommen könne. Was für eine Welt würde er also mit seiner Maschine überhaupt am Leben erhalten?
Und sein Herz wird plötzlich leicht und sein Schwindel nimmt ab. Sein Puls beginnt sich zu normalisieren.
JP-2 drückt auf >Enter<.
Jetzt leben sie in einer anderen Welt. Es ist eine Welt der Hacker und der Anarchisten. Der Punks und der Entrechteten. Der Unterdrückten und der Habenichtse. Es ist eine Welt der Misfits.