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Die Belfast Mission - Kapitel 33

Romane/Serien · Fantastisches
Kapitel 33 – Ein historischer Tag


Am selben Abend …

Während Eloise vor der Spiegelkommode ihr Haar bürstete, schaute Ike besorgt aus dem Fenster. Ein orkanartiger Windsturm fegte über das Land und es erinnerte ihn an seine Heimat. Zwar waren solche Böen nicht ansatzweise mit den Orkanen zu vergleichen, welche in ferner Zukunft über Europa toben werden, aber ständig polterte etwas gegen das Mauerwerk und der Wind heulte sporadisch durch alle Ritzen.
Eloise hatte wie immer sein Schlafhemd angezogen und beobachtete ihn durch den Spiegel. Sie war nervös und wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Dafür wusste Ikes es umso besser.
„Soso, du schnüffelst mir also hinterher. Ich bin maßlos enttäuscht von dir!“ Er wandte sich vom Fenster ab und blickte durch den Spiegel genau in ihre Augen. „Das ist ungeheuerlich. Das ist …“
Ike wanderte in der Schlafstube aufgebracht hin und her, wobei er leicht mit dem Kopf schüttelte. Ihm fehlten einfach die Worte, seinem Unmut freien Lauf zu lassen, ohne dabei ausfällig zu werden.
Eloise legte entrüstet die Haarbürste nieder, drehte sich ihm zu und beteuerte, die Geheimfächer im Badezimmer nur zufällig entdeckt zu haben. Aber Ike steigerte sich in seine Wahnvorstellung regelrecht hinein, dass sie ihn die ganze Zeit ausspioniert haben musste. Er glaubte felsenfest, dass sie sofort das Badezimmer komplett auf den Kopf gestellt hatte, nachdem sie ihn einmal bei einem Selbstgespräch – ein Gespräch mit Vincenzo – belauscht hatte, während er ahnungslos auf der Schiffswerft seiner Pflicht nachgegangen war. Er warf ihr unbändige Neugier vor, woraufhin sie ihn empört einen Geheimniskrämer schimpfte, der niemanden vertrauen würde. Nur Lügner und Betrüger hätten es nötig, Geheimnisse zu verbergen, konterte sie aufgebracht. Ike lachte sie zynisch aus und beschuldigte sie ebenfalls Heimlichkeiten vor ihm zu haben, indem sie über ihre angeblichen Entdeckungen einfach geschwiegen hatte. Demnach sei sie kein Deut besser.

Die Lautstärke ihres Disputs stieg mit jeder Anschuldigung, die sie sich gegenseitig vorhielten. Eloise quälte die ganze Zeit sowieso schon die entscheidende Frage, seitdem sie diese Geheimfächer entdeckt hatte, wer diese wunderschöne Frau auf diesen Fotografien ist, aber hatte sich nie gewagt, ihn darauf anzusprechen. Doch jetzt war ihr Gemüt genügend aufgewühlt und sie schäumte vor Wut, sodass sie ihren Mut am Schopfe packte und ihn hemmungslos damit konfrontierte.
„Wer ist eigentlich diese Frau auf den bunten Bildern?“, fragte sie gespielt lieblich, wobei sie ihn hämisch angrinste. Sogleich war ihr aber bewusst geworden, dass sie soeben möglicherweise eine rote Linie überschritten hatte und dieser Streit nun völlig eskalieren würde, denn Ike starrte sie nur wortlos an. Darauf war er nicht gefasst.
„Und-und überhaupt … W-wie können solche bunte Bilder eigentlich entstehen und diese eigenartigen Klamotten, die du da trägst. Sowie auch diese Frau. Ike, ich verstehe das alles nicht. Bitte erkläre mir das doch“, sprach sie nun beruhigend auf ihn ein und versuchte, das Streitgespräch wieder zu schlichten.
Doch jetzt geriet Ike erst recht in Rage. Das war zu viel für ihn.
„Das sind meine privaten Eigentümer! Das gehört mir, nur mir alleine und geht dich überhaupt nichts an!“, brüllte er plötzlich.

Eloise erschrak und war erschüttert. So eine aggressive Reaktion hatte sie von ihm nicht erwartet. Nie zuvor hatte er sie dermaßen unbeherrscht angefahren. Das empfand sie nicht einmal so tragisch, jedoch aber, dass er ihr soeben verständlich gemacht hatte, dass zwischen ihnen scheinbar eine Grenze gesteckt war. Eine Grenze, die sie niemals für möglich hielt.
Das gehört mir und das gehört dir.
Es gibt also kein gemeinsam, dabei war dies für sie doch selbstverständlich. Sie hatte ihr behütetes Elternhaus für ihn verlassen und auf ihre Besitztümer verzichtet, weil sie ihm von Anfang an voll vertraut hatte. Ihren Kummer sowie das Glück wollte sie mit ihm immerzu teilen und sie sehnte sich danach, endlich seine Ehefrau zu werden. Was hielt ihn eigentlich davon ab, fragte sie sich beinahe täglich. Zumal er sie sogar vor Inspector Gardner als seine Verlobte vorgestellt hatte, aber offiziell hatte er nie um ihre Hand gebeten.
Nun schien eine Verlobung sowieso nur noch ein unerreichbarer Wunschtraum zu sein. Möglicherweise würde er sie morgen Früh sogar auffordern, dass sie ihre Koffer packen soll, befürchtete sie. Dieser Gedanke war ihr ein Graus. Nicht nur weil sie dann gar nicht wusste, wohin sie gehen sollte, sondern vielmehr, dass sie ihre große Liebe für immer verlieren würde.
Eloise lehnte sich auf die Spiegelkommode, vergrub das Gesicht in ihre Arme und weinte, während Ike sich kommentarlos ins Bett legte und das Nachttischlämpchen einfach ausknipste.
In dieser Nacht zog nicht nur ein heftiger Sturm auf, sondern es hagelte zudem Vorwürfe und Anschuldigungen und es regnete leidvolle Tränen. Letztendlich lagen beide mit ihren Rücken zugewandt im Bett, ohne einen üblichen Gutenachtkuss, und schliefen irgendwann ein.

Als der Wecker pünktlich um drei Uhr rasselte bemerkte Eloise, dass Ike schon aufgestanden war. Sie eilte nur mit Ikes Schlafhemd bekleidet hinunter in die Küche, aber Ike hatte seinen Kaffee bereits selbst aufgebrüht. „Das mach ich doch immer“, murmelte sie verärgert vor sich hin. Also blieb ihr nur noch seine Brotbüchse zubereiten übrig.
Laika hockte wie jeden Morgen daneben und beobachtete ihr Frauchen beim Brotschmieren. Eloise hielt das Wurstbrot in ihren Händen und starrte es an. Nach dem gestrigen Theater war sie zwar nicht besonders hungrig, aber sie biss doch immer einmal ab, damit er während seiner Pause an sie denkt und nur weil der Haussegen momentan etwas schief hing, sollte sich das lange noch nicht ändern. Einen Augenblick dachte sie aber tatsächlich daran, diesmal seine Brote unversehrt in die Brotbüchse zu verstauen, damit er über seine ungeheuerlichen Unterstellungen nachdenkt.
Ike kam grade aus dem Badezimmer heraus, schaute sie einen Augenblick kühl an und ging dann wortlos die Treppe hinauf.
„Dickkopf“, flüsterte sie und biss einen Happen ab. Kauend beobachtete sie ihn, wie er elanvoll die Treppenstufen hocheilte.
„Bin augenblicklich verschwunden, dann kannst du seelenruhig das Wohnzimmer durchstöbern. Und vergiss ja nicht den Keller, hinter dem Eisschrank befindet sich vielleicht eine Geheimtür“, meldete er sich ironisch zu Worte, was sogar der Wahrheit entsprach.
Eloise kaute gemächlicher und blickte dabei Laika seitlich an. Ein müdes Lächeln huschte über ihren Mund. Die Schäferhündin neigte ihren Kopf seitlich, züngelte gierig und legte penetrant eine Pfote auf ihren Schoß. Laika witterte eine Chance, dass sie ihr Frauchen diesmal rumkriegt.
Kurz entschlossen klappte Eloise die Butterbrote auf, verfütterte die Wurst an den Hund und verpackte Ikes unbelegte Brote in die Frühstücksdose. „So, das hast du nun davon. Guten Appetit“, murmelte sie missmutig vor sich hin.

Es war Ende Oktober. Schon seit ein paar Wochen war das morgendliche Gezwitscher der Vögel verstummt. Die nächtliche Ruhe beherrschte früh morgens um 4 Uhr wieder die Welt. Erneut begann die dunkle Jahreszeit und der Morgentau haftete an den Grashalmen und Baumästen.
Ike stellte seinen Mantelkragen hoch, hauchte in die Hände und rieb sie. Von irgendwoher rief wieder diese Eule aus dem Wald. Vom gestrigen Sturm war nichts mehr zu spüren, es war windstill. Hoch oben am rabenschwarzen Himmel funkelten die Sterne. Nur vereinzelnde Wolken verdeckten zeitweise den hell scheinenden Viertelmond, der die Wolken wie anthrazitfarbene Watteberge erscheinen ließ.
Ike schmunzelte und es faszinierte ihn, weil er diese Eule zu jeder Jahreszeit, jeden Morgen, rufen hörte. Währendem er sich eine Zigarette drehte kam er auf den Gedanken, die Uhrzeit zu vergleichen. Wäre es etwa möglich, dass die Eule sich immer zur gleichen Uhrzeit bemerkbar machte, ihm gar einen guten Morgen wünschte? Aber als er nach seiner Taschenuhr tastete, fiel es ihm wieder ein, dass diese nun im Besitz von Benjamin Glover, alias Bugsy war.
„Dich schnapp ich mir noch, Freundchen. Verlass dich drauf“, sprach er vor sich hin während er seine Zigarette mit Streichhölzern anzündete.

Plötzlich zerfetzte ein lauter Knall die morgendliche Stille und hallte sekundenlang in der friedlichen Waldlandschaft nach. Sogleich hörte er gedämpftes Hundegebell aus dem entfernten Nachbardorf. Ike zog die Winchester aus dem Halter und lud das Gewehr durch. Er trieb die Pferde weiter voran und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Die Petroleumlampen am Fuhrwagen warfen nur einen schwachen Lichtkegel auf den Feldweg. Das Konterfei des zerstörten Felsens drang augenblicklich in seine Erinnerung und außerdem lief dieser verdächtige Mann noch frei herum, den er einmal im Nelson`s Pub angetroffen aber seitdem nie mehr wieder gesehen hatte.
Er lauschte und vernahm Pferdehufen, die direkt auf ihn zu galoppierten. Ike legte das Gewehr an und zielte vor sich in die Dunkelheit. Wer auch immer herbei geritten kam, würde ihm genau vor die Flinte laufen. Aus der dunkelblauen Finsternis zeichnete sich die Silhouette eines Reiters ab, der sich rasch näherte und als die Lichtkegel der Petroleumlampen sein Gesicht erhellten, legte er den Gewehrlauf lässig auf seine Schulter ab und atmete erleichtert auf.
Es war nur Charles, der von seiner Nachtschicht zurückkehrte. Mit einem zornigen Gesichtsausdruck trabte er ihm entgegen. Er hatte sogar noch seine weiße Latzschürze umgebunden, die mit Schmierfett und Ölflecken verschmutzt war. Scheinbar wurde er zum nächtlichen Dienst dazu eingeteilt, die gewaltigen Stützbalken von der Olympic einzufetten. Schließlich war heute der historische Tag, an dem die R.M.S. Olympic vom Stapel laufen würde. Seinen Herrenanzug hatte er in eine Wolldecke gehüllt und hinten am Sattel verschnürt. Charles schien diesmal besonders schlecht gelaunt zu sein. Ohne einen Gutenmorgengruß motzte er Ike sogleich an.
„Dein verdammter Rotzlümmel steht wie immer bei den Birken und amüsiert sich dämlich. Sag ihm, er soll sich ja nicht mehr wagen, mir einen Böller vor die Füße zu werfen, ansonsten kassiert er von mir das nächste Mal gewaltige Dresche. Das ist mein Ernst! Beinahe hätte mein Pferd mich abgeworfen und dieser kleine Vollidiot lacht sich darüber kaputt.“
Ike war diesen Morgen ebenfalls nicht sonderlich gut gelaunt. Der Streit letzte Nacht mit Eloise nagte an seinem Gemüt, weshalb er seine Beschwerde über Aaron kommentarlos hinnahm.
Ike unterrichtete ihn monoton über die gestrigen Geschehnisse, wobei er ihm aber verschwieg, dass Eloise sich mit seiner EM23 verteidigt hatte. Er erwähnte lediglich, dass sie auf einen Einbrecher geschossen hatte, weiter nichts. Ike hatte Anne darum gebeten, ihm nichts von dem Missgeschick seiner Dienstwaffe zu berichten. Sie teilte seine Bedenken und versprach es ihm. Denn falls Charles davon erfahren würde, wäre es ihm durchaus zuzutrauen, dass er Ike die letzten verbleibenden Monate erpressen und uneingeschränkte Narrenfreiheit genießen würde.
Anne hatte ihm längst die Angelegenheit mit dem Hund verziehen, weil er ihr die einmalige Chance, eine eigene Schule zu verwalten, nicht verwehrt hatte. Außerdem schätzte sie ihn mittlerweile; Ike hatte sich stets vorbildlich um Justin gekümmert und steuerte somit einiges dazu bei, dass ihr Sohn sich ausgezeichnet in diesem Jahrhundert integriert hatte.

„Wo verdammt noch mal warst du gestern gewesen? Eloise hat mir berichtet, du seist zeitig verschwunden und nun frage ich mich, wohin? Wenn du Zuhause geblieben wärst, hätten es die Einbrecher sicherlich abgeschreckt und davon abgehalten, Eloise zu überfallen. Also, wo hast du dich gestern den ganzen Tag rumgetrieben?“
Charles räusperte sich. „Was geht dich das an? Muss ich mich denn für alles vor dir rechtfertigen? Ich habe schließlich auch Anspruch auf meine Privatsphäre!“
Ike nickte. „Selbstverständlich hast du dich vor mich zu rechtfertigen. Jedenfalls so lange das Probejahr bis Dezember noch gilt, wünsche ich über deine Aktivitäten unterrichtet zu werden. Du kannst hier nicht einfach rumlaufen und machen, was du willst. Du bist hier in einem fremden Jahrhundert und ich will über jeden Schritt von dir informiert sein. So wurde es im Emigrantenprogramm festgelegt. Es ist also ein UE-Gesetz, dem du immer noch unterstellt bist!“
Charles zuckte verlegen mit der Wange und druckste herum. Ike merkte, dass er einfach nicht mit der Sprache rausrücken und sich irgendetwas zusammen reimen wollte.
Eloise hatte ihm berichtet, dass er piekfein davon geritten war und nun fiel ihm die zusammengeschnürte Wolldecke hinter seinem Sattel auf. Darin waren sicherlich sein Herrenanzug und der Überzieher verschnürt. Ike atmete kurz durch und sprach seine Vermutung im ruhigen Ton aus.
„Charles … Hast du dich etwa in einem Bordell vergnügt?“, fragte er ihn direkt ins Gesicht. „Falls ja, ist mir das völlig scheißegal, solltest du wissen. Ich werde Anne niemals darüber informieren, denn das ist tatsächlich deine Privatsphäre. Aber ich muss unbedingt wissen, wo du dich im Probejahr unbeaufsichtigt aufhältst. Ich muss es protokollieren und selbst der Sicherheitszentrale ist es völlig egal, was du privat treibst“, erklärte Ike sachlich.
Charles blickte ihn ungläubig an.
„Sag mal, spinnst du? Hältst du mich etwa für einen Hurenbock? Selbstverständlich war ich nicht im Bordell!“, bekundete er aufgebracht. „Ich ähm, war in der Stadt in einer Kneipe … Pokern. Nicht im Nelson`s Pub“, betonte er sogleich. „Ich spiele neuerdings, um mein Gehalt etwas aufzustocken. Verstößt das etwa gegen das Gesetz? Schließlich will ich mir, wenn`s geht, noch vor 1912 eine Knatterkiste kaufen. Ansonsten hätte ich mich ja gleich in die DDR transferieren lassen können. Ich will endlich ein Auto haben, und zwar jetzt und nicht erst in zehn Jahren oder so! Kapiert?“
Ike blickte ihn scharfsinnig an, nickte, zog an seiner Zigarette, inhalierte und blies ihm dem Qualm mitten ins Gesicht.
Charles hüstelte sogleich und wedelte wild mit seinen Händen, doch die frostige Temperatur hatte den Zigarettenqualm förmlich eingefroren und ihn umhüllt, sodass er sein Pferd einige Schritte rückwärts dirigieren musste, um aus der Dunstwolke zu gelangen.
„Hey, was soll der Quatsch, bist du noch ganz klar? Ich will nicht krank werden! Ich kann den Zigarettengestank außerdem nicht ausstehen! Das weißt du ganz genau!“, motzte er sogleich. „Was hat Rotschopf eigentlich gekocht? Hab einen Bärenhunger.“
„Kartoffelsuppe“, antwortete Ike, peitschte zugleich die Zügel auf das Pferdegespann und rückte ab.
„Was? Etwa schon wieder Suppe?“, blickte ihm Charles entrüstet hinterher.
„Ja, Suppe! Lass es dir schmecken!“

Ike schnickte die Zigarettenkippe fort. Henry hatte ihn vor Missionsbeginn davon abgeraten, weil Rauchen rasch süchtig macht und der Tabakgenuss in United Europe ohnehin gesetzlich verboten war. Ihm würde bei seiner Rückkehr andernfalls eine lästige Therapie bevorstehen, prophezeite er ihm. Mittlerweile hatte Ike seine Dummheit ja eingesehen, weil er feststellte, dass man dem Tabakteufel doch nicht so leicht wieder entkommen kann. Dennoch war er jetzt über sein Laster etwas erfreut, denn sonst wüsste er nicht, dass Charles ihn soeben angelogen hatte.
So wie er sich immer noch anstellte, dass hatte er bereits festgestellt, als er ihn einmal ins Nelson`s Pub mitgenommen hatte, würde er niemals wieder freiwillig eine Wirtschaft betreten, in der gewöhnlich viel geraucht und wenig gelüftet wird.
Ike blickte in den sternklaren Himmel hinauf. Nicht einmal ein Propellerflugzeug schwirrte hoch oben, weil es zu jener Zeit noch keinen Flugverkehr gab. Er kniff seine Augen. „Charles lügt, aber weshalb? Was hat er zu verbergen? Wo hat er sich tatsächlich rumgetrieben … Und mit wem? Vielleicht doch im Bordell und hatte es nicht zugegeben, weil es ihm peinlich war? Aber Anne ist doch eigentlich eine attraktive Frau.“

Aaron O’Neill wartete wie jeden Morgen bei den Birkenbäumen. Er vertrieb sich meistens die Zeit bis Ike ihn abholte damit, indem er in aller Herrgottsfrühe Dosen aufstellte und diese fortkickte. Immer und immer wieder.
„Guten Morgen, Ike. Machte Charles immer noch dieses dumme Gesicht? Dem habe ich mit einem Böller ganz schön einen Schreck eingejagt“, kicherte er.
Ike stieg vom Fuhrwagen, ging sichtlich erbost auf ihn zu, packte ihn am Nacken und rüttelte ihn wie einen reuigen Hund, der nicht gehorchte. Dann drückte er ihn auf die Knien runter. Aaron stöhnte auf.
„Bist du denn von Sinnen?! Wegen deines dummen Lausbubenstreichs hätte Charles vom Pferd stürzen und sich dabei das Genick brechen können!“, brüllte er. „Dann hättest du ein Menschenleben auf dem Gewissen! Ist dir das überhaupt bewusst?!“
Abgesehen davon, dass Ike sowieso gereizt aufgestanden war, reagierte er trotz alledem nicht unbegründet cholerisch. Während des Probejahrs trug er die Verantwortung für die Owens und hatte dafür zu sorgen, dass die Emigranten keine Dummheiten anstellten und vor allem durfte ihnen keinesfalls etwas widerfahren. Dies wurde von der TTA standardgemäß vertraglich festgelegt. Ike war sozusagen ihr Schutzengel und Bürge zugleich, der Justitia in United Europe letztendlich Rede und Antwort geben musste, falls eine Vertragsbedingung nicht erfüllt wurde und den Auswanderer etwas drastisches zustoßen würde.
Aaron erschrak mehr, als dass ihm der Nacken schmerzte, schließlich war er es gewohnt, dass Ike ihn des Öfteren hart anpackte. Meist schmetterte er ihn rücklings zu Boden, setzte sich hämisch grinsend auf ihn drauf und massierte mit den Knien seine dünnen Oberärmchen, während er seine Ohren rubbelte, bis sie rot anliefen. Dann lachte Ike ihn aus und hänselte ihn, dass die rot angelaufenen Ohren nun wunderbar zu seiner Haarfarbe passen würden. Oftmals tat er das, wenn Aaron wiedermal naseweise Kommentare von sich gab und sich einfach nicht belehren lassen wollte.
Letztens zum Beispiel behauptete Aaron, er wüsste dass die White Star Line ihr drittes Schwesterschiff Gigantic taufen würde, woraufhin Ike um einen Dollar dagegen wettete. Aaron schlug ein und meinte frech, dass er den Dollar sehr gut gebrauchen könne, weil er sowieso ernsthaft beabsichtigte nach Amerika auszuwandern, sobald seine Lehre bei Harland & Wolff beendet ist. Für sein überhebliches Siegesbewusstsein hatte sich der Knabe von Ike einen Satz heiße Ohren eingehandelt.

Aaron war nicht mehr der kleine niedliche Bengel, dem er früher auch gerne mal lobend durchs Haar gewuschelt hatte. Mittlerweile hatte der Fünfzehnjährige einen gewaltigen Schuss nach oben gemacht, nun musste Aaron nicht mehr auf ihn hochsehen. Man konnte ihm beinahe täglich beim Wachsen zusehen und überdies befand er sich gerade im Stimmbruch, weshalb Ike oftmals seine jaulende Stimme nachäffte und Aaron sich wiederum darüber ärgerte. Also packte Ike ihn fortan einen Tick härter an, zumal er ihm sein Lausebengel Gehabe auszutreiben versuchte. Ike war der festen Überzeugung, dass aus diesem Rotschopf noch etwas Großes werden würde. Der Bengel war wissbegierig, intelligent und hatte eine große Schnauze, nichtsdestotrotz schlug sein Herz am rechten Fleck.
Als Ike endlich von ihm abließ, blickte Aaron ihn entrüstet an und rieb sich dabei seinen Nacken.
Du Widerling, hätte er seinen kumpelhaften Vorarbeiter am liebsten geschimpft. Der ist gewiss mit dem falschen Fuß aufgestanden, weil Eloise ihn die letzte Nacht nicht rangelassen hatte, dachte er sich insgeheim. Aber diese pikante Vermutung behielt Aaron vorsichtshalber für sich.
Ike hielt ihm, während sie auf dem Feldweg weiter der Stadt entgegen trabten, eine Standpauke vor und erinnerte Aaron einfühlsam daran, dass sein eigener Vater bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war. Als Ike daraufhin bemerkte, dass Aaron reumütig seinen Kopf neigte, drückte er ihm als Zeichen der Versöhnung seinen Tabakbeutel in die Hand und forderte ihn auf, geschwind zwei Zigaretten zu drehen, bevor er es sich anders überlegen würde. Aaron lächelte wieder, wobei seine Schneidezahnlücke deutlich aufblitzte. Plötzlich zog Ike abrupt die Zügel an.
„So eine verfluchte Scheiße! Verdomme, dit kan niet waar zijn!“, brüllte er und trat wütend gegen das hölzerne Fußbrett.
Aaron schluckte. Es war schon eine Zeit lang her, als Ike das letzte Mal in seiner Gegenwart holländisch geflucht hatte und wenn er dies tat, dann handelte es sich immer um eine unangenehme Angelegenheit, die aber meist nur ihn selbst betraf, sonst niemanden. Und in solchen Momenten war Ike stets mit Vorsicht zu genießen.
„W-was ist denn los?“, wagte Aaron vorsichtig zu fragen, wobei er kein Wort verstand.
Ike schaute garstig zu ihm rüber. Seine blauen Augen blickten finster drein.
„Jetzt habe ich doch in der Tat meine blöde Brotbüchse Zuhause vergessen. Das wird ein langer Tag werden, mit Magenknurren. Verdomme aber auch!“, fluchte er zornig.

Es war vollbracht. Die R.M.S. Olympic lief an diesem Donnerstag den 20. Oktober 1910 pünktlich um 12 Uhr mittags erfolgreich ohne Zwischenfälle vom Stapel. Der monströse Schiffsrumpf rauschte im tosenden Applaus achtern voraus in das künstliche Flussbett und wurde von Schlepperdampfer über den Victoria Channel hinüber in das geflutete Trockendock gezogen, damit unter anderem die Maschinenteile, Dampfkesseln und die vier Schornsteine montiert werden konnten. Außerdem begannen nun die Innenarbeiten. Die Installation der Elektrik sowie Sanitäranlagen und die Errichtung der Kabinen konnten ebenfalls angegangen werden.
Feuerwerksraketen explodierten am bewölkten Himmel und eine Marschkapelle spielte. Vor der Helling war eine Tribüne aufgebaut worden, die ausschließlich für prominente Herrschaften sowie den Repräsentanten der White Star Line, Harland & Wolff und einschließlich für den Bürgermeister von Belfast reserviert waren. Tausend bunte Wimpeln sowie Luftballons schmückten das komplette North Yard. Jetzt war nur noch die Titanic im stählernem Kollos des Portalkrans eingegittert und nebendran, wo eben noch ihr Schwesterschiff gelegen hatte, eröffnete sich nun die freie Sicht über den breiten Victoria Channel.
Fotografen und Zeitungsreporter aus aller Welt tummelten sich am Ufer und hatten den Moment festgehalten, als der grau grundierte Schiffsrumpf majestätisch ins Wasser glitt. Die ganze Welt schien zuzusehen, bis auf die fleißigen Männer, die dieses Schiff erbaut hatten.
Selbstverständlich war es auch allen Werftarbeitern erlaubt, eine Eintrittskarte zu ergattern, insofern sie es sich finanziell erlauben und zusätzlich auf einen Tageslohn verzichten konnten. Dieser Tag war für das Olympic Team ein historischer Tag, und doch arbeiteten die Tagelöhner schweren Herzens in ihren Werkstätten unermüdlich weiter. Manch einer wagte kurz aus den verschmutzten Fensterscheiben zu schauen, um eventuell den Anblick des schwimmenden Schiffes zu erhaschen, jedoch pfiff der energische Trillerpfeifenton eines Vorarbeiters ihn wieder unbarmherzig zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Ike hatte sich das Recht vorbehalten, während dem Stapellauf an Bord der Olympic anwesend zu sein. Diese Ehre durften sonst nur Teammitglieder mit ihm teilen, die von ihren Vorarbeitern dazu auserkoren wurden. Zur Anerkennung für ihre hervorragenden Leistungen durften die Auserwählten auf dem Bug- sowie Achterdeck stehen bleiben und warfen etliche Taue über Bord, die von der Besatzung der Schlepper festgezurrt wurden, um den riesigen Schiffsrumpf in das geflutete Trockendock zu ziehen.
Nachdem die R.M.S. Olympic zum Tiefwasserkai geschleppt wurde und andockte, hievte der neue Schiffskran den ersten 21 Meter langen Schornstein in die Höhe. Die Arbeiten gingen unaufhörlich weiter und aufgrund der Verzögerung des Stapellaufs, waren einige Werftarbeiter dazu gezwungen, ihre Mittagspause nach dem Event abzuhalten.
Überall auf dem Bootsdeck der Olympic hockten die Männer zwischen Paletten und Stehleitern in Gruppen zusammen und speisten ihre Pausenbrote. Da nun Ike seine Brotbüchse dummerweise wegen des frühmorgigen Streites mit Eloise vergessen hatte, wanderte er hungrig auf dem Bootsdeck umher und beobachtete, wie die Kranführer einen riesigen Schornstein langsam herabließen.
Währenddessen dachte er über die Anschuldigungen nach, die er seiner Eloise vorgeworfen hatte. Er hatte ihr unterstellt, sie würde ihm nachspionieren aber sie hatte beteuert, dass sie seine Geheimnisse nur zufällig entdeckt hätte. Höchstwahrscheinlich war das sogar die Wahrheit und er hatte sie zu Unrecht beschuldigt. Eloise hatte doch nur ihre Pflicht getan und das Badezimmer gründlich geputzt, nur so hatte sie die Geheimfächer entdeckt, sah er nun ein.
Ike lief auf dem Bootsdeck der Olympic rum und hielt sich dann an der Reling fest, und blickte nachdenklich über den Victoria Channel. Ike war äußerst misstrauisch. Selbst letzte Nacht überkam ihn der absurde Gedanke, dass Eloise vielleicht von seinen Widersachern eingespannt wurde. Wurde sie es eventuell, fragte er sich tatsächlich. So ganz unrealistisch war es nicht und es war auch nicht unüblich, Akteure gegen Geheimagenten einzusetzen. Somit wurde der UE-Secret Service oftmals außer Gefecht gesetzt.
Aber dann fragte er sich selbst, wann hatte Eloise ihn jemals wirklich angelogen? Flunkern, ja. Das tat sie sehr gerne und häufig, aber sie offenbarte ihm immer sogleich lachend die Wahrheit.
Eloise lügt nicht, aber weshalb hatte sie ihm ihre Entdeckung verschwiegen? Er strich seine Hand durch sein dunkles Haar, stützte sich an der Reling fest und senkte seinen Kopf.
Weil sie solch eine Reaktion von Ihm befürchtet hatte, die er ihr gestern Abend zugemutet hatte, beantwortete er seine selbst gestellte Frage. Aber wie hätte er ihr bloß erklären sollen, dass die jung wirkende Frau auf den Fotos seine leibliche Mutter ist, die bereits 52 Jahre alt war? Eloise würde dies sicherlich niemals glauben und ihn für einen Lügner halten. Möglich wäre dann sogar, dass sie sich von ihm abgewandt hätte. Die Streitereien zwischen ihnen hatten die letzten Monate überwogen; möglich lag es daran, weil zwei völlig verschiedene Welten aufeinander trafen … Oder weil beide sich tatsächlich aufrichtig lieben und Streitigkeiten nun Mal dazu gehören?

Am riesigen Schwimmkran haftete ein unübersehbares Metallschild: DEMAG Duisburg. Ike blinzelte zum Führerhaus des monströsen Krans hinauf. Hoch oben, 50 Meter höher, flatterte die schwarz-weiß-rote Flagge des Deutschen Kaiserreichs.
Einer der riesigen Schornsteine pendelte etwas unruhig umher, dieser in seine Vorrichtung montiert werden sollte. Die Arbeiter fluchten ständig, weil der Schornstein immerzu falsch angesetzt wurde.
„Sind die bescheuerten Krauts zu blöd, ihren eigenen Kran zu bedienen?!“, beschwerten sich die Werftarbeiter.
Ike ahnte, dass die zwei Kranführer hoch oben die Anweisungen der irischen Werftarbeiter möglicherweise nicht verstanden, denn die deutschen Gastarbeiter sprachen kein Wort Englisch. Kurzerhand schnappte sich Ike das Megaphon des Vorarbeiters, und richtete die Flüstertüte in die Höhe.
„HEY, IHR DA OBEN! ETWAS WEITER STEUERBORD AUSRICHTEN, STEUERBORD! RECHTS MEINE ICH, MEHR NACH RECHTS!“, rief Ike mithilfe der Flüstertüte.
Die zwei Kranführer blickten sich daraufhin verdutzt an. Dieser irische Melonenträger hatte doch tatsächlich deutsch gesprochen.
„HEY, KUMPEL! DU DA UNTEN!“, antwortete einer der beiden ebenfalls mittels eines Megaphons.
„SAG DEN IRISCHEN MISTFLIEGEN, DIE KÖNNEN MAL UNSERE HINTERN KÜSSEN! WIR WISSEN SELBER, WAS ZU TUN IST!“
Trotz der schwindelnden Höhe erkannte Ike deutlich ihr schelmisches Grinsen.
„Ike, verstehen Sie wirklich, was die da oben im Kran quatschen? Meine Güte, Sie können ja sogar Sauerkraut reden“, bemerkte der Vorarbeiter der Olympic überrascht. „Außerordentlich. Was haben die Krauts für ein Problem, sagen Sie es uns.“

Ike schob seine Melone etwas zurück, blinzelte verlegen und kratzte sich an der Stirn.
„Nun ja, wissen Sie, Sir. Der Deutschmann dort oben spricht einen merkwürdigen Dialekt, aber ich glaube, er bedankt sich für unsere Unterstützung. Er sagte, dass die Iren sehr gut arbeiten würden“, flunkerte Ike, weil er die ohnehin angespannte Stimmung gegenüber den deutschen Gastarbeitern nicht noch weiter anheizen wollte. Der Vorarbeiter aber winkte nur ab.
„Pah, interessiert mich nicht die Bohne. Sagen Sie denen da Oben, dass sie sich zum Teufel scheren sollen, wenn sie ihren eigenen Kran nicht anständig bedienen können. Dann machen wir es selber.“ Er boxte Ike leicht gegen seine Brust. „Na los, van Broek, sagen Sie es ihnen. Die verdammten Krauts können uns mal kreuzweise. Die Arschlinge da Oben brauchen wir eigentlich gar nicht, zur Not können wir denen Kran auch irgendwie selbst steuern“, grinste der Vorarbeiter.
„Das ist eine bodenlose Frechheit. Die sollen gefälligst ihre verdammte Flagge abmontieren! Die befinden sich in Nordirland. Die englische Flagge muss stattdessen gehisst werden!“, beschwerte sich ein Nieter und spuckte verachtend in die Richtung des Schwimmkrans, woraufhin einige lautstark zustimmten: „Jawohl, weg mit der verfluchten Kraut-Flagge!“
„Hey Leute, seid vernünftig und beruhigt euch. Das ist leider nicht möglich“, versuchte Ike die aufgebrachten Werftarbeiter zu beruhigen, die ihn mittlerweile massenweise umringt hatten.
„Dieser Schwimmkran ist eine deutsche Konstruktion, also dürfen sie auch ihre Hoheitsflagge hissen. Das war eine Bedingung von den Deutschen, weil niemand anders dieses monströse Ding montieren konnte, geschweige denn bedienen kann. Es wurde von der Geschäftsführung akzeptiert, dass sie ihre Flagge am Schwimmkran hissen. Also werdet ihr es erst recht akzeptieren müssen!“
Daraufhin blickten sich die Werftarbeiter gegenseitig an und diskutierten. Kurzes Gemurmel ertönte, bis der Vorarbeiter an Ikes Schulter packte und zustimmte, wenn auch missmutig.

Ike hielt das Megaphon wieder in die Höhe, während alle Werftarbeiter gespannt hochblickten. Er konzentrierte sich, einwandfreies deutsch zu sprechen.
„HEY, IHR DA OBEN. DER VORARBEITER BEDANKT SICH IM NAMEN ALLER FÜR EURE DIENSTE UND ICH SOLL EUCH AUSRICHTEN: LANG LEBE KAISER WILHELM II.VON PREUßEN!“
Die zwei deutschen Kranführer blickten sich gegenseitig überrascht an. Solch eine Freundlichkeit hatten sie von den Iren wahrlich nicht erwartet.
Der Vorarbeiter der Olympic klopfte Ike anerkennend auf die Schulter.
„Gut gemacht, van Broek. Denen haben Sie es aber gezeigt. Jetzt hat es denen die Sprache verschlagen“, lobte er grinsend. Ike blickte ihn fragend an.
„Was meinen Sie, Sir? Ich kann Ihnen jetzt nicht folgen.“
„Aber Ike … Sie haben Kaiser Wilhelm bestimmt einen Tölpel genannt und nun schmollen die Krautfresser. Geschieht ihnen recht. Das haben Sie doch gesagt, oder etwa nicht?“, fragte der Vorarbeiter erwartungsvoll.
Ike lächelte gezwungen, nickte und zuckte dabei mit seinen Augenbrauen.
Plötzlich rammte der monströse Schornstein in seine Vorrichtung, wobei das Bootsdeck der Olympic leicht erschütterte und die umherstehenden Werftarbeiter einige Schritte zurückschreckten. Die deutschen Kranführer ernteten daraufhin einen kräftigen Applaus. Der erste Schornstein wurde exakt in seine Vorrichtung gebracht.
„Gut gemacht, Sauerkraut. Gut gemacht! Ihr seid ja doch für irgendwas zu gebrauchen!“, lachten die irischen Werftarbeiter, woraufhin die zwei Deutschen hoch oben in der Krankabine ihnen aus schwindelnden Höhe freundlich zuwinkten.

„Ach so, hier steckst du also“, hörte er plötzlich eine liebliche, ihm sehr wohl vertraute Stimme hinter sich sprechen. Ike drehte sich verwundert um und erblickte Eloise, mit einem abgedeckten Bastkörbchen in ihren Händen haltend. Sie tippelte sogleich eilig zur Seite, weil einige Männer ein Stahlrohr schleppten und sie im Weg stand.
„Liebes? Na, das ist ja aber eine Überraschung. Was-was machst du denn hier?“, fragte Ike erstaunt. Sie hielt das Bastkörbchen mit beiden Händen fest, dann hob sie das Tuch und lugte kurz hinein und kicherte.
„Du hast heute Morgen in der Eile deine Brotbüchse vergessen“, sagte sie und blickte sogleich verunsichert umher, weil sie sachtes Gelächter der glotzenden Männer vernahm.
Einen Augenblick schaute er sie nur fassungslos an. Ike hatte sie zu Unrecht beschuldigt und trotzdem war sie erschienen, war extra für ihn den langen Weg nach Queens Island geritten, nur damit er nicht hungern musste. Am liebsten hätte er sie sofort in seine Arme geschlossen, sie geküsst und um Verzeihung gebeten, aber er fühlte sich etwas befangen. Immerhin waren etliche Männer anwesend, die allesamt neugierig gafften.
Das also ist die Frau vom Holländer. Nur ein einfaches Mädchen vom Land, lediglich bekleidet mit einem karierten Schottenrock, geflochtenem Zopf und grüner Strickweste und nicht wie man erwartete, Mrs. van Broek sei bestimmt eine erhabene Lady, die stets vornehm gekleidet ist. Obendrein war sie nur mit Sandalen erschienen. Eloise erntete mit ihrer bescheidenen Erscheinung bei allen Werftarbeitern sofort Sympathie.
Eloise lächelte schüchtern, grüßte die Herren und wünschte ihnen einen guten Appetit. Die Männer hoben zur Begrüßung ihre Schirmmützen kurz an, wobei jeder aber plötzlich sein Pausenbrot grinsend hinter seinen Rücken versteckte.
Eloise hielt kichernd ihre Hand vor dem Mund, weil sie diese Anspielung sofort verstand. Obwohl dutzende Männer anwesend waren, herrschte trotzdem eine ungewöhnliche Stille auf dem Bootsdeck der Olympic. Und weil es sich schnell herumgesprochen hatte, dass die Frau gekommen war, die jeden Tag van Broeks Butterbrote anbeißt, strömten immer mehr Werftarbeiter neugierig herbei und umzingelten langsam das Pärchen. Jeder wollte endlich wissen, wer die Frau neben van Broek ist.

„Wie hast du mich bloß gefunden, Liebes? Du hättest mich doch eher auf der Titanic oder in der Schreinerwerkstatt vermuten müssen.“
Eloise zeigte auf die Männerschar, deren Köpfe aus dem Treppenaufgang zur Kommandobrücke ragten und ihn frech anlächelten.
„Deine lieben Kollegen waren so nett und haben mich hierher begleitet.“
„Hallöchen, Mister van Broek“, winkten sie kess und prusteten dabei.
Dass die Frau des Holländers erschienen war, war eine reine Sensation und hatte sich rasch herumgesprochen. Ike blickte ihnen finster entgegen und ballte seine Faust, zwinkerte ihnen aber schließlich freundlich zu. Er klatschte in die Hände und rieb sie.
„Na, dann lass mal sehen, was du mir Feines mitgebracht hast. Ich habe tierischen Hunger, Liebes.“
Gelächter erklang. Die Männer wurden nun leibhaftige Zuschauer in einem Theaterstück, wie sich das legendäre Frühstücksritual zwischen beiden Hauptdarstellern live abspielen wird.
„Muss Liebe schön sein!“, rief jemand aus der Menge woraufhin wieder lautes Lachen erklang. Und die Männer schauten gespannt zu.
Ike blickte in das Bastkörbchen hinein. Sie hatte wiedermal einen Teller, Besteck und die hellblaue Porzellantasse mit dem eingeritzten Herz eingepackt. Er staunte, als er zusätzlich zwei Sektgläser und eine Flasche Schampus entdeckte.
„Weshalb hast du Champagne mitgebracht?“, fragte er verwundert. Eloise kicherte.
„Ich dachte mir, wenn du Feierabend hast, werden wir uns gemeinsam auf dem Nachhauseweg so richtig betrinken. Dann musst du nicht ins Nelson`s Pub gehen und kommst auch nicht wieder so spät nach Hause.“
Die Werftarbeiter ringsherum lachten laut und applaudierten. Pfiffe schrillten, als Ike sie lächelnd in seine Arme schloss. Mittlerweile hatte das Gejohle an Bord der Olympic weitere Werftarbeiter angelockt. Dutzende Leute standen am Kai, blickten zum gigantischen Schiffsrumpf hinauf und tuschelten, was dort oben wohl vor sich ginge. Vielleicht eine Schlägerei zwischen Carl Clark und Ike van Broek? Das wäre eine absolute Sensation.
Während Ike und Eloise sich leidenschaftlich küssten, wobei sie die klatschenden Herrschaften um sich herum nicht mehr wahrnahmen, flüsterten ihm seine Gedanken energisch zu: Entweder jetzt oder nie!
Kurz entschlossen griff Ike nach dem Megaphon und hielt es in die Höhe.
„ELOISE O’BRIAN, WILLST DU MEINE FRAU WERDEN?“, ertönte es lautstark.
Einen Moment hielt eine Stille, wie bei einer Schweigeminute. Eloise blickte verdutzt drein, denn damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
Schließlich entriss sie ihm die Flüstertüte und hielt sie ihm direkt vor seinem Gesicht. Ike drückte das Sprachrohr dezent von sich weg.
„DAS WÜRD ICH VERFLIXT GERNE WERDEN, NUR WANN GEDENKST DU, MICH ZU HEIRATEN?“, dröhnte es lautstark über das Trockendock.
Ike entnahm ihr lächelnd das Megaphon und richtete es gegen das Achterdeck. Sofort bildeten die Männer eine Gasse, denn die Lautstärke der Flüstertüte war nicht zu unterschätzen.
„WIE WÄRE ES, WENN WIR SCHON DIESEN SAMSTAG HEIRATEN? WOZU NOCH LÄNGER WARTEN?“
Wieder schnappte Eloise nach dem Megaphon und hielt es wieder beidhändig direkt vor seinem Gesicht. Ike kniff die Augen zu und führte das Sprachrohr entgegen dem Ufer.
„AM SAMSTAG MUSS ICH ZWAR WÄSCHE WASCHEN UND DIE WOHNUNG PUTZEN, ABER DAS KANN ICH AUCH NOCH AM SONNTAG MACHEN, WENN ICH ENDLICH MISSES VAN BROEK HEISSE!“

Der Champagnerkorken machte –flopp– und schoss in die Höhe. Ein tosender Jubelrausch ertönte daraufhin und hunderte Mützen flogen in die Luft. Manch einer am Ufer wusste gar nicht, weshalb eigentlich gejubelt wurde, warf aber trotzdem seine Schirmmütze gen den Himmel und jubelte einfach mit. Eloise hüpfte ihm freudig in die Arme und lachte übermütig.
Nie zuvor verspürte sie das vollkommende Glück, wie in diesem Augenblick.
Vergessen war all der Groll und vergessen war die Frau auf den Fotos. Dieser Tag war für Eloise wahrlich ein historischer Tag, diesen sie niemals vergessen würde. Die Hochzeit war nun gewiss.
 
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