
Kapitel 36 – Das Hochzeitsgeschenk
Am späten Nachmittag, als die Sonne beinahe hinter den Wäldern versunken war, fuhr ein gelbes Automobil auf dem Feldweg entlang und steuerte direkt auf das Grundstück zu. Der Wagen zog einen Staubschweif hinterher und unter den Reifen knisterten die Kieselsteine. Das helle Verdeck lag zurückgefaltet auf der Heckhaube und die verchromten Scheinwerfer blitzten im rötlichen Sonnenlicht auf. Sofort flitzten einige Kinder zum Holzzaun hinüber, stiegen auf die Bretter und bestaunten das edle Fahrzeug, wie es tuckernd vor dem Hoftor ausrollte.
Ein Automobil sah man auf dem Land äußerst selten, erst recht einen derartigen noblen Wagen. Seitlich an der Karosse waren die Ersatzreifen befestigt und sogar die Umrandung des klobigen Kühlergrills war verchromt. So ein edles Automobil konnte sich nur ein Millionär leisten und es erlangte umgehend die Aufmerksamkeit aller Hochzeitsgäste. Sie reckten neugierig ihre Hälse aber von der Ferne aus waren die vier Personen im Wageninneren einfach nicht zu erkennen.
Während die Musik munter weiterspielte, rätselte und tuschelte man wer das wohl sein mochte. Hegte das frisch vermählte Ehepaar etwa die Gesellschaft der feinen Leute und niemand hatte davon etwas bemerkt? Die Hochzeitszeremonie hatten diese Fremden allerdings verpasst, also gehörten sie weder zur Verwandtschaft, noch zählten sie zu dem engsten Freundeskreis.
Hinter dem Steuer saß ein uniformierter Chauffeur und auf dem Beifahrersitz lümmelte ein beleibter Mann mit weißen Hemd, Hosenträger und Hut, der keinen besonderen feierlichen Eindruck machte. Der Mann auf der Rücksitzbank öffnete die Autotür, stieg heraus, richtete seine Krawatte und zupfte sogleich seinen braunen Herrenanzug zurecht. Sein dunkles Haar war streng zurückgekämmt und glänzte vom Haarwasser. Ike und Henry blickten sich gegenseitig verblüfft an, ja, beinahe erschrocken an und beide dachten genau dasselbe: „Was zum Teufel will der denn hier?“
Ike zuckte nur ahnungslos mit der Schulter und ging auf den Fremden zu. Eloise war mittlerweile etwas angetrunken, kippte ihren prickelnden Champagner in einem Zuge hinunter und drückte dem verdutzten Henry das Sektglas in die Hand.
„Henry, das ist Mister Andrews. Ikes Chef. Jetzt gibt`s wieder Geschenke. Hihi“, giggelte sie, hob ihren Rock an und tippelte Ike eilig hinterher.
Mr. Thomas Andrews` Charisma war einfach atemberaubend. Die positive Energie und Selbstsicherheit, die dieser Mann ausstrahlte, war geradezu berauschend und er infizierte seine Mitmenschen unweigerlich mit seiner optimistischen Weltanschauung. Sah man in seine dunklen Augen, war seine Ehrgeiz förmlich zu spüren. Der siebenunddreißigjährige Schiffsarchitekt Thomas Andrews hatte nicht nur die besondere Begabung geniale Konstruktionspläne zu entwerfen, sondern zudem auch seine Untertanen alleine mit seinem Erscheinen auf der Helling und Werkstätten zu motivieren, und ihren Glauben an die Projekte zu festigen. Er scheute sich sogar nicht davor, selbst hinauf auf das Gerüst zu steigen, um sich persönlich von dem Arbeitsergebnis zu vergewissern, wofür er von jedem Handwerker aufrichtigen Respekt erntete. Ebenso sah er sich niemals zu fein dafür, selbst einer Hilfskraft lobend auf die Schulter zu klopfen und er wusste, seine Vorarbeiter zu schätzen.
Nichtsdestotrotz war auch er kein Mann, der die Heiterkeit permanent in seinem Herzen trug. Er war der technische Direktor eines Imperiums und leitete die Konstruktionsabteilung von Harland & Wolff. Auf seinen Schultern lastete immerhin unglaubliche Verantwortung und selbstverständlich hatte auch er manches Mal schwarze Tage zu verbuchen. Dass er jemanden vor versammelter Mannschaft unbeherrscht anfuhr, war eigentlich selten von ihm zu erwarten. Seine Verstimmung machte sich eher bemerkbar, wenn er auffällig hektisch in den Werkstätten umherhuschte, Begrüßungen seiner Arbeiter, selbst die von den Vormännern einfach ignorierte und mit stechenden Blicken kleinlich kontrollierte. Dann überkam den Werftarbeitern ein mulmiges Gefühl, jeder kuschte vor ihm und niemand wagte es ihn nur anzuschauen. Vielmehr beschleunigte man haarsträubend das Arbeitstempo, sobald der missgelaunte Schiffsarchitekt sich jemanden näherte.
Mr. Andrews breitete seine Arme auseinander und ging auf Ike strahlend lächelnd zu. Obwohl seine Statue sichtlich schmächtiger gebaut war, zog er Ike beherzt an seine Brust, sodass ihm der Zylinder auf dessen Kopf verrutschte. Kräftig klopfte er gegen Ikes Rücken.
„Mein lieber Ike. Ich wünsche Ihnen und Ihrer ehrenwerten Gattin vom ganzen Herzen alles Gute für die Zukunft. Möge der HERR das junge Eheglück segnen und behüten.“ Dann packte er an seinen muskulösen Oberarmen, drückte ihn einen Schritt von sich und schaute ihn mit funkelnden Augen an.
„Na, Sie sind mir vielleicht ein Schelm. Da versuchte doch in der Tat, ein meiner tüchtigsten Vorarbeiter sich klammheimlich hinter meinen Rücken zu vermählen. Als ob ich davon nichts erfahren würde.“
„Oh … Tja, also Mister Andrews, was soll ich bloß dazu sagen? Wenn ich doch nur geahnt hätte …“, stammelte Ike.
Die momentane Situation war Ike sichtlich peinlich, denn weder erwähnte er seine Hochzeitsabsicht im Hauptquartier, noch stand die Familie Andrews auf der Gästeliste, weil es Ike strikt verboten wurde. Thomas Andrews wurde von der Sicherheitszentrale schließlich als ein Hauptakteur eingestuft, dessen persönlicher Kontakt absolut untersagt war, insofern sich dies vermeiden ließ, um ihn nicht unbeabsichtigt zu beeinflussen. Ike war sich dessen bewusst und versuchte jeglichen privaten Kontakt mit ihm zu vermeiden. Aber Mr. Thomas Andrews war sein direkter Vorgesetzter.
„Seien Sie unbesorgt, Ike. Ich beabsichtige nicht lange zu bleiben, sondern bin lediglich hier, um Ihnen und Ihrer ehrenwerten Gattin Glückswünsche auszusprechen und eine kleine Anerkennung, im Namen von Harland & Wolff und der White Star Line, Ihnen zu überreichen.“
Ike wagte einen kurzen Blick auf die Limousine. Auf der Rücksitzbank saß seine hochschwangere Frau, Mrs. Helen Reilly Barbour Andrews, die einen hellen Sonnenschirm in ihren Händen hielt. Sie lächelte, winkte aus dem Handgelenk und nickte ihm freundlich zu. Der dicke Herr auf dem Beifahrersitz grinste breit über die Backen und grüßte ihn ebenfalls, indem er kurz an seinen Hut griff. „Tag, Ike. Glückwunsch zur Hochzeit.“
Ike erkannte ihn. Das war einer von Bruce Ismays Leuten, irgendein Engländer, einer der vielen Repräsentanten von der White Star Line, den er flüchtig im Hauptquartier kennen gelernt aber seinen Namen sogleich wieder vergessen hatte.
Ike war gerade dabei, Mrs. Andrews, den dicken White Star Liner und den Chauffeur zu bitten, an der Hochzeitsfeier teilzunehmen, als Thomas Andrews ihm das Wort abschnitt und elanvoll von seinem Auto zu schwärmen begann.
„Schauen Sie sich mein Schmuckstück ruhig genauer an, Ike. Es ist ein fabrikneuer Opel Torpedo, Baujahr 1910, nagelneu aus dem deutschen Kaiserreich importiert. Der Motor leistet beachtliche 16 PS!“, bekundete er stolz und lachte. „Ich sagte zu meinem Chauffeur, komm schon Junge, jetzt zeig mal was der Motor hergibt, und dann sind wir die Straße tatsächlich mit 65 Stundenkilometer entlang gebraust. Zwar beherrsche ich die Fahrkünste noch nicht perfekt, aber wenn der Bau meiner Titanic abgeschlossen ist und ich von der Jungfernfahrt zurückkehre, werde ich mich selbst hinter das Steuer setzen und lernen, wie man ein Automobil anständig fährt.“
Thomas Andrews bewunderte schließlich Eloise in ihrem strahlend weißen Hochzeitskleid und fasste nach ihrer Hand.
„Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Misses van Broek. Sie sind eine bezaubernde Braut.“
Mr. Andrews küsste auf ihren samtweichen Handschuh woraufhin Eloise dankend knickste und kicherte. Ihre Backen und Nase waren vom Sekttrinken etwas errötet.
Thomas Andrews hakte sich in ihre Arme ein und führte das Brautpaar zu den Gästen zurück. Nachdem der Schiffsarchitekt von allen anwesenden Werftarbeitern begrüßt wurde, versicherte er scherzhaft, nicht ansatzweise das Geschäft zu erwähnen, worauf er herzhaftes Gelächter erntete.
Anne servierte Mr. Andrews auf einem silbernen Tablett eine Havanna und einen Scotch. Sie himmelte ihn an, als wäre er ein berühmter Hollywoodstar, schließlich bekam man nicht jeden Tag die Gelegenheit, einen Hauptakteur zu bedienen. Aber Ike verscheuchte sie sogleich mit einem unauffälligen Klaps gegen ihr Bein.
Mittlerweile hatte es nun jedermann mitbekommen, dass Mr. Andrews erschienen war. Die Hochzeitsgäste drängten nahe beieinander und als Mr. Andrews die Zigarre zwischen seinen Zähnen steckte, zischten augenblicklich etliche Streichhölzer von Vorarbeitern. Er paffte bis die kubanische Zigarre glühte. Dann griff er in seine Innentasche und überreichte Eloise einen Briefumschlag.
Als Eloise ihre Hochzeitshaube absetzte, schlüpfte eine Haarsträhne aus ihrer hochgesteckten Frisur heraus. Immer wieder pustete sie die lange Strähne von ihrer Nase weg.
In diesem Briefkuvert steckten sicherlich Geldscheine und es gehörte sich nicht, vor allen Leuten diesen Umschlag zu öffnen. Schließlich ginge es niemanden etwas an, wie sehr Harland & Wolff die Leistungen von Ike schätzte. Also sprach Eloise mit zarter Stimme ihren Dank aus und überreichte Anne das ungeöffnete Briefkuvert, damit sie es im Haus sicher zu allen anderen vielzähligen Hochzeitsgeschenken ablegen konnte.
„Oh nein, Misses van Broek“, sagte Thomas Andrews, und wedelte dabei hektisch mit seinen Händen. „Bitte öffnen Sie das Briefkuvert jetzt. Ich will mich persönlich davon überzeugen, dass Ihnen diese Anerkennung, die zweifelsohne ihren Gatten gebührt, auch Sie beeindruckt“, sagte er augenzwinkernd.
Die Musik von den Straßenmusiker war längst verstummt, denn es versammelten sich beinahe alle Gäste um die kleine Plauschrunde herum. Die Neugier drängte sie immer enger beieinander. Jeden Anwesenden, selbst allen Kindern, interessierte der Inhalt dieses Briefumschlages. Eloise schaute Ike fragend an, der ihr daraufhin mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab: Na, dann mach es halt auf, Liebes.
Zaghaft rupfte sie an einer abstehenden Klebstelle des Briefumschlages aber als sie keinen Erfolg erzielte, zog sie ihre weißen Handschuhe aus. Dann versuchte sie es erneut, spitzte ihren Zeigefinger auf den Daumen und zupfte immer wieder an einer kleinen Papierecke. Aber immer wieder entwich ihr der Papierfetzen zwischen ihren Fingerkuppen. Eloise spürte förmlich die vielen Blicke, die ihre zittrigen Hände anstarrten und nur darauf warteten, endlich den Inhalt präsentiert zu bekommen. Sie zupfte und zupfte, doch es gelang ihr einfach nicht diesen Briefumschlag zu öffnen. Mittlerweile war ihr dies etwas peinlich geworden, weil alle sie anstarrten.
„Wie verflixt aber auch“, kicherte sie. „Wie widerspenstig.“
Kurz entschlossen schnappte sie dann Charles die Kuchengabel aus der Hand und mit einem RATSCH, war der Briefumschlag geöffnet.
Vorsichtig steckte sie ihre Finger hinein und spreizte das Kuvert auseinander. Ein gefalteter Brief und zwei Karten steckten darin, keine Geldnoten. Eloise faltete das Schriftstück auseinander und als sie die ersten Zeilen las, hielt sie plötzlich ihre Hand auf dem Mund. Ihre grünen Augen weiteten sich.
„Das ist nicht wahr“, nuschelte sie. „Das glaube ich jetzt nicht.“
Eloise holte tief Luft und ließ einen schrillen Jubelschrei los: „Ike, wir fahren nach Amerika!“, kreischte sie voller Freude. „Wir fahren mit der Titanic nach Amerika!“
Sie stürzte sich daraufhin in die Arme ihres Ehemanns, woraufhin Ike sie nur verdattert in seinen Armen hielt und nicht begriff, was eigentlich los war. Er lächelte und mimte den Fröhlichen. Ein begeistertes Raunen erklang und als Mr. Andrews in die Hände klatschte, klatschten nach und nach alle Gäste ebenfalls.
„Ike, wie himmlisch“, sagte sie und schaute ihn dabei verträumt an. „Wir fahren wirklich nach Amerika … Mit deiner Titanic. Ist das nicht wundervoll?“
Charles schlich sich unbemerkt davon. Sein Hunger war zwar längst gestillt, aber eine Lammkeule würde ihm jetzt trotzdem noch munden. „Na, dann vergesst bloß nicht eure Badehosen einzupacken“, schmunzelte er gehässig während er abbiss.
Thomas Andrews überreichte im Namen von Harland & Wolff und mit Zustimmung der Rederei White Star Line, als Anerkennung Ikes hervorragenden Leistungen zu seinem Hochzeitstag, zwei Tickets 2. Klasse für die Jungfernfahrt mit der Titanic. Der endgültige Termin für die Übersee stand zwar noch nicht fest, dafür aber, dass Ike und Eloise an Bord gehen werden. Aber es gab einen kleinen Haken dabei; nur für Eloise würde die Jungfernfahrt reines Vergnügen sein, für Ike jedoch würde die erste Überseefahrt mit der Titanic Arbeitszeit auf Abruf bedeuten.
Thomas Andrews verkündete nämlich überraschend, dass erstmals speziell für die Jungfernfahrt der R.M.S. Titanic eine Garantiegruppe erstellt wird, damit eventuell anliegende Reparaturen während der Seefahrt behoben werden könnten. Jeder Vorarbeiter solle mindestens zwei Handwerker aus seinem Team vorschlagen, aber die endgültige Auswahl würde von der Geschäftsführung entschieden werden. Mr. Andrews betonte, dass er diese Garantiegruppe persönlich leiten werde und es daher selbstverständlich wäre, dass wirklich nur die besten und tüchtigsten Mitarbeiter auserwählt werden. Er fügte hinzu, dies sei keine Urlaubsreise sondern die Mannschaft müsse am Tag wie auch bei Nacht stets zur Verfügung stehen, falls Bedarf bestünde. Die Dienstzeit würde selbstverständlich entlohnt werden.
Ike gehörte nun zur Garantietruppe offiziell dazu, dies bedeutete, dass lediglich Eloise während der Jungfernfahrt entspannen durfte und Ike praktisch arbeiten musste, beziehungsweise auf Abruf bereitstehen müsste.
„Mister Andrews! Mister Andrews!“, rief sogleich eine jugendliche Stimme hervor. Aaron zwängte sich durch die Gäste und als er vor dem Schiffskonstrukteur stand, zog er ehrfürchtig seine Schirmmütze vom Kopf und zupfte seine Krawatte zurecht. Sichtlich nervös, etwas außer Atem, knetete er seine Mütze mit beiden Händen. Sein gelocktes, kupferrotes Haar schimmerte in der Abendsonne.
„Mister Andrews, Sir. Ich habe eine Frage, wenn Sie erlauben.“
Mr. Andrews blickte ihn kurz nachdenklich an.
„Selbstverständlich. Bist du nicht der junge O’Neill? Ikes Schreinerlehrling, richtig? Was hast du auf dem Herzen, mein Junge?“
Aaron nickte hastig.
„I-ich wollte nur mal fragen, Sir, ob auch Lehrlinge die Chance bekommen, in dieser Garantiegruppe dabei zu sein, Sir.“
Daraufhin lachten die anwesenden Vorarbeiter, insbesondere Matthew Kelly. Das würde noch fehlen, bei dieser wichtigen Crew einen Hanswurst dabei zu haben, der einem nur zwischen den Beinen herumlaufen und dumme Fragen stellen würde. Aber Mr. Andrews deutete mit einer energischen Handbewegung dazu auf, sachlich zu bleiben, denn die Frage des jungen O’Neill war berechtigt. Er beabsichtigte den Beschluss von Harland & Wolff allen anwesenden Werftarbeitern weiter zu erläutern, obwohl er doch anfangs versprochen hatte, mit keiner Silbe das Geschäftliche zu erwähnen. Aber wenn es um sein Schiff handelte, die Titanic, vergaß auch er oftmals seine Prinzipien und war nicht mehr zu bremsen.
„Gut, dass du dies ansprichst, mein Junge. Wir zählen zurzeit zu dem größten und modernsten Unternehmen weltweit. Die Auszubildenden von heute sind unsere Fachkräfte von morgen und dieser Wettbewerb soll schließlich jeden Mitarbeiter anspornen. Daher erwünsche ich sogar unbedingt in meinem persönlichen Team einige Lehrlinge. Jedoch nur die Tüchtigsten! Insbesondere werden die Zeugnisse maßgebend entscheiden, nicht nur alleine die Leistungen in den Werkstätten. Dummköpfe kann ich in meiner Crew nicht gebrauchen. Also, streng dich an O’Neill, dann wirst auch du sicherlich eine Chance bekommen. So Gott es will und dein Vorarbeiter dich für die Garantiegruppe vorschlägt, selbstverständlich.“
Aaron wollte gerade nachfragen, ob die Konfession bei der Auswahl ebenso berücksichtigt wird, weil er wie manch anderer glaubte, dass die Protestanten sowieso bevorzugt werden. Aber als er vernahm, dass die schulischen Leistungen wohl eher ausschlaggebender sind, schwor er sich, ab sofort nie wieder die Berufsschule zu schwänzen. Aaron lächelte überglücklich und flitzte davon.
Wenn Ike ihn für die Garantiegruppe vorschlagen würde, könnte sein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Aaron wusste, dass die Titanic frühestens im April 1912 seetüchtig sein würde, bis dahin hätte er das 3. Lehrjahr beinahe vollendet. Er würde in New York von Bord gehen und nicht mehr zurückkehren. Eine eigene Schreinerwerkstatt im gelobten Land Amerika schwebte ihm vor und wenn er genügend Geld gespart hätte, beabsichtigte er seine Mutter aus Irland rauszuholen.
„Mister Andrews!“, rief wieder jemand aus der Menge. Diesmal trat Bob McMurphy hervor und zog seinen Bowler ab. „Sir, Mister Andrews, Sir. Was genau ist denn zu tun, um bei Ihrem Team dabei sein zu dürfen?“
„Nun Bob, eigentlich nichts weiter, als sich weiterhin so vorbildlich zu beweisen, wie Sie bereits die vergangenen zwanzig Jahren unserem Unternehmen loyal und kompetent zu Diensten standen. Letztlich entscheidet Ihr Vorarbeiter, wer für die Garantiegruppe vorgeschlagen wird. Wie gesagt, jeweils ein Geselle und ein Lehrling aus einem Team. Das sind die Bedingungen und letztendlich wird die Geschäftsführung von Harland & Wolff entscheiden“, sagte Mr. Andrews.
Nachdem Thomas Andrews sich wieder verabschiedet hatte und mit seiner Nobelkarosse in einer Staubwolke davon gebraust war, heizten die Dudelsackklänge, Handtrommeln und die Fiedelspieler das Hochzeitsfest wieder ein.
Jetzt war es dunkel geworden und die meisten Gäste versammelten sich um das große Lagerfeuer, welches mitten auf dem Hof entfachtet wurde.
Bob eilte aufgeregt zu seiner Ehefrau, die auf ihrem Stuhl alleine sitzen geblieben war und die ganze Zeit sehnsüchtig hinübergeschaut hatte. Die Aufregung war für die übergewichtige, asthmakranke Marybeth einfach zu viel gewesen. Sie kämpfte immer noch gegen einen erneuten Hustenanfall. Bobs Augen funkelten, als er vor ihr niederkniete und ihre Hand hielt.
„Mary, stell dir mal vor“, flüsterte er. „Du und die Kinder, wir alle werden mit der Titanic nach New York fahren.“ Er hielt seinen Finger auf dem Mund. „Aber … Pscht! Sag es niemanden.“
Marybeth blickte ihn ungläubig an.
„Was erzählst du mir da für einen Unsinn, Bob?“
Wieder hielt Bob seinen Finger auf dem Mund.
„Ike ist mein Vorarbeiter und mein bester Freund. Er wird mich vorschlagen, Mary. Er wird mich sogar ganz gewiss für die Garantiegruppe vorschlagen! Und dann werden wir eine kleine Urlaubsreise nach Amerika unternehmen, auf dem luxuriösesten Schiff der Welt, was wir uns eigentlich nie hätten leisten können. Du wärst in bester Gesellschaft, schließlich wird Eloise ebenfalls mitfahren“, versprach Bob seiner Ehefrau euphorisch.
Unterdessen spazierten Henry und Ike auf dem Feldweg, um ungestört zu plaudern. Sie blieben stehen. Am Himmel leuchteten die Sterne sowie der Halbmond. Eine Sternschnuppe huschte über das Himmelszelt.
Von dort aus sahen sie das helle Flackern des Lagerfeuers und die Musik dudelte dezent hervor. Henry blickte ihn vorwurfsvoll an. Er warf Ike vor, dass er die Sympathie von Mr. Andrews nur deswegen gewonnen hatte, weil er ihn offensichtlich zu oft kontaktierte. Er warf ihm Arschkriecherei vor. Halte dich von den Hauptakteuren soweit es geht fern, hatte er ihn aber zu Missionsbeginn ermahnt.
„Ist dir eigentlich klar, dass du soeben jemanden um sein Schicksal gebracht hast? Zugegeben wird es denjenigen erfreuen, denn alle acht Männer und auch die Lehrlinge, zuzüglich Mister Andrews, die der Garantiegruppe zugehörten, sind mit der Titanic untergegangen. Nicht einmal ihre Leichen wurden geborgen. Nun wird einer von ihnen nicht dabei sein und leben, weil du stattdessen mitfährst!“, fauchte Henry ihn an.
Ike beteuerte, er habe diese Entscheidung nicht heraufbeschworen und soweit es überhaupt möglich war, wäre er Mr. Andrews stets aus dem Weg gegangen. Aber Mr. Andrews ist nun mal sein direkter Vorgesetzter, mit dem er zwangsweise Kontakt haben müsste. Ike versicherte ihm, dass er nicht einmal von einer Garantiegruppe etwas gewusst hätte.
„Henry, ich bezweifele, dass es diese Garantiegruppe überhaupt gegeben hatte. Davon ist mir nämlich nichts bekannt. Vielleicht erwähnte ich einmal in seiner Gegenwart irgendetwas von Reparaturen auf hoher See, woraufhin ihm diese Idee in den Sinn kam. Falls ich das getan habe, dann aber unbewusst!“, beteuerte er.
Henry aber schüttelte mit dem Kopf und überreichte ihm einen Zettel.
„Lies das. Mit dir hat das gar nichts zu tun. Diese Garantiegruppe hatte es tatsächlich gegeben. Das sind die Namen dieser auserwählten Crew.“
Henry überreichte ihm praktisch eine Todesliste. Ike schluckte, denn die meisten Männer kannte er flüchtig. Alle, zuzüglich Thomas Andrews, waren dem Tode geweiht. Hastig sog er die Zeilen auf und als er die Namen zwei seiner Teammitglieder las, weitete er entsetzt seine Augen. Die Namen lauteten: Bob McMurphy und Aaron O’Neill.
„Okay Henry, jetzt haben wir das Schicksal in der Hand. Es lässt sich nicht mehr vermeiden. Da ich nun aus meinem Team dabei sein werde und einen Platz einnehmen soll, darf ich nur einen von ihnen auswählen.“
Ike seufzte, seine Entscheidung fiel ihm gewiss nicht leicht.
„Lass mich Bob mitnehmen und Aaron bleibt am Leben. Dafür wird der Bengel mich zwar hassen, aber nur bis zu dem Tage wenn er in der Zeitung liest, dass die Titanic im Nordatlantik versunken ist und jeder aus der Garantiegruppe ums Leben kam.“
Henry schloss seine Augen und schüttelte sachte mit dem Kopf.
„Nein, du wirst den Bengel vorschlagen. Aaron wird bei dieser Garantiegruppe dabei sein und mit dir gehen. Bob wird derjenige sein, der nicht mit der Titanic untergeht.“
„Aber wieso?“, fragte Ike empört. „Bob ist mir zwar wie ein verrückter Bruder ans Herz gewachsen, mit dem ich schon einigen Scheiß durchgestanden habe, aber Aaron hat doch noch sein ganzes Leben vor sich! Und was ist mit Aarons Mutter? Sie musste erst vor wenigen Jahren ihren Ehemann begraben! Und nun auch ihren geliebten Sohn? Das können wir doch nicht zulassen!“
Henry blickte ihn ernst an.
„Der Vorstand der Sicherheitszentrale hat dies entschieden, und der Staatspräsident Hendrik Klaasen hat diesen Beschluss bereits abgezeichnet. Es hat einen triftigen Grund, weshalb Bob McMurphy unbedingt nicht mit der Titanic fahren soll, aber ich darf dich darüber nicht aufklären, sonst würdest du etwas über deine Zukunft erfahren. Das Schicksal muss seinen Lauf nehmen. Genauso wie die Titanic sinken muss, muss auch der junge O’Neill untergehen.“
Ike war sichtlich aufgewühlt, trat einige Schritte zurück und blickte ihn erbost an. Henry aber blieb kühl und gelassen. Solch eine Reaktion war er genügend von seinen Schleusern gewohnt, die jahrelang in einem fremden Jahrhundert lebten und plötzlich erfuhren, dass ein ihrer Freunde etwas zustoßen müsste, damit die Weltgeschichte sich nicht verändert.
Ikes Auftrag lautete, erschaffe dir einen Freundeskreis und suche dir eine Lebenspartnerin, wobei die persönlichen Empfindungen dringend außer acht gelassen werden sollten. Wenn er darüber geschlafen hat, wird er sich schon wieder besinnen, war Henry davon überzeugt. Oder hatte die Psychologin Dr. Heinzmann etwa Recht als sie behauptete, Ike van Broek wäre nicht der geeignete Schleuser für diese Mission?
Allmählich brach die Nacht ein. Am Scheunentor hatten die Knaben Fackeln aufgestellt und schossen unermüdlich mit Justins Armbrustpistole auf die Dartscheibe. Kindliches Jubelgeschrei ertönte. Die etwas Älteren wie Aaron, Paddy und weitere Jugendliche standen hinter der Scheune, pafften heimlich Zigaretten und unterhielten sich über die neusten Waffen und über Automobile. Aaron wurde von ihnen beneidet und sie sahen auf ihn auf, weil er an der Titanic arbeitete, von dem Schiff ihre Väter jeden Tag am Abendtisch stolz erzählten. Dieses Ansehen genoss Aaron.
Einige junge Fräuleins ihres Alters saßen Abseits auf dem Lattenzaun und belauschten heimlich ihre Gespräche. Sie tuschelten miteinander und machten sich über die Interessen der Jungs lustig.
Als Aaron das blonde Mädchen erblickte, die mit der Schleife im Haar, schaute er sofort weg. Zwar hätte er sie sehr gerne kennen gelernt, aber leider waren gerade die Jungs um ihn herum, denen die Gegenwart der Mädchen sichtlich nervte. Also war es momentan nicht ratsam, die junge Dame um ein Rendezvous im McEnreys Maisfeld zu bitten, um rumzuknutschen, wenn er von den anderen Burschen nicht ausgelacht werden wollte.
„Verschwindet, ihr albernen Hühner! Ihr stört uns nur. Geht doch Gummihopsen oder häkeln!“, rief Paddy ihnen verärgert zu.
„Brumm-Brumm! Peng-Peng!“, antworteten die Mädchen giggelnd und machten sich weiterhin über die Jungs lustig.
Aaron schmunzelte abfällig und zog seine aufgebrachten Kumpels beiseite.
„Lass sie doch, Paddy. Was wissen die schon vom wirklichen Leben, wie es heutzutage eigentlich zugeht?“
Aaron trat vor ihnen und paffte angeberisch.
„Ich arbeite auf der Titanic, und was macht ihr so? Etwa noch zur Schule gehen?“, fragte er grinsend und glaubte damit, Eindruck zu schinden, jedenfalls vor der blonden Schönheit, die ihm sehr gefiel.
„Brumm-Brumm! Peng-Peng! Tut-Tut!“, entgegneten sie ihm kichernd, woraufhin die jungen Damen Aaron schallend auslachten und er betrübt abmarschierte.
Plötzlich zischte eine Feuerwerksrakete hinauf und zerplatzte farbenprächtig am dunklen Himmel. Wie ein Gewehrknall schallte es durch die Luft. Henry und Ike schauten zugleich nach oben. Im sternenklaren Himmelszelt zerbärsten rote und grüne Funken, die wie Kometenschweife auseinander platzten und in der Dunkelheit verglühten. Vom Weiten erblickten sie Eloise am Lagerfeuer, die scheinbar ihre Hochzeitshaube wieder aufgesetzt hatte, weil ihr meterlanger Schleier umherschwebte. Sie lachte laut und schwankte leicht herum.
„Liebes sollte in ihrem Freudentaumel aufpassen, dass ihr Schleier nicht Feuer fängt und sie letztendlich noch abfackelt“, brummelte Ike besorgt.
In ihrem Hochzeitskleid wirkte Eloise wie ein beschwipster Engel, weil sie torkelnd um das Lagerfeuer tanzte. Eine weitere Feuerwerksrakete zischte hinauf und tunkte den Abendhimmel abermals kurzzeitig in rote und helle Strähnen, mit einem darauffolgenden Knall. Ike ahnte, welcher Lausbub diese Feuerwerkskörper angezündet haben könnte und diesmal war er darüber nicht wie gewohnt verärgert, diesmal blutete ihn dabei das Herz.
„Okay, alles klar Henry … Aaron wird also sterben müssen“, sprach er bedrückt und beobachtete mit offenem Mund, wie die Farben am Nachthimmel erloschen. Henry erläuterte seine Entscheidung nicht weiter, dafür hatte er seine Gründe und Ike musste dies hinnehmen. Aber wie sollte Ike es bloß Bob schonend beibringen, dass er ihn nicht für die Garantiegruppe vorschlagen wird? Dafür würde ihn Bob sicherlich hassen. Wahrscheinlich würde sogar ihre Freundschaft daran zerbrechen. Und wie sollte er jemals wieder Mrs. O’Neill aufrichtig in die Augen schauen können, mit dem Gewissen, dass diese junge Frau auch bald ihren geliebten Sohn verlieren wird? Ike atmete schwermütig auf. Er war nun gezwungen, zwei schicksalhafte Entscheidungen zu verkünden, die für jeden dramatisch enden wird. So oder so.
Foto: Thomas Andrews 7. Februar 1873 – 15 April 1912
Nach Zeugenaussagen hatte Mr. Thomas Andrews die Evakuierung tatkräftig unterstützt. Er wurde zuletzt im Rauchsalon der Ersten Klasse gesehen, wobei er apathisch wirkte. Thomas Andrews trug keine Rettungsweste. Seine Leiche wurde nie geborgen.