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44 Seiten

Geister

Romane/Serien · Schauriges · Herbst/Halloween
© Arathas
Tiffany erwachte.
Einen Moment lang schwammen die Bilder vor ihren Augen, verzogene, verzerrte Masken des Entsetzens, bis sie verloschen und nur einen Hauch der Erinnerung zurückließen. Der Alptraum war vorüber, und das Mädchen merkte, daß es in seinem Zimmer lag, in seinem Bett. Es gab keinen Grund, noch mehr Angst zu empfinden.
Regen prasselte von draußen an die Fenster, erzeugte ein wohliges und vertrautes Geräusch, ganz im Gegensatz zu dem seltsamen Gefühl, das Tiffany erneut überkam. Es war, als würde sie in einem Raum voll mit Menschen sein, jedoch eine Augenbinde und Ohrenstöpsel tragen und nichts von alledem mitbekommen. Ganz so, als wäre sie nicht allein in ihrem Zimmer...
Das Trommeln der Regentropfen wurde heftiger, und Tiffany dachte bedrückt, daß es sich anhören würde wie kleine Fäustchen, die gegen die Scheibe hämmerten und um Einlaß flehten. Sie stieg aus dem Bett und wollte die Vorhänge zuziehen.
Plötzlich krachte ein Donner über ihrem Haus, ohrenbetäubend und so laut, daß das Mädchen in Todesangst zurückzuckte. Vom Fenster her leuchtete es hell. Das Flackern eines gewaltigen Blitzes ließ die Nacht zum Tage werden.
Tiffany wandte sich geblendet ab und sah direkt ins Gesicht eines kleinen Kindes. Es war fast durchscheinend, als wäre es aus feinstem Stoff gewebt, und schien von innen heraus zu schimmern. Seine Augen waren traurig, doch seine Züge waren versteinert und in einer Maske des Todes erstarrt.
Das Mädchen schrie auf und sprang nach hinten, riß sich an einer Bettkante die Haut auf, und fiel auf das Bettlaken. Etwas schien dabei durch sie hindurchzugleiten. Es war wie ein kalter Hauch, eine kühle Brise, die einen völlig durchdrang.
Entsetzt sah das Mädchen, daß sie in einer alten Frau zu sein schien, die genau dort lag, wo sie gestürzt war. Es kribbelte überall in ihr, und sie schlug mit den Armen um sich und trat wie verzweifelt, um wieder vom Bett zu gelangen. Das Gefühl des eisigen Hauches verschwand, sobald sie sich aus der Frau gelöst hatte. Auch die Alte, die dort anscheinend ruhig lag, schien nur aus seidenem, dunstblauem Papier zu bestehen, durch das man beinahe sehen konnte. Es lag ein Knistern in der Luft, und die Augen des Wesens betrachteten Tiffany sehnsüchtig.
Halb ohnmächtig vor Angst zwang das Mädchen sich, aufzustehen, und als sie sich umblickte, erkannte sie überall um sich herum durchscheinende, hellblaue Gestalten, die in ihrem Zimmer verweilten, saßen oder lagen. Manche von ihnen standen einfach nur da und taten gar nichts, so wie der Mann mittleren Alters, der vor ihrer Tür Aufstellung bezogen hatte und auf seine eigenen Hände sah. Andere blickten unsicher von einem Punkt zum nächsten, oder irrten ziellos durch den Raum.
Geister, ging es Tiffany durch den Kopf. Das sind Geister! Aber wieso zum Teufel sind sie hier? Was tun sie hier?
Der Junge, dem sie als erstes in die Augen geblickt hatte, betrachtete sie mit einem verständnisvollen Blick. Er öffnete den Mund, doch anstatt Worten entfloh nur eiskalte Luft seinen Lungen. Seine Konturen waren weicher geworden, und seine Umrisse verschmolzen mit den Schatten. Kopfschüttelnd setzte er sich zu Boden, das tote Fleisch auf dem Teppich ausruhend.
Sie verschwinden wieder, dachte Tiffany bei sich. Ja, sie verblassen mehr und mehr... aber woher kamen sie so plötzlich, und wohin gehen sie?
Langsam zerflossen all die geisthaften Erscheinungen wieder, die um sie herum aufgetaucht waren, und nach einer Weile stand sie nurmehr allein in ihrem Zimmer da. Regen prasselte noch immer gegen die Scheibe, und weiter weg zuckten die Blitze hernieder. Donnergrollen verschluckte die Laute des Wassers und verlor sich in der Ferne.
"Das... das muß ein Traum sein..." murmelte das Mädchen und ließ sich auf ihr Bett fallen. "Oder ich werde verrückt..."
Sie klammerte sich in ihre Decke, und die Kälte wich ihr nicht aus den Gliedern. Sie befürchtete, daß sie vielleicht nie wieder in ihrem Leben ein Auge zutun würde. Doch als der Adrenalinspiegel sank, wurden ihre Augen schwer, und sie fiel in einen tiefen, erholsamen Schlummer. Ihr Gehirn webte einen Traum um die Geschehnisse der Nacht, verflocht Wahrheit mit Lügen, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, dachte sie bei sich, was das doch für ein verwunderlicher Blödsinn gewesen war, den sie da zusammengeträumt hatte.

Lukas kritzelte einige Worte auf ein Blatt Papier. Die heutige Lesung war eine der wichtigsten des gesamten Semesters, und sogar Tiffanys schlauer - und unglaublich fauler - Bruder hatte sich aufgerafft, um in der Uni zu erscheinen.
Doch während der Professor irgendwo weit vorne, in einer anderen Welt, wie es dem Mädchen vorkam, Formeln erklärte, beschäftigten befremdliche Gedanken das Mädchen, und sie konnte sich nicht einmal teilweise auf den Stoff konzentrieren.
Als sie am Mittag in der Mensa mitanhörte, wie ihr Bruder und ihr Freund wieder einmal einen Streit vom Zaun brechen wollten, durchzuckte sie die Erinnerung der vergangenen Nacht. Sie bekam zu greifen, was Realität gewesen war, und was Einbildung, und ihr rasches Erblassen entging nicht einmal den beiden Streithähnen.
"Tiff? Tiff, was hast du?" fragte Thomas und umschloß sie mit den Armen. In seinen Augen spiegelte sich Besorgnis wieder. "Ist dir schlecht?"
"Natürlich ist ihr schlecht" schaltete sich Marion, die Freundin von Lukas, in das Gespräch ein. "Ich würde bei dem Nudelfraß hier auch am liebsten kotzen. Ich frage mich sowieso, warum die das nicht wie in Flugzeugen machen und hier überall so kleine Kotztüten hinten an die Stühle heften" grinste sie.
Mit einem wütenden Blick gebot Thomas ihr, zu schweigen, und wandte sich wieder seiner Freundin zu. "Tiff? Was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen..."
Als Tiffany das Wort Geist vernahm, schüttelte sie sich und wand sich aus den Armen des jungen Mannes. Ihre blonden Haare fielen ihr über's Gesicht, und sie warf den Kopf zurück, um wieder etwas sehen zu können.
"Es tut mir leid" sagte sie zitternd. "Aber... ich hatte einen schrecklichen Traum letzte Nacht, und gerade kam die Erinnerung daran wieder hoch. Laßt mich ein wenig allein, bitte." Mit diesen Worten war sie auch schon vom Tisch verschwunden und hinterließ drei fragende Studentengesichter.
"Seltsame Sache, das" ließ sich Lukas vernehmen, als sie sich wieder gesammelt hatten. "So kenn' ich sie gar nicht."
"Ich auch nicht" flüsterte Thomas nachdenklich. "Es muß wirklich ein schlimmer Alptraum gewesen sein..."
Marion schüttelte den Kopf und fragte: "Wart ihr beiden denn letzte Nacht nicht zusammen?"
"Nein, ich war bei meinen Eltern... so eine Geburtstagsfeier, wo ich hingehen mußte, na, du weißt schon... Tiff war allein in ihrer Wohnung."
"Meinst du, wir sollten mal nach ihr sehen?"
"Sie ist ein starkes Mädchen. Sie wird auf mich zukommen, wenn sie Hilfe braucht. Ansonsten kommt sie schon drüber weg."
"Du machst dir ja Riesensorgen um deine Freundin" bemerkte Lukas schmunzelnd und schob sich eine Gabel voll breiiger Nudeln in den Rachen. Er schluckte, hustete und spülte sich den Geschmack mit einem Glas Wasser aus dem Mund. "Obwohl ich sie hätte verstehen können, wenn sie wegen des Essens so kreidebleich geworden wäre..."

Später am Abend, Tiffany hatte sich bis zur Schließung der Bibliothek in selbiger aufgehalten, Bücher durchstöbert und dicke Wälzer durchblättert, befand sie sich in der WG ihres Bruders. Lukas konnte zwar manchmal ein ziemliches Arschloch sein, aber er war auch schlau, und wenn es drauf ankam, sogar sensibel.
"Also erzählst du mir nun, warum du hier bist, kleine Schwester, oder möchtest du noch einen Kaffee?" Er richtete seinen Finger andeutungsweise in Richtung eines kleinen Schränkchens, wo ungespülte Kaffeetassen ihr trauriges Dasein fristeten. Beim Gedanken an die braunen Böden, wo an so manchem noch ein Löffel festklebte, schüttelte das Mädchen sich und beglückwünschte sich innerlich wieder einmal zu ihrer Entscheidung, eine eigene Wohnung bezogen zu haben und keine WG. Vor allem keine mit Männern.
Sie nickte leicht und verzog das Gesicht. "Bitte lach nicht, Lukas. Was ich dir sagen möchte, wird sich bestimmt komisch anhören, aber es frißt mich innerlich auf, wenn ich es für mich behalte!"
"Warum erzählst du es nicht Thomas?" fragte ihr Bruder mißtrauisch. "Immerhin ist er dein Freund."
"Er ist aber kein solches Physikgenie wie du" stellte sie fest und wußte, daß sie Lukas damit an der Angel hatte. Wenn man ihm einmal Honig ums Maul geschmiert hatte, konnte er gar nicht aufhören, zu lecken. Jetzt war seine männliche Ehre geweckt, und er war ganz Ohr.
"Ich habe heute Nacht eine..." sie zögerte, um nicht das falsche Wort zu benutzen. "... eine Erscheinung gehabt."
"Hast du Gott gesehen?" fragte Lukas lächelnd.
Sie hatte doch das falsche Wort benutzt. "Nein, Lukas. Nein!"
"Was denn dann?"
"Andere Frage: Kennst du dich mit elektromagnetischer Strahlung aus?"
"Natürlich. Immerhin war das eines der Themen meiner--"
"Und diese Strahlung geht auch von menschlichen Körpern aus?"
Lukas zuckte die Achseln. "Sie geht nicht nur von uns aus. Wir werden sozusagen von Elektronen zusammengehalten. Alle Moleküle unseres Körpers."
"Und was passiert, wenn wir sterben?"
Der junge Mann zog eine Augenbraue hoch und schürzte die Lippen. "Wie meinst du das?"
"Ich meine, na ja, was passiert mit diesen Strahlen, diesem Elektrozeugs, wenn wir sterben? Löst es sich auf oder was?"
"Keine Ahnung, es... ja, es zerfällt zusammen mit den Molekülen unseres Körpers, schätze ich."
"Schätzt du?" Ihr Tonfall war abfällig und kränkte seine Ehre als allwissender Schlaukopf. Dennoch hielt er sich dieses Mal mit einer Bemerkung zurück. Er nickte nur zögernd.
"Also könnte es sein, daß all dieses Elektro-Dingsbums, was wir in uns haben - Verzeihung, woraus wir bestehen - auch nach unserem Tod noch weiterbesteht?"
"Was soll das alles mit dieser Erscheinung zu tun haben, Tiff?"
"Beantwortest du bitte meine Frage?"
"Also gut. Möglicherweise, ja. Möglicherweise bleiben Reste übrig..."
"So als wenn einem Menschen ein Arm fehlt, er ihn aber noch immer spüren kann?"
"Das ist zwar eigentlich etwas völlig anderes und hängt mehr mit der menschlichen Psyche zusammen, aber: Ja!"
"Glaubst du an Geister?"
Lukas schluckte. "Du hast einen Geist gesehen?"
"Ungefähr fünf. Heute Nacht in meinem Zimmer."
"Heute Nacht?"
"Ja, ich..."
Lukas streckte die Hand abwehrend von sich und schien zu überlegen. "Heute Nacht, als dieses Gewitter direkt über uns hinwegzog?"
Tiffany wollte nicken, doch nun, als ihr Bruder sie darauf hinwies, fand sie endlich das lose Ende, das ihr noch gefehlt hatte. "Ich glaube, ein Blitz ist bei mir eingeschlagen! Gekracht, als würde das Haus einstürzen, hat es jedenfalls!"
"Und dieser Blitz versetzte das Haus in eine bestimmte elektromagnetische Schwingung..." ließ sich Lukas vernehmen.
"... wodurch das Elektrozeugs, woraus die Geister bestehen, sichtbar wurde!" vollendete Tiffany den Satz genüßlich. "Ich bin also nicht verrückt!"
"Nein, nicht verrückter als sonst auch." Lukas schien ins Grübeln geraten zu sein. "Wir müssen unbedingt Thomas und Marion davon erzählen!"
"Das wollte ich, aber--"
"Zu viert könnten wir ihn tragen... obwohl wir noch eine fünfte Person bräuchten, die Schmiere steht..."
Lukas Gehirn dachte mal wieder um Längen zu schnell für Tiffany, und so trat sie ihm auf den Fuß. Er blickte sie verstört an.
"Was ist los? Was denkst du?" wollte sie wissen. Nicht genug, daß sie ihm gerade etwas erzählt hatte, wofür er sie auch leichthin als blöde hätte erachten können... Nein, zwei Sekunden später war er schon wieder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt!
"Nichts. Es ist nichts, mir... kam da nur gerade eine blendende Idee für einen wissenschaftlichen Versuch, der mir bestimmt die Diplomarbeit sichern würde..."
"Und es hat etwas damit zu tun, daß ein Blitz Geister sichtbar machen kann?" fragte Tiffany vorsichtig und nicht wenig besorgt.
Lukas grinste übers ganze Gesicht. "Das ist hier die Frage" sagte er schelmisch.

"Und glaubst du nicht, daß sie vielleicht etwas von dir wollten?" fragte Thomas, als Lukas und Tiffany ihm und Marion die Neuigkeiten beigebracht hatten.
"Was sollten sie denn von mir wollen?" wunderte sich Tiffany.
"Vielleicht eine Maske gegen Elektro-Smog" scherzte Marion und erntete einen vernichtenden Blick von Lukas' Seite.
"Ich meine, wie in diesem Film" gab Thomas zu bedenken. "Du weißt schon, The Sixth Sense, wo der kleine Junge die Geister sehen kann."
"Ja, und?"
"Na, er muß ihnen doch helfen, damit sie ihn in Ruhe lassen..."
Lukas schnalzte mit der Zunge. "Die Geister haben sich in unserem Fall ja nicht gezeigt, weil sie auf Tiffany zugegangen sind, Tommy. Sie wurden allein durch die elektromagnetische Aufladung sichtbar gemacht. Möglicherweise konnten sie Tiff gar nicht sehen!"
"O doch, das konnten sie" sagte das Mädchen mit einem Schaudern, als sie sich zurückerinnerte. "Da war ein kleiner Junge, direkt neben mir, und es hatte den Anschein, als würde er mit mir reden... aber alles, was ich spürte, war ein kalter Hauch."
Thomas umschloß sie mit den Armen und drückte sie fest an sich. "Keine Angst, es ist ja vorbei."
Sie bedachte ihren Freund mit einem abschätzenden Blick und meinte bloß: "Ich habe keine Angst, Tom!" Sie schüttelte leicht verärgert den Kopf. "Nicht, seitdem ich weiß, daß sich das alles wissenschaftlich begründen läßt."
"Halt!" Lukas hob das Haupt. "Das gilt es erst noch herauszufinden."
"Was hast du vor?" fragte Thomas. "Ich kann es mir schon vorstellen... du willst es wie bei "Zurück in die Zukunft" machen und bei einem Gewitter einen Blitz ableiten, genau dahin, wo du ihn brauchst, nicht wahr?"
"Ich glaube, du siehst zuviele Filme" entgegnete Marion schmollend.
"Nicht ganz so übertrieben." Lukas' Bart verschob sich zu einem Lächeln, das seine Zähne entblößte.
"Wenn du so schaust, dann siehst du richtig unheimlich aus" befand Thomas.
Tiffanys Bruder hob eine Augenbraue. "Das sollte ein verschwörerisches Grinsen darstellen" meinte er sachlich, und dann, in drückenderem, flüsterndem Ton: "Wir klauen uns den Blitz-Generator aus der Uni."
Jetzt war es an Marion, laut loszulachen. "Das ist ein Witz, oder?" brüllte sie fast, doch Lukas' Züge blieben ernst.
Auch Thomas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Ein Blitz-Generator? Was soll das denn sein, bitteschön?"
"Es ist ein Experiment, das die höheren Semester schon seit langem aushecken" sagte er. Und nicht ohne Stolz fügte er hinzu: "Ich arbeite ebenfalls daran. Es ist kein öffentliches Projekt, und es haben nicht viele Studenten Zugang dazu."
"Aber du hast Zugang..."
Wie zum Beweis steckte Lukas eine Hand in die Tasche und klimperte mit einem Schlüsselbund. "Ist natürlich kein Uni-Generalschlüssel" sagte er. "Damit kommen wir nur in den Raum, in dem am Generator gearbeitet wird. Der Rest... nun, das ist der schwierigere Teil. Und für den brauchen wir noch eine fünfte Person."

Nabby, Tiffanys beste Freundin, richtete die Taschenlampe auf einen stillen Gang. Der Lichtkegel fiel auf unsauberen Linoleumboden und ein paar Bänke an der Wand.
"Also hier sieht's gut aus" flüsterte sie und tapste anschließend leise um die Ecke, Tiffany, Lukas, Marion und Thomas ihr auf dem Fuße folgend. Ihre Stimme hallte noch ein wenig im leeren Flur wieder, da sie lauter gesprochen hatte, als beabsichtigt, doch um diese Uhrzeit hielt sich hier wohl wirklich niemand mehr auf.
"Wohin jetzt?"
"In den Keller."
"Ihr arbeitet im Keller?"
Lukas zückte eine mißbilligende Augenbraue wie ein Westernheld seine Pistole. "Und?"
Marion hob die Schultern und tat unschuldig. "Nur so" wisperte sie leise, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.
"Würdest du die Güte besitzen und mir verraten, was daran so witzig sein soll?"
"Nichts" erwiderte Marion. "Wirklich. Nichts. Es ist bloß... das ist alles wie in irgendeinem schlechten Film! Ihr arbeitet an einem angeblich hochgeheimen Projekt, und das auch noch im Keller..."
"Wenn du sonst keine Sorgen hast" murmelte Lukas, schüttelte den Kopf und ging sichtlich verärgert weiter.
"Das muß wahre Liebe sein" hauchte Thomas Tiffany ins Ohr, doch die hatte nur Augen für ihre Umgebung. Fast mutete sie wie ein erschrecktes Reh an, die Lauscher gestellt und auf jedes kleinste Geräusch und jede Bewegung achtend.
Schließlich war das, was sie hier taten, etwas, wofür sie alle von der Uni fliegen konnten, und, ehrlich gesagt, das konnte sich keiner von ihnen erlauben, außer vielleicht Lukas, der überall anders sofort wieder aufgenommen worden wäre oder möglicherweise sogar mit einer Verwarnung davonkäme. Allein die Idee, sich hier zu verstecken, am Wochenende, spät am Samstagabend, wo sie eigentlich alle in einer Bar hocken und leckere Cocktails schlürfen könnten, mußte von ihrem Bruder stammen. Niemand anders würde sich freiwillig so gut auf eine derartige Aktion vorbereiten. Tiffany verdrehte die Augen, als ihr einfiel, daß er sogar an Getränke, Proviant und ein Kartenspiel gedacht hatte, damit sie sich die Zeit vertreiben könnten.
Hoffentlich nahm diese Sache ein gutes Ende... obwohl das Mädchen nicht mit Sicherheit sagen konnte, welches Ende das bessere wäre...
... wäre es ihr lieber, wenn sie entdeckt würden und niemals auch nur in die Nähe des Blitz-Generators gelangten, oder wenn sie ihr Ziel tatsächlich erreichten und das Gerät stehlen könnten?
Unsanft wurde sie von den Lauten ihrer eigenen Schuhe auf Holzboden aus ihren Gedanken gerissen, als sie merkte, daß die anderen vier bei der letzten Abzweigung nach rechts abgebogen waren. Noch ehe sie sich's versah, fand sie sich im Dunkeln wieder. Ein paar Oberlichter spendeten spärliche Helligkeit von draußen, doch dieser mondlose Schein war fast noch unheimlicher als völlige Finsternis. Dadurch, daß das Licht nicht ganz abwesend war, traten die Schatten aus den Ecken und Nischen hervor, und jede Bank schien zu einem düsteren Arm zu werden, der nach ihr Griff, jedes Bild an der Wand zu einer boshaften, grauen Kritzelei.
Tiffany hätte am liebsten nach ihren Freunden gerufen, doch die Angst, daß sie jemand falsches hören könnte, war zu groß.
Schnellen Schrittes ging sie über den Holzboden zurück, hörte das leise Klappern ihrer Absätze auf den Dielen. Scheiße, warum hatten die anderen nicht gemerkt, daß sie geradeaus weitergelaufen war? Oder spielten sie nur einen Streich mit ihr? Vielleicht gab es ja gar keinen Blitz-Generator, und dieser ganze Klamauk sollte dazu dienen, sie von ihrem Geisterwahn zu heilen.
Sehr witzig, dachte sie nur und spähte um die nächste Ecke. Warum hatte eigentlich Nabby die Taschenlampe? Und warum hatten sie nur eine einzige mitgenommen?
Der neue Gang bot sich ihr so leer dar wie die schwarzen Augenhöhlen eines Totenkopfes. Tief einatmend ging sie weiter und schrak mit Entsetzen zurück, als ein Vorhang an der Wand sich leicht wölbte. Es sah aus, als wolle sich jemand dahinter verstecken, und hätte die Bewegung nur eine Sekunde länger angehalten, hätte Tiffany geschrien. Doch der Vorhang glitt zurück an die Wand, und das Mädchen bemerkte erleichtert, daß es nur der Wind war, der sich durch ein gekipptes Oberlicht zwängte und mit dem Stoff spielte.
Plötzlich hörte sie weit vor sich ein Kichern, und als sie in dem Verursacher des Lautes Marion erkannte, legte sie seufzend einen Zahn zu und hatte ihre Freunde bald eingeholt.
"Sagt mal, habt ihr sie nicht mehr alle? Ihr könnt mich doch hier nicht allein lassen!"
"Ich..." stammelte ihr Bruder überrascht und lächelte verwirrt. "Ich habe es nicht gemerkt..."
"Was? Hat denn keiner von euch Idioten gemerkt, daß ich nicht mehr da war?" fragt sie fast hysterisch. Es hätte ja immerhin sonstwas passieren können.
"Hey, reg dich nicht so auf, Kleines" beruhigte Nabby sie und drückte das Mädchen fest an sich. "Du warst nicht mal eine halbe Minute weg."
"Eine halbe Minute?" sagte Tiffany selbstversunken. "Es kam mir vor wie eine Ewigkeit..."
"Können wir weitergehen?" fragte Thomas genervt und trappelte leichtfüßig die Treppe hinunter. Nicht weit entfernt von ihrem Fuße fanden die Freunde dann auch schon den Raum, in dem das begehrte Objekt lagerte.
Mit erwartungsvollen Blick schloß Lukas die Tür auf und ließ sie nach innen gleiten. Nabby leuchtete mit der Lampe in den dahinterliegenden Raum.
"Scheiße!" brachte Thomas erstaunt hervor. "Das Ding gibt's tatsächlich!"
Vor ihnen lag, inmitten eines Chaos' aus Schrauben, Schraubenziehern, Schlüsseln und kleinen Metallteilen, verhüllt von einem weißen Laken, eine große Maschine.
Lukas zog den Stoffetzen mit einem schnellen Schwung hinfort.
"Erinnert mich irgendwie an ein tragbares Stromaggregat" meinte Thomas nachdenklich und beguckte das Ding von allen Seiten. "Bis auf diese Eisenstange hier natürlich..." Er deutete auf einen schlanken Stab, der sich seitlich an der Kiste befand.
"Es ist auch teilweise eine" sagte Tiffanys Bruder. "Der Generator hat eine eigene, interne Stromversorgung und läuft mit Benzin. Wir haben hier ein paar Kanister voll im Schrank stehen, davon werden wir einfach einen mitgehen lassen."
"Und wie funktioniert er?" verlangte Marion zu wissen. Auch sie bewunderte die Konstruktion, die mit ihren kleinen Glaskolben zerbrechlich und fremd aussah.
"Ich glaube, jetzt ist wirklich nicht die Zeit, darüber zu reden!"
Thomas legte den Kopf schief. "Warum probieren wir ihn nicht einfach hier aus? Wieso willst du ihn denn überhaupt stehlen, Lukas?"
Lukas rollte mit den Augen. "Weil das Ding einen Heidenlärm macht, mein Lieber. Damit könntest du die halbe Stadt aus den Federn holen."
"Darf ich mal etwas fragen?" meldete sich Nabby zu Wort. Sie hatte bisher dicht bei ihrer besten Freundin gestanden und hielt deren Hand.
Lukas gab ihr zu verstehen, daß sie durfte.
"Ihr habt das Teil doch bestimmt schon mal getestet, oder?"
"Na klar. Und?"
"Ja, habt ihr denn da Geister gesehen?"
Kurzes Schweigen schloß sich auf diese Frage an.
"Nein, natürlich nicht" antwortete Lukas dann aber entschlossen. "Wir haben ihn nur am Tage getestet. Und ich denke mal, daß sich Geister bloß in der Nacht zeigen..."
"Klingt logisch" gab Nabby, die eigentlich Nathalie hieß, den Namen aber haßte, zu. "Also loß, Leute! Tragen wir ihn hoch!"
Sie öffnete einen Schrank, nahm einen der Benzinkanister hervor, drückte ihn Tiffany in die Hand und packte dann selbst an eine der Eisenstangen, die zum Tragen des Gerätes dienten. Auch die anderen faßten mit an, und als Tiffany sich die Taschenlampe griff und in den Gang hinausging, durchschauderte sie ein seltsames Gefühl. Irgendetwas gefiel ihr nicht an dieser Sache, doch sie konnte ihre Gedanken nicht zu fassen bekommen. Ein Stirnrunzeln später hatte sie die Tür zum Raum 3B schon zugeschlagen und folgte ihren Freunden.

"Das hier ist der eigentliche, komplexe Teil der Maschine. Der Teil, wo die Entladungen stattfinden" sagte Lukas und zog vorsichtig eine Plastikröhre aus dem Generator nach oben, die sich wie die ausziehbare Antenne eines Autos verlängerte, am Grunde noch dick war wie eine Coladose und in der Spitze schlank endete. Glasfasern und Metallgewebe zogen sich wie ein Spinnennetz über das gesamte Gebilde und gaben ihm einen fremdartigen Ausdruck. Tiffany fühlte sich unwillkürlich an einen Zukunftsroman erinnert, sagte jedoch nichts. Lukas war viel zu sehr in seinem Element, als daß er ihre dummen Fragen beantwortet hätte.
"Und hier werden die Entladungen provoziert..." erklärte er weiter und deutete auf einen winzigen Generator. "Die Blitze werden nicht in dem Sinne erzeugt... sie werden einfach... na ja, stellt es euch so vor, als wenn die Sonne euch an der Nase kitzelt und ihr plötzlich nießen müßt. Der kleine Generator hier reizt die Materie nur, sich zum Blitz zu formen - er selbst tut eigentlich gar nichts, als bloß da zu sein. Und eine Unmenge an Strom zu fressen, weil er sich mit einer Geschwindigkeit dreht, daß ihr mit ihm ein U-boot betreiben könntet."
Staunend und auch leicht beunruhigt standen die Studenten in einer Lagerhalle, die Lukas eigens für dieses Unterfangen auserkoren hatte, da sie weitab von allen bewohnten Gebieten lag, mitten in einer Schutthalde aus alten Fabriktrümmern. Die Anfahrt hatte sich zwar als ein wenig schwierig erwiesen, doch nachdem die paar Metallstangen und Ziegel aus dem Weg geräumt waren, die sich im Laufe der Jahre auf den ehemaligen Straßen des Betriebsgeländes angesammelt hatten, waren sie endlich vor der perfekten Halle gestanden. Thomas hatte den besorgten Einfall zur Sprache gebracht, daß es hier vermutlich Penner gebe, die sich ihre Nachtlager in den verlassenen Gebäuden gebaut hatten, doch Lukas hatte auch diesen Beitrag mit einem Achselzucken abgetan. Was kümmerte es schon irgendwelche Penner, was ein paar Studenten hier ausprobierten, hatte er gefragt und gleichzeitig schon angefangen, den Generator aus dem Kofferraum des Kombis zu hieven.
Jetzt standen sie alle hier, versammelt um das ominöse Gerät, und selbst Lukas befiel eine klamme Ahnung von dem, was Tiffany schon seit Stunden spürte.
"Er ist soweit" sagte er unsicher und trat zurück. "Wir müssen ihn bloß noch anlassen und anschließend diesen Knopf dort drücken."
"Sonst gibt es nichts mehr zu beachten?" wollte sich Marion in einem plötzlichen Anfall von echter Sorge erkundigen.
Mit einem verklärten Unterton in der Stimme meinte Lukas: "Ihr solltet, wenn das Ding einmal läuft, nur noch die Teile der Maschine berühren, die extra gekennzeichnet sind. Das sind bloß die, die eine Gummiumhüllung haben, so wie die Knöpfe und das ganze Zeug. Kommt auf keinen Fall an irgendetwas metallenes, das leitet."
"Warum? Kriegt man dann einen Schlag?"
"Keine Ahnung, aber wir sollten es besser nicht ausprobieren. Das Ding ist bloß ein Versuch und kein perfekt abgedichtetes Anschauungsobjekt. Wenn es einmal läuft, sollten wir vorsichtshalber ein paar Schritte zurücktreten."
"Na wunderbar" flüsterte Nabby ihrer Freundin in's Ohr. "Wahrscheinlich fliegt uns das Ding gleich um die Ohren, und unsere verschmorten Leichen werden von so einem Penner gefunden..."
"Ich finde das überhaupt nicht witzig." Tiffany zuckte zusammen. "Schalt das verdammte Ding endlich ein, Lukas. Bitte! Ich will, daß es vorbei ist!"
"Willst du gar nicht wissen, was an der Geschichte mit den Geistern dran ist, die du gesehen hast?"
"Nein, da bin ich mir gar nicht mehr so sicher! Vielleicht sollten wir das ganze besser abblasen und nach Hause gehen, okay?"
"Jetzt aufgeben, wo wir so kurz vor dem Ziel sind" bekräftigte Tiffanys Freund Thomas deren Bruder und umklammerte das Mädchen sanft. "Du mußt dich nicht fürchten, ich passe schon auf dich auf."
"Ich meine das ernst, Thomas! Du kannst mich weder beschützen noch sonst irgendwas, wenn dieses... dieses Scheißgerät außer Kontrolle gerät!"
Betretenes Schweigen füllte die Luft, bis Lukas sagte: "Also, ich bin trotz des Risikos bereit, es zu tun. Stimmen wir einfach ab, wir sind ja zu fünft." Er hob seine rechte Hand, die sofort auf die Unterstützung von Thomas traf. Auch Marion streckte nach einigen Sekunden ihren Arm in die Luft und fing sich einen finsteren Blick von Nabby und Tiff ein.
"Das wäre also geklärt" nickte Lukas und faßte den Anlasser des Generators mit den Fingern. Er drückte mit dem Fuß auf ein Pedal und zog die Schnur mehrmals schnell nach hinten, bis ein anfängliches Stottern zu einem stetigen Dröhnen anschwoll und auch der Geruch nach Benzin die Luft schwängerte.
"Meine Güte, sind diese Dinger immer so laut?" schrie Tiffany, um den Lärm zu übertönen.
"Im Normalfall sind sie ein wenig leiser, aber der hier ist--"
"Nur für Versuchszwecke, ich weiß!" beendete Tiffany den Satz und hielt sich die Ohren zu.
"Okay, geht jetzt mal alle beiseite, wenn ich dieses Ding einschalte. Und hofft, daß wir ein paar Geister zu sehen bekommen!"
Lukas drückte einen von einer Gummischicht geschützten Knopf, und mit einem Mal erwachte der gesamte Generator zum Leben. Ein blaues Ding, das nicht größer als ein gebräuchliches Internet-Modem war, begann tief in den Eingeweiden der grotesken Maschine zu beben, und plötzlich zuckte ein kleiner Blitz in die Plastikröhre hinein und traf auf den oberen Rand des Deckels. Doch anstatt sofort wieder zu verschwinden, wie man es von normalen Blitzen erwartete, blieb dieser hier fast senkrecht stehen und wand sich schlangengleich von einer Seite auf die andere. Wenn man genau lauschte, konnte man sogar ein Summen am Rande des Hörvermögens wahrnehmen. Es klang, als stünde man ein Stück von einem elektrisch geladenen Zaun entfernt und höre nur leise die Spannung.
"Er läuft!"
"Ich sehe hier aber keine Geister" rief Thomas über den Lärm hinweg und entlockte mehreren der Anwesenden damit einen Stoßseufzer der Erleichterung.
Und nun blickten sie sich tatsächlich alle um, konnten jedoch nicht das entfernteste Anzeichen von papierdünnen, blaugezeichneten Wesen ausmachen. Lukas rief etwas zu Thomas, und gemeinsam rannten sie aus der Lagerhalle und suchten draußen nach geisthaften Erscheinungen. Doch die Zwischenwelt, sollte es sie denn geben, zeigte nicht einen einzigen ihrer Bewohner.
Enttäuscht schaltete Lukas die Maschine wieder ab und setzte sich neben sie auf den schmutzigen Boden. "Ich war mir sicher, daß es klappen würde. Ich war mir wirklich sicher!"
"Mach dir nichts draus, Bruderherz" tätschelte Tiffany ihn auf die Schulter. "Es funktioniert so einfach nicht. Mach dir nichts daraus. Vielleicht ist es besser so."
"Aber warum klappt es nicht? Warum konntest du sie sehen? Hat's am Ende doch nicht an der elektromagnetischen Aufladung gelegen?"
"Ich weiß es nicht. Und wir sollten uns auch keine Sorgen mehr darum machen, okay?"
"Hey Tiff" meldete sich Thomas abrupt zu Wort. "Hast du nicht mal erzählt, daß du die Wohnung so günstig bekommen hättest, weil es dort vor ein paar Jahren mal einen Hausbrand gegeben hat?" Ein seltsames Leuchten in den Augen ihres Freundes war der Grund, weshalb sie sich hätte ohrfeigen können, als sie mit "Ja" antwortete.
"Und wie spät haben wir es jetzt?"
"Halb elf" sagte Marion mit Blick auf ihre Digitaluhr. "Nicht unbedingt die Geisterstunde schlechthin."
Lukas blickte auf, als er hörte, wie sich neue Möglichkeiten eröffneten. "Das hatte ich vollkommen vergessen, kleine Schwester! Dort, wo du wohnst, brannte doch tatsächlich einmal die ganze Wohnung aus, oder? Und wieviele Leute kamen dabei ums Leben?"
"Keine Ahnung.... ich glaube, die ganze Familie. Ein defektes Kabel der Lichterkette setzte den Weihnachtsbaum in Brand..."
"Und die Geister, die du gesehen hast..."
"Ja. Ich weiß, was du meinst. Es könnten sie gewesen sein. Es hätte eine Familie sein können."
"Dann ist es das!" schrie Lukas auf und kam auf die Beine. "Genau das! Natürlich sehen wir hier keine Geister - weil es hier nämlich keine gibt!"
"Es gibt sie nur dort, wo Personen ums Leben kamen oder tote Körper begraben sind" flüsterte Thomas aufgeregt. "Ein Ort, wo die Entladungen der Wesen aus ihren einstigen Hüllen steigen und ruhelos umherziehen..."
Alle fünf wußten plötzlich, wohin es zu gehen galt. Tiffany schüttelte den Kopf.
"Das kommt nicht in Frage, Lukas. Thomas? Bitte hört auf damit, ja? Bis jetzt war das alles ja ganz witzig, aber irgendwo muß man die Grenze ziehen. Und die beginnt genau vor der Mauer des Zentralfriedhofes."
"Ach komm, hab dich nicht so! Ein Friedhof ist ein weitaus ungefährlicherer Ort als so manche Disco!"
"Und in manchem Discos bewegen sich diese Wave- und Trancevernebelten Hirnis wahrscheinlich weitaus weniger, als die Toten in ihren Gräbern es tun" scherzte Marion, doch Tiffany war empört.
"Wenn ihr das tut" meinte sie bloß, "könnt ihr das alleine machen. Ich werde nicht dabei sein. Schminkt euch das ab."
"Jetzt sei kein Spielverderber! Es ist die Gelegenheit, einmal nachts auf den Friedhof zu gehen!"
"Und was ist mit den Anwohnern? Hast du die etwa vergessen? Wenn wir diesen Generator dort anwerfen, sind zwei Minuten später die Bullen da!"
"Ach Quatsch, der Friedhof ist so groß, daß niemand im Wohngebiet den Generator hören wird, wenn wir weit genug hineingehen."
"Und die Toten werden wir schon nicht wecken."
"Ich dachte, genau das habt ihr vor?"
"Na ja... nicht in dem Sinne... nicht direkt. Du weißt doch, wie diese Geister sich verhalten haben, die du gesehen hast. Sie wollten dir nichts Böses. Sie sind einfach bloß da. Einfach nur so, einsam und verlassen. Laß uns ihnen einen Besuch abstatten, Tiff. Laß uns sehen, wohin uns das alles führt."
"O Gott..." murmelte das Mädchen, als sie sich entgegen all ihrer Befürchtungen doch noch von Lukas und Thomas' Argumentation breitschlagen ließ und ihnen half, den Blitzgenerator wieder in den Wagen zu tragen. "Bitte Gott, steh uns bei und laß die Toten in Frieden ruhen. Und laß uns ebenfalls wieder heil nach Hause kommen..."

Eine Eule verdrehte ihre Augen und spähte den ungeladenen Besuchern nach, die sich zu fast mitternächtlicher Stunde noch über den Friedhof stahlen. Die Bäume, allesamt knorrig und ohne Blätter zu dieser Jahreszeit, wirkten wie aus dem Boden wachsende Skelette, und fahler Mondschein drang durch vereinzelt vorbeiziehende Wolken.
Es wirkte düster und unheimlich und leider genau so, wie man sich einen Friedhof bei Nacht vorstellte, fand Tiffany bedrückt. Wie gerne wäre sie jetzt zu Hause gewesen, mit Thomas vor dem Fernseher oder eben auch alleine... nur nicht auf diesem verdammten Totenacker!
Tiffany war die einzige, die nicht mitschleppen mußte am Generator sondern hinter den vier anderen lief. Sie war noch nicht oft hier gewesen, nur einige Male, um ihre verstorbene Großmutter zu besuchen. Sie hatte diesen Ort als einen stillen, friedvollen Platz in Erinnerung, an dem man stumm seine Tränen vergießen konnte. Jetzt war ihr gar nicht nach Frieden oder Tränen zumute. Sie zitterte, als sie all die marmornen, schimmernden Grabsteine im Vorbeigehen betrachtete, die ihr Vorwürfe zu machen schienen, ihr sagen wollten, daß ihre Ruhe nicht gestört werden dürfe.
Bald hatten die fünf die Gruft in der Mitte des Zentralfriedhofes erreicht und stellten das schwere Gerät erleichtert auf die feuchte Erde. Ihre Gesichter waren angespannter als sonst.
"War aber auch höchste Eisenbahn" ließ sich Thomas vernehmen. Schweiß perlte ihm in einem kleinen Rinnsal von der Stirn, und die Ader, die normalerweise nur hervortrat, wenn er etwas Scharfes aß, pulsierte über seiner Nase. "Noch viel weiter hätte ich das Ding nicht schleppen können."
Lukas lächelte: "Erinnere dich, wir müssen es auch wieder zurück bringen..."
"O bitte, sag das doch nicht" fiel ihm Marion ins Wort. Ihre zierliche, schlanke Gestalt bibberte vor Anstrengung. Sie hatte sich die ganze Strecke über nicht beschwert, bezweifelte aber, daß sie die Tortur noch einmal überstehen würde.
Ohne weitere Worte begann Lukas, die Maschine auf ein neues bereit zu machen, zog die lange Plastikröhre hinaus und versuchte, die Beine des Monstrums möglichst eben zu plazieren.
"Wenn es diesmal nicht geht, dann sind wir echt gearscht."
Thomas nickte. "Stimmt. Laßt uns mal hoffen, daß das hier keine vergebene Liebesmüh war!"
Tiffany schüttelte den Kopf und zog ihre Jacke enger um sich. Hätte sie gewußt, daß das hier ein so langes Unterfangen werden würde, hätte sie sich wärmer angezogen. Nicht weit entfernt war das kleine Friedhofshäuschen, in dem die Gießkannen und viele andere Utensilien des täglichen Gebrauchs aufbewahrt wurden. Sie spielte mit dem Gedanken, dort hineinzugehen um zu schauen, ob es vielleicht ein paar Grad wärmer im Innern wäre, doch schon ertönte der Klang des Benzinmotors der Maschine und vereitelte jeden weiteren Gedanken an diese willkommene Abwechslung.
Der Friedhof wurde in ein flackerndes, grelles Blau getaucht, als der erste Blitz in die Röhre hineinfuhr und sich darin wand wie ein Aal. Die Schatten zuckten von einer Seite zur anderen, wurden dichter, verschwanden dann gleich wieder. Grabsteine schienen sich zu bewegen und plötzlich ein wenig zu den Seiten zu rücken.
"Scheiß flackerndes Licht!" schrie Tiffany und stürmte erbost auf Lukas zu. "Hier gibt's keine Geister, aber allein meine Fantasie reicht aus, um mir Angst zu machen!!"
Auch der Blick ihres Bruders war unstet geworden, wanderte hastig von einem Grab zum nächsten. "Okay, ich muß zugeben, daß es hier unheimlicher ist, als ich dachte..."
"Na siehst du! Dann schalt das Ding aus und laß uns gehen!"
"Nicht, wenn wir so nah dran sind! Vielleicht kommen die Geister erst noch! Wie spät ist es?"
"Viertel nach zwölf" rief Thomas, um den Lärm des Generators zu übertönen.
Lukas nickte. "Geisterstunde. Aber wo sind sie?"
Die Schatten wanderten um sie herum, haschten sich, zeichneten harte Muster auf den Boden. Tiffany fühlte sich, als wäre irgendetwas in ihrer Nähe, ohne daß es sich zeigen könnte. Sie fühlte sich beobachtet.
"Sie sind hier" flüsterte sie, doch der Satz ging im Getöse der Maschine unter.
"Ich hab's" schrie Thomas, der einen langen Ast von der Erde gehoben hatte. "Ich weiß, was noch fehlt! Der Blitz bei Tiff war nicht eingesperrt!"
"Wie meinst du das?" rief Lukas zurück und zuckte fragend die Achseln. Doch Thomas hatte längst den Entschluß gefaßt, seinen neuen und tollkühnen Plan in die Tat umzusetzen, ohne große Reden zu schwingen. Statt dessen schwang er den Ast, und mit einer gewandten Umdrehung traf er damit auch die oberste Spitze der Blitzröhre, die sich löste und davonflog.
Sofort schnellte der Blitz heraus, züngelte sich wie eine Schlange um den Ast, leckte kurz daran und stieß ihn dann wie ein benutztes Spielzeug achtlos fort. Anschließend entlud sich der blaue Strich knisternder Elektrizität in den Himmel und bildete einen feinen, hauchdünnen Mast.
Thomas, der von der Wucht der Entladung nach hinten geworfen worden war, rappelte sich auf und starrte verdattert. Sofort klatschte Lukas' Hand gegen seinen Kopf, und vor Schreck biß er sich so fest auf die Zunge, daß er ein Stück davon abtrennte.
"Du Idiot! Was hast du dir dabei gedacht?" schrie Lukas außer sich vor Zorn und merkte gar nicht, wie Thomas sich schmerzerfüllt die Hand vor den Mund hielt. "Du hättest dabei drauf gehen können! Und überhaupt, wir müssen das Gerät sofort ausschalten, bevor etwas Schlimmes passiert!"
"Dann tu endlich was und schrei nicht bloß herum" rief Nabby im Rennen und langte nach dem Ast, der Thomas aus der Hand geschleudert worden war. Sie wollte mit dem improvisiertem Stock nach dem Schalter an der Maschine stochern, während sich die Blitzspur in immer weiteren Kreisen in den Himmel hinaufschraubte und zu den Seiten hin ausschlug.
Doch bevor sie mit dem Ast auch nur in die Nähe der Maschine kam, peitschte der Blitz mit ungeahnter Heftigkeit durch die Luft, durchzog sie mit Elektrizität und entfaltete sich in tausend verschiedene Richtungen. Für den Bruchteil einer Sekunde bildete er einen feurigen Baum mitten in der Nacht. Dann gab es einen ohrenbetäubenden, schrecklichen Knall, und eine gewaltige Druckwelle stieß alle Anwesenden zu Boden.
Wie in Zeitlupe rappelte Tiffany, die am weitesten von dem Generator entfernt gewesen war, sich auf. Ihre Ohren ließen sie lediglich noch einen hohen, piepsenden Pfeifton hören, und ihre Haare knisterten, als sie sich bewegte. Mit einem einzigen Blick auf die Maschine wußte sie, daß dieses Ding nie wieder einen Blitz erzeugen würde, wenn es überhaupt noch zu etwas zu gebrauchen war. Einige Metallverstrebungen aufgerissen und aus der Mitte her rauchend lag der Generator auf der Seite. Der geplatzte Bauch klaffte wie eine offene Wunde, aus der zwar keine Eingeweide, dafür aber jede Menge technischer Kram quollen.
"Scheiße" flüsterte sie, konnte ihre eigene Stimme aber nicht vernehmen. "Riesenscheiße!"
Die anderen vier begannen ebenfalls, sich hochzustemmen und sich von oben bis unten zu betasten. Marion wimmerte leise, und Thomas gab ein ersticktes Husten von sich, während er auf die Beine kam. Tiffany rannte zu ihrem Freund und stützte ihn, befühlte seine Haut und sah mit Erleichterung, daß er keine schwerwiegenden Wunden davongetragen hatte. Ein wenig Blut floß ihm aus dem Mund, und zuerst dachte Tiff entsetzt an innere Verletzungen, bis der junge Mann leise meinte, daß es nur die Zunge wäre.
"Mein Bein..." brachte Marion unter einem Schluchzen hervor und stützte sich mit Händen ab. Mehrere Köpfe drehten sich in ihre Richtung, und Nabby stieß einen Schrei aus. Eine der Metallstangen des Generators hatte sich tief in Marions Unterschenkel gebohrt und ragte dort wie ein Stachel heraus. Die Jeans war bereits blutgetränkt.
"Oh Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!" jammerte Marion und ließ sich zurück auf die Erde sinken. Sie umfaßte den Eisenstab und wollte ihn herausziehen, als Lukas sie daran hinderte.
"Tu das ja nicht! Wenn du das machst, verblutest du uns vielleicht, bevor wir einen Krankenwagen rufen können!"
"Und was soll ich dann machen?" jaulte die Verletzte und öffnete hilfeheischend den Mund. Tränen liefen ihr von den Wangen und ihre Züge verrieten, daß sie der Hysterie nahe war. "Ich hab... ich hab so ein verdammtes Ding im Bein stecken, verdammt nochmal! Und das alles nur wegen einem beschissenen K-Kasten..." Sie brach in haltloses Heulen aus, das auch nicht endete, als Nabby sie in die Arme nahm.
"Wir haben alle etwas davon abbekommen" sagte sie mit weicher Stimme und drückte die Verwundete an sich. "Wenn nicht körperlich, dann doch seelisch. Und wir müssen jetzt versuchen, dich von hier fort zu bringen, damit--"
"Nein, wir können sie nicht tragen!" entfuhr es Lukas. "Thomas und ich werden Hilfe holen, während ihr hier wartet! Das geht allemal schneller."
"Verdammt, du wirst uns hier nicht alleine lassen, Lukas" raunte Tiffany und packte ihren Bruder am Arm. Neben ihr stand Thomas, auf seine Freundin gestützt. "Ich werde nicht hier bleiben, nicht nach dem, was gerade passiert ist!"
"Von mir aus, dann tragen wir sie eben zurück! Ist mir doch egal, ob sie dabei leidet! Dir ist's ja anscheinend auch egal!"
"Ich setz mich schnell hin" krächzte Thomas und taumelte beiseite. "Mir ist nicht gut."
"Da, und mit ihm willst du jetzt gehen oder was?" Tiffany war wirklich in Fahrt. Lukas schüttelte nur den Kopf und wandte sich an Marion.
"Hey meine Süße, mach dir keine Sorgen. Wir holen dich sofort hier heraus. Das ist nur eine Fleischwunde, davon bleibt nicht mal eine Narbe zurück."
"Was du nicht sagst, Herr Oberarzt" zischte Marion angewidert zurück. "Und auf deine Scheißdiagnose kann ich verzichten. Du hast ja keine Ahnung, wie weh das tut!"
"Na gut, dann tragen wir sie eben" sagte Lukas laut und packte die Verletzte unter den Schultern. Nabby nahm vorsichtig das Bein, in dem die Eisenstange steckte, Tiffany das andere. Marion brüllte vor Schmerzen, doch unnachgiebig hielten die drei sie zwischen sich und begannen, sich langsam mit ihr nach vorn zu bewegen.

"Ach du Scheiße." Tiffany erbleichte plötzlich, sie waren noch keine fünfzig Meter gegangen.
"Was ist?" wollte Lukas wissen.
"Thomas! Wir haben ihn vergessen!"
"Mist! Dann hol ihn!"
Vorsichtig legten sie die Verletzte auf die Erde, und Tiffany rief: "Bin sofort wieder da!", bevor sie losrannte. Als sie die Stelle erreichte, wo der Generator explodiert war, fand sie sich jedoch alleine wieder.
"Thomas?" rief sie unsicher. Ihre Worte hallten verloren zwischen den Gräbern wider. Wie sehr wünschte sie sich jetzt eine Taschenlampe!
"Ist er nicht mehr da?" erklang die Stimme von Lukas aus der Ferne. Er mußte sie gehört haben. Das war gut! Wenn er sie hörte, dann würde er es auch hören, wenn sie nach Hilfe schrie, falls etwas passierte. Sie zitterte. Unsinn. Warum sollte etwas passieren? Ein leichter Wind kam auf und zerrte an ihren Haaren, warf sie ihr ins Gesicht. Sie wischte sie beiseite, sah sich noch einmal nach ihrem Freund um und bemerkte etwas sonderbares: Die kleine Fahne, die am Friedhofshäuschen hing, bewegte sich kein Stück. Doch noch immer spürte sie den eisigen Wind um sich herum...
Abrupt drehte sie sich um und hatte das plötzliche Gefühl von Bewegung in ihrem Rücken. Doch da war nichts, nur der leere Kiesplatz und überall die einsamen Grabsteine. Von Thomas keine Spur.
"Lukas?" rief sie unsicher, doch anscheinend nicht laut genug, um sich bemerkbar zu machen. Auch ein zweiter, lauterer Ruf erntete nicht mehr Erfolg.
Ohne zu wissen, warum, wußte Tiffany plötzlich, daß sich etwas hinter ihr befand. Sie wußte es mit eben solcher Sicherheit, wie sie wußte, daß vor ihr ein Kiesweg war. Langsam drehte sie sich um.
Tote, uralte Augen blickten sie leiderfüllt an. Eine hagere, weibliche Gestalt stand dort direkt bei ihr, blickte sie einfach nur an.
"Wer... wer bist du?" fragte Tiffany und hoffte, keine Antwort zu bekommen sondern diesem Alptraum entfliehen zu können.
Der Geist schüttelte den Kopf und zerfloß in alle Richtungen. Doch anders als das letzte Mal, als sie Gespenster gesehen hatte, verblich dieses hier nicht, sondern ging nur... davon. Es war immer noch anwesend. Immer noch hier. Jeder Lufthauch brachte eine Verheißung von seinem ruhelosen Körper, jeder Stein auf dem Boden schien plötzlich hellblau zu leuchten und ein verhängnisvolles Muster zu ergeben.
Von Grauen erfüllt rannte Tiffany davon, dachte nicht mehr an Thomas und machte erst Halt, als sie wieder bei Lukas, Marion und Nabby angekommen war. Schnell berichtete sie von dem Vorfall und machte sich bereits Vorwürfe, ihren Freund im Stich gelassen zu haben.
"Er war nicht mehr dort" sagte Lukas leise und besänftigend. "Du hättest noch Stunden nach ihm suchen und ihn dennoch nicht finden können! Wenn er es sich in den Kopf gesetzt hat, alleine zurückzulaufen, dann laß ihn. Vielleicht ist er jetzt schon in einer Telefonzelle und ruft einen Krankenwagen."
Tiffany sah ihm in die Augen. "Ich glaube, du hast nicht verstanden, worum es hier geht" murmelte sie. "Der Scheiß Generator hat durchaus funktioniert! Und die Geister... sie scheinen nicht mal annähernd daran zu denken, sich wieder aufzulösen!"
"Solange sie sich nicht zeigen, soll's mir egal sein."
"Glaubst du noch immer, daß du für dieses Experiment eine gute Note bekommst, Bruderherz? Glaubst du das tatsächlich?"
"Ich glaube..." begann er, beendete den Satz jedoch vorzeitig und legte sich im Geiste einen neuen zurecht, der nicht ganz so hart klingen würde. "Weißt du, Tiff, ich glaube, das einzige, worauf es jetzt ankommt, ist, daß wir es schaffen, Marion ins Krankenhaus zu bringen."
"Dann sind wir da wenigstens alle einer Meinung" mischte sich Nabby ein und drehte sich, um ihre verletzte Freundin wieder zu trösten. Ihr markerschütternder Schrei ließ Tiffany sich die Ohren zu halten, bis er vorbei war. Gerade, als sie die Augen wieder öffnete und auch die Hände wieder von den Ohren zu nehmen gedachte, wiederholte sich der Schrei, nur diesmal von Marion ausgestoßen. Doch Tiff hatte die Augen schon geöffnet und sah, was ihre Freundinnen dazu veranlaßt hatte, so sehr zu schreien:
Thomas stand vor ihnen. Er stand mitten auf dem Weg und schien keine Anstalten zu machen, näher zu kommen. Er schien nicht einmal zu begreifen, was um ihn herum vorging. Die Schreie irritierten ihn nur noch zusätzlich.
Voller Sorge lief Tiffany auf ihn zu und legte ihm zärtlich die Hand an die Wange. An eine Wange, die um Jahre gealtert war.
"Was ist mit dir geschehen?" flüsterte sie verzweifelt und wußte, daß ihre Stimme so zerbrechlich klingen mußte wie ein einzelner Weidenhalm während eines Sturmes. "Was ist nur mit dir geschehen?" Tränen brachen aus ihren Augen hervor und fütterten den kalten Kiesboden. Träne um Träne versank, ohne daß Thomas eine Antwort gab.
Er schaute sie nur aus verständnislosen Augen an. Seine Haare, die er sich vor einigen Tagen erst zu einer Stoppelfrisur hatte schneiden lassen, hingen ihm schlohenweiß und lang über die Schultern. Seine Pupillen waren geweitet und seine Augen gebettet in faltige, runzlige Höhlen. Seine aufgesprungenen Lippen formten sinnlose, unzusammenhängende Sätze, jedoch verließ kein Laut seinen Mund. Er war alt geworden. Alt wie ein Greis.
Als Tiffany merkte, daß ihr Freund durch sie hindurch sah und auch ihren Berührungen keine Aufmerksamkeit schenkte, ließ sie kummervoll von ihm ab und vergrub ihre Züge in der Brust ihres Bruders, der sie mit offenen Armen empfing.
"Was ist mit dir los?" fragte er Thomas und rüttelte ihn kräftig, nachdem Tiffany sich von ihm gelöst hatte. "Was ist dir geschehen?"
Thomas blieb stumm wie ein Grab.
"Etwas muß hier sein" sagte Lukas und spürte, wie sich ihm sämtliche Haare auf dem Körper aufrichteten. "Etwas, das Thommy den Verstand und fast sein Leben gekostet hat."
Tiffany klopfte schwach mit ihren Fäusten gegeneinander, dann hielt sie nach allen Seiten Ausschau. "Was sollen wir denn nun tun?" wisperte sie so leise, daß niemand sie verstand. "Was tun wir denn jetzt nur?"
"Wir versuchen, uns von diesem etwas fern zu halten!"
"Wir wissen doch nicht einmal, was es ist!"
"Und wir werden es hoffentlich auch nicht herausfinden!"
Tiffany wandte sich ab und bedachte ihren Freund mit furchtsamem Ausdruck. Hager und völlig neben sich stand er bloß da und schien zu warten. Worauf, das wußte niemand. Gerade wollte sie ihm ihre Hand anbieten, als ein Schaudern ihn durchzuckte.
Er schüttelte sich kurz, dann perlten einige Tränen aus seinen alten, vertrockneten Augen. Sein Mund bewegte sich, doch wieder hörte niemand, was er zu sagen hatte.
"Was?" flüsterte Tiffany ermutigend und nahm ihn beim Arm. "Was hast du gesagt?" Sie wußte, daß sie jeden Moment, den sie diesen Greis noch länger anstarrte, in haltlose Panik verfallen konnte, doch sie wollte auch wissen, was Thomas passiert war.
"... Stimmen..." wisperte er langsam, und die Worte quollen aus seinem Munde wie uralte, lang vergessene Relikte. "... die Stimmen... so schrecklich... Schatten..."
"Wo sind Stimmen? Hörst du Stimmen?"
"... waren dort... hab sie ge... gehört... und bin ihnen nach... gegangen..."
"Vergiß es!" entfuhr es Lukas, und er packte Tiff so fest er konnte und riß sie von Thomas weg. "Wir müssen hier weg! Fragen stellen können wir später auch noch!"
Tiffany schenkte ihm einen giftigen Blick, realisierte aber, daß er Recht hatte, und gab sich geschlagen. Zu zweit hoben sie Marion hoch, und Nabby führte Thomas hinter ihnen her. Doch die Worte, diese wenigen Worte, die der gealterte, einst junge Mann gewispert hatte, krochen ruhelos in Tiffanys Geist herum. Sie konnte sich nicht erwehren, des öfteren angestrengt zu lauschen, während sie langsam, Schritt für Schritt, voran kamen.
"Pssst!" zischte Marion plötzlich. "Laßt mich runter! Ich höre was!" Der Schmerz in ihrem Bein schien komplett vergessen.
"Was hörst du?" fragte Tiffany bleich.
"Ich... ich weiß nicht... lauscht doch einmal!"
"Es kommt aus der Richtung, in die wir gehen" sagte Nabby bleiern. "Ich höre es auch. Sie warten dort bestimmt auf uns!"
"Sie spielen ein Spiel mit uns, das ist alles!" ließ sich Tiffany erbost vernehmen. "Sie lauern dort, wo wir hingehen wollen! Sie wissen genau, wohin wir gehen! Und sie sitzen wahrscheinlich am längeren Hebel!"
"Und was gedenkst du dagegen zu unternehmen?" Lukas betrachtete sie skeptisch. "Was bleibt uns denn übrig, außer dorthin zu gehen, wohin wir gerade unterwegs sind?"
Nabby zitterte und umklammerte sich selbst mit den Armen. "Wenn sie dort warten, dann werden sie überall sein!"
"Dann müssen wir eben hier bleiben, bis es Tag wird" sagte Tiffany tonlos. "Wir müssen ein sicheres Versteck finden."
"Wo willst du auf einem Friedhof ein sicheres Versteck finden?"
"Was weiß denn ich?" schrie Tiffany aufgebracht. Die ewigen Widerworte kamen ihr langsam hoch, und sie hatte keine Lust mehr, ihnen allen vorzukauen, was sie zu tun hatten. Schließlich galt es doch nur, sich in Sicherheit zu bringen!
Sie alle vergaßen den Streit und drehten sich zu Thomas um, als dieser auf einmal kicherte und in die Hocke ging. Nach einem schnellen Blick sah auch jeder den Grund für seine Heiterkeit: Eine kleine Friedhofsmaus huschte über den Kiesweg und richtete ihre Spitze, schnuppernde Nase auf alles, was ihr interessant erschien. Die Maus sah aus wie eine vollkommen normale Maus. Bis auf den winzigen Unterschied, daß sie hellblau leuchtete und durchscheinend war.
"Oh mein Gott" hauchte Nabby entsetzt, und noch im selben Moment erfüllte zwitscherndes Quieken die Luft, als über einen nahen Hügel noch mehr Mäuse kamen. Unter die toten Nager mischten sich riesige Ratten, die sich selbst im Kreise drehten, von einer Seite auf die andere sprangen und mit ihren fetten Leibern bösartig und feindlich wirkten.
Gerade wollte Tiffany sie alle dazu anhalten, endlich von hier zu verschwinden, als der Mond von einer dicken Wolkenwand verdeckt wurde und das einzige Licht von den gespenstischen Wesen kam, die plötzlich den Weg anfüllten.
Die kleine Maus tänzelte noch einmal geschwind um Thomas Beine herum, bevor sie von einer der fetten Ratten vertrieben wurde. Thomas, noch immer versunken in seine ganz eigenen Gedanken, bemerkte es nicht. Funkelnd und mit einer erschreckenden Intelligenz sah die Ratte ihn an, bevor sie einen gewaltigen Satz nach vorn machte und ihre Fänge in seinem Finger vergrub.
Vor Schmerz einen gellenden Schrei ausstoßend fuhr der Greis in die Höhe, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel der Länge nach auf den Kiesweg. Mehrere weitere Ratten krabbelten wie Ungeziefer auf ihn zu, doch bevor sie ihn erreichen konnten, hatte Lukas ihn geistesgegenwärtig auf seine Schultern gehievt und schrie den andern zu, sich zu beeilen. Schon rannte er davon, und die blau schimmernden Geisterratten stürzten sich voller Freßgier auf die drei Mädchen.
Tiffany begann, Marion hinter sich her zu schleifen, indes Nabby sich einen Ast gesucht hatte und damit auf die sich nähernden kleinen Ungeheuer einhieb. Endlich erwischte sie eines der Ungetüme mit einer vollen Breitseite, doch anstatt sie zu erschlagen, ging der Ast einfach durch das Biest hindurch. Aber das konnte doch nicht sein! Nabby schlug noch einmal zu, und wieder durchtrennte sie nur leere Luft. Verwirrt blieb sie stehen und sah sich nach Tiffany um, als die erste Ratte sie ansprang und ihre Nagerhauer in ihrem Bein vergrub. Entgegen aller Erwartungen gingen die Zähne jedoch nicht einfach durch sie hindurch, sondern schlugen sich tief in ihrem Bein fest und ließen einen kleinen Blutschwall daraus hervorspritzen. Das schien die anderen Ratten noch umso gieriger werden zu lassen, und sie quiekten und quietschten, als befänden sie sich auf einem sinkenden Schiff.
Von Furcht übermannt schüttelte Nabby den Nager vom Bein, sprang über die anderen Ratten hinweg und rannte blindlings über den Kiesweg davon. In ihren Ohren pochte ihr Puls, und sie spürte die kalte Nachtluft in ihre Lungen fließen, während sie rannte; hinter ihr das Quieken der grässlichen Bestien, das langsam verebbte. Erst verschwamm ihr alles Schwarz vor den Augen, doch bald legten sich die Wellen des Schwindels, und es ging ihr besser, während sie floh. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, doch als sie endlich den Mut aufbrachte, fand sie den Weg hinter sich verlassen und leer vor. Einigermaßen beruhigt darüber, daß die Ratten verschwunden waren, verlangsamte sie ihren Schritt und dachte darüber nach, wohin die Nager sich zurückgezogen hatten. Und wo waren Lukas und Tiffany hin? Sie blickte sich zu allen Seiten hin um, doch jeder der kleinen Friedhofswege sah gleich aus. Vermutlich war sie in ihrer Panik in die entgegengesetzte Richtung gerannt, anstatt sich ihren Freunden anzuschließen!
Sie flößte sich etwas Zuversicht ein, atmete mehrere Male tief ein und aus und überlegte, was sie nun tun konnte. Langsam ließ das pulsierende, harte Geräusch ihres eigenen Herzschlages nach, das in ihren Ohren getrommelt hatte. Sie konnte wieder etwas hören... und was sie hörte, ließ Angst sie überkommen wie ein düsterer Schatten: Stimmen. Stimmen hallten an sie heran. Stimmen wie aus tiefen Erdschluchten, wie aus Gräbern, an die niemand mehr einen Gedanken verschwendet hatte, seit sie zugeschüttet worden waren...

Die Halle mutete finster an, doch sie gewährte Zuflucht. Tiffany schauderte bei dem Gedanken, die letzte Stätte einiger toter Menschen aufzusuchen, doch sie hatten keine andere Wahl gehabt. Diese noch offene Familiengruft lag nicht weit abseits von der Friedhofsmitte und sollte wohl erst in den nächsten Tagen versiegelt werden.
In der düsteren, stickigen Luft war ein kleines Streichholz alles, was den Raum erhellte. Lukas hielt das winzige brennende Ding so vorsichtig in der Hand, als wäre es der kostbarste Schatz, den er jemals besessen hätte.
"Ich habe keinen unbegrenzten Vorrat von denen" grummelte er mißvergnügt und wartete darauf, daß jemandem eine bessere Idee kam.
Und tatsächlich brachte Marion, die letztendlich doch die Metallstange aus ihrem Bein gezogen hatte, ein Keuchen zustande, das ihr die Aufmerksamkeit der anderen zuteil werden ließ. Sie senkte ihren Blick auf die Wunde in ihrem Bein und fühlte, wie immer mehr Blut in ihre Jeans sickerte und ihr Körper schwächer wurde. Mit einem angedeuteten Lächeln sagte sie: "Wir könnten uns Fackeln machen, die halten länger."
"Wo willst du denn hier Fackeln herkriegen?" fragte Tiffany etwas erstaunt angesichts des obskuren Vorschlages.
Marion antwortete nicht, sondern zog mit schmerzverzerrtem Gesicht etwas aus ihrer Jackentasche.
"Hier, moderne Fackeln" sagte sie und warf Lukas das etwas vor die Füße. Es war eine Zigarettenschachtel.
"Gar nicht schlecht!" gab Tiffanys Bruder zu und öffnete die Packung. "Von denen hält jede bestimmt 10 Minuten, wenn wir sie einfach nur brennen lassen und ab und zu dran ziehen. Und dadurch kriegen wir Licht!"
"Die Schachtel ist zwar nicht mehr ganz voll" gab Marion zu bedenken, "aber sieben oder acht Stück müßten schon noch drin sein."
Lukas steckte sich die erste an, hustete beim Einziehen und kassierte dafür ein bemitleidenswertes, krächzendes Röcheln von Marion, das wohl an ein spöttisches Lachen erinnern sollte. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und hielt sie in die Dunkelheit. Der glühende Kopf erzeugte zwar nicht ganz so viel Licht wie erwartet, aber er verdrängte die völlige Finsternis.
"Ich bin mir nicht sicher, ob das besser ist" sagte Tiffany traurig. "Jetzt sehe ich überall Schatten, wo vorher keine waren. Und mehr erkennen kann ich trotz des Lichtes auch nicht!"
Lukas nahm einen tiefen Zug und stand auf. Die Spitze der Kippe glühte heller und entflammte ein Tempotaschentuch, das er an die Zigarette preßte.
"Verdammt!" entfuhr es Tiff. "Jetzt sehe ich etwas und bin mir sicher, daß es vorher besser war!"
Das neue Licht umspielte die Konturen dessen, was sich in der Gruft befand. Vier Särge standen in der Mitte, wie Steinsockel, die aus dem Boden sprossen. Die Familie, die hier bestattet worden war, mußte ein Haufen reicher Bastarde gewesen sein, denn auf den Rücken der Steinsärge waren Muster und Verzierungen in Form von wachenden Rittern eingemeißelt worden. Es sah teuer aus.
Unregelmäßig ragten Säulen aus dem Boden, die sich ein paar Meter in die Luft wanden und weiter oben mit der Decke verschmolzen. Auch auf ihnen zeigten sich eingravierte Arbeiten, hier jedoch waren es keine Ritter, sondern gewundene Schlangen und Fratzen mit weit aufgerissenen Augen. Etwas ging von dem Raum aus, was genauso einladend und gastfreundlich wirkte wie das Tor zur Hölle, nur ohne die Hitze.
"Ich glaube, ich will hier raus" murmelte Marion erstickt. Bevor jemand etwas erwidern konnte, erfüllte ein Schluchzen die tote Luft, und alle drei drehten sich zu Thomas um.
Der unglückliche, gebeugte Mann weinte leise, während er an einer Säule lehnte. Sein Blick ging starr geradeaus, die Tränen perlten wie winzige Diamanten von seinen Wangen. Er hätte einfach nur ruhig und traurig ausgesehen, wären nicht seine zitternden Hände gewesen. Seine Finger schüttelten sich regelrecht, und auch die Arme wurden anscheinend von einem Krampf geschüttelt.
Marion fragte: "Thomas, geht es dir gut?"
Doch sie erhielt keine Antwort. Nur das Schluchzen wurde ein wenig lauter.
"Er hat Angst, genau wie wir..."
"Oder vielleicht sieht er auch etwas, was wir nicht sehen können" flüsterte Marion und sah sich angestrengt um. Nichts als Dunkelheit in den Ecken, und unheimliche Särge vor ihnen.
"Nein. Wir dürfen uns nicht verrückt machen lassen" flößte Tiffany ihr Mut ein. "Wir müssen jetzt stark bleiben. Wir haben wenigstens einen Vorteil: Etwas blau schimmerndes erkennen wir in diesem Raum sofort! Also kann uns kein Geist von hinten in den Rücken fallen." Milde lächelnd nahm sie Marions Hand und streichelte sie zärtlich.
Marion nickte kurz, wischte Tiffs Hand von ihrer hinfort und igelte sich in eine Ecke. Kurze Zeit später versuchte sie, selbst die Ecke nicht mehr zu berühren. Wer konnte denn schon wissen, ob Geister nicht auch durch Wände kommen konnten? In jeder Gespenstergeschichte konnten sie es jedenfalls, und dies hier schien ein Bestseller dieses Genres zu werden!
Lukas ging vorsichtig im Raum auf und ab, zog ab und zu an der Kippe und zündete sich eine neue an, als die alte bis zum Filter heruntergebrannt war. Der Raum war groß, aber nicht zu groß. Man konnte alles gut überblicken, und leider war auch sofort ersichtlich, daß es nur einen Ausgang gab. Gut, verständlich, denn man rechnete ja auch nicht damit, daß ein paar Tote in Särgen einen Notausgang bräuchten. Er schnaubte bei dem Gedanken kurz auf und beleuchtete die Sargdeckel mit dem glühenden Kopf der Zigarette.
Die Ritter, die darauf eingraviert waren, trugen keine Helme. Seltsam. Lukas hätte schwören können, daß sie vorhin noch welche auf ihren Köpfen gehabt hatten. Statt dessen sah man nun ihre Gesichter, die zu Masken des Entsetzens verzerrt von den Deckeln stierten. So sollten keine Ritter aussehen. So sahen Menschen aus, die etwas so schreckliches erblickt hatten, daß sie beim Anblick davon starben.
Lukas warf einen Seitenblick auf Tiffany und Marion. Sollte er ihnen erzählen, was er gerade gesehen - beziehungsweise nicht gesehen - hatte? Oder würde es die beiden nur unnötig beunruhigen. Immerhin konnte er sich ja auch getäuscht haben. Nur glaubte er nicht an diese Möglichkeit.
Er kramte ein weiteres Tempo aus seiner Hosentasche, ließ es aufflammen und auf einen der Särge fallen. Die Ritter hatten sich wieder verändert, dieses mal waren die Augen ihrer Fratzen geschlossen, anstatt offen. Ob das eine Verbesserung war, bezweifelte Lukas ganz stark. Und auf irgendein seltsames Spiel der Schatten konnte er diese Veränderung nun auch nicht mehr zurückführen.
Er ging zu Thomas, dessen Schluchzen nun in ein abgebrochenes Wimmern übergegangen war, und dessen Hände noch immer zitterten.
"Wohin siehst du, alter Freund?"
Thomas starrte weiter geradeaus. Sein Blick verriet, daß er ebensogut tot sein könnte. Er hatte den gleichen Ausdruck wie die Fratzen auf den Sargdeckeln.
"Weißt du etwas? Siehst du etwas, was wir nicht sehen können?"
Ganz langsam, so als könne sein Hals brechen, wenn er sich nicht so bedächtig bewegen würde, drehte Thomas den Kopf und sah Lukas in die Augen. Schreckerfüllt zuckte dieser zurück und keuchte. Diese Augen... sie waren nun nicht mehr tot, sondern voll mit Leben. Doch das, was dieser glühende Lebensfunke aussagte, war schlimmer, als jeder tote Blick es hätte sein können. Es war etwas darin, das ihm sagte, daß Thomas nicht nur die Grenze gesehen hatte, sondern in einem Land gewandelt war, das jenseits aller Vorstellungskraft liegt.
"Sie kommen." Es war Thomas' Stimme. Aber leise. Fast zu leise.
"Was?" fragte Lukas entsetzt. Auch die Ohren der beiden Mädchen lauschten nun gespannt in die stille Luft.
"Sie kommen. Sie sind da."
"Du warst auch dort, Thomas. Nicht wahr? Du warst bereits dort."
Thomas lächelte glücklich und blickte zur Decke auf. "Wann sterbe ich?"
Lukas war verwirrt. Er hatte eine solche Frage nicht erwartet. "Keine Ahnung, ich..."
"Haben etwas freigesetzt, was vergraben war..." flüsterte Thomas weiter. "Sie haben mit mir geteilt. Sie haben alle geteilt. Weißt du, es gibt dort keinen Schmerz. Nicht, wie wir ihn kennen. Aber es gibt Haß. Und es gibt Neid. Auf unsere Welt. Darauf, daß wir Schmerz verspüren. Sie haben keinen Schmerz..."
Mehr konnte Lukas nicht verstehen, weil Marion aufgesprungen war und durch die Gruft humpelte. Ihr verletztes Bein schien ihr keine Sorgen mehr zu bereiten, und sie strebte geradewegs auf den Ausgang zu.
"Ich bleibe keine Sekunde länger mehr hier" heulte sie, während sie sich über den Boden schleppte. "Seht ihr es denn nicht? Hier bewegt sich alles! Jeder beschissene Schatten hier drin bewegt sich!"
Sie wollte sich noch einmal zu ihren Freunden umdrehen, doch im Wenden fiel ihr Blick auf die Särge, und sie brach in haltloses Kreischen aus. Die Schreie hallten so klirrend und klar durch den Raum, wurden von allen Seiten wiedergeworfen und noch verstärkt, daß Lukas und Tiffany sich die Ohren zuhielten und hofften, sie würde endlich damit aufhören.
Thomas war der einzige, dem der Lärm nichts auszumachen schien. Langsam, aber diesmal bestimmt, schritt er auf Marion zu und versetzte ihr eine Ohrfeige. Der Schlag war so schwach, daß Marion ihn kaum spürte, doch trotzdem riß ihr Kreischen sofort ab, und sie taumelte rückwärts, bis sie gegen die nächste Wand stieß.
"Was ist denn los, verdammt?" brüllte Lukas und merkte nicht, daß nun er derjenige war, der mindestens genauso laut schrie.
"Dort... dort... auf den Sargdeckeln..."
Tiffany und Lukas warfen einen genaueren Blick auf die Deckel. Die Muster der gravierten Ritter änderten sich auch weiterhin, nur taten sie dies jetzt fließend und nicht bloß, wenn niemand hinsah. Geschlossene Helme, die ohne erkennbaren Übergang zu entsetzlichen Fratzen wurden, und auch die Arme und Beine bewegten sich zögerlich. Es war alles so unwirklich, daß es schon fast absurd und lächerlich wirkte.
"Geh zur Seite" rief Lukas und mußte mit ansehen - außerstande, etwas zu unternehmen, da seine Glieder sich nicht rühren wollten - wie Thomas die Hand ausstreckte und die fließenden Formen berührte. Ein leichter blauer Schimmer strahlte nun von den Deckeln, leckte an den Fingern des Greises und breitete sich wie ein Schleier über den Särgen aus.
Thomas drehte sich zu seinen Freunden um und sah zum ersten mal an diesem Abend wirklich glücklich aus. "Sie sind jetzt da" war alles, was er sagte.
Einer der Sargdeckel flog zur Seite und begrub den greisen Thomas mit lautem Krachen unter sich. Lukas beobachtete mit Grauen, wie eine menschenartige, blau umrandete Gestalt, die nur aus trübem Licht zu bestehen schien, sich vom Deckel losriß und für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft stand. Sie stürzte, paddelte hilflos auf den Fliesen, bevor sie in alle Richtungen zerfloß. Auch die anderen Deckel schoben sich von ihren Särgen und zersprangen einer nach dem anderen. Die Ritter, die darauf eingraviert gewesen waren, zuckten alle nur kurz, bevor sich ihre Gestalten in Luft auflösten.
Ohne einen weiteren Gedanken an Marion oder Thomas zu verschwenden ergriff Lukas die Hand seiner Schwester und zerrte das Mädchen mit sich. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie der Sargdeckel, der Thomas begraben hatte, nach oben gehievt wurde. In einer verzweifelten Geste der Hoffnung riß er Tiffany herum und wollte seinem Freund zu Hilfe eilen.
"Laß ihn" rief Tiffany, die sich mehr Sorgen um Marion machte. Mit Thomas hatte sie innerlich bereits abgeschlossen. Umso schlimmer war es, als sie seine Gestalt sich vom Boden aufrappeln sah, mit einem irren Grinsen im Gesicht. Dieser Thomas hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem, der vorhin noch bei ihnen gewesen war, egal, wie alt er gewesen sein mochte. Dieser Thomas vereinte eine Kraft in seinen zerbrechlichen Knochen, die unmöglich irdisch sein konnte.
"Ach du Scheiße" entfuhr es Lukas in dem Moment, als der Greis nach vorn sprang, seinen Arm faßte und ihm die Fingernägel, die so lang waren wie Krallen, ins Fleisch grub. Er taumelte zur Seite und konnte es im letzten Moment vermeiden, in einen der offenen Särge zu fallen, aus denen nun blauer, leuchtender Rauch quoll. Mit der freien Hand nach dem Monstrum an seinem Arm schlagend und mit den Beinen vergeblich strampelnd wandte er sich nach Tiffany um.
Knirschend ertönte es, als das Mädchen einen schweren Steinsplitter gegen den Kopf ihres einstigen Freundes niederfahren ließ. Thomas oder das, was von ihm noch übrig war, wurde nach hinten geworfen, nur seine Nägel ruhten noch im Arm von Lukas.
Tiffany wartete erst gar nicht ab, bis der unglaublich kräftige Greis den Boden berührt hatte, sondern setzte ihm sofort nach und schmetterte ihm die Steinplatte noch einmal auf den Schädel. Endlich lag das Wesen, das einmal ein liebevoller und lebenslustiger Mensch gewesen war, ruhig da. Tiffany spürte, wie unglaublich widersinnig es war, sich darüber zu freuen, daß dieser nette junge Mann nun tot war, doch im Moment konnte sie nichts anderes als Erleichterung empfinden.
Sie merkte, wie Lukas ihre Arme ergriff und sie fortzerrte, als der fast papierne Körper von Thomas plötzlich zischte und zu brennen begann. Die Flammen leckten sofort über den ganzen Leib und schlugen so hoch, daß innerhalb weniger Augenblicke die gesamt Gruft in einem infernalischen Rot erglühte. Die rauchschwangere Luft verstärkte dieses Gefühl eines Höllenschlundes noch.
Tiffany drehte sich und begann, nach Marion Ausschau zu halten, als ihr Blick sich in den Wänden und Säulen der Gruft verfing: Überall verschoben sich nun die eingravierten Gesichter und Bildnisse, Fresken wurde ein bizarres Leben eingehaucht, und das knirschende Geräusch von aneinanderreibendem Stein mischte sich unter das Knistern der Flammen.
Die gesamte Gruft schien ein einziges lebendiges Organ zu sein, und die pumpenden, pulsierenden Wände schienen näher und näher zu rücken. Tiff ließ sich einfach von ihrem Bruder zum Ausgang zerren, während sie verzweifelt nach Marion Ausschau hielt. Doch sie konnte ihre Freundin nirgends erkennen und hoffte, daß sie vielleicht schon nach draußen entkommen wäre.

Hinter ihr, im Eingang der Gruft, leuchtete es rot auf, als würde dort drinnen ein Feuer entfacht werden. Doch Marion kümmerte das nun wenig, sie wollte einfach nur weg von hier, in eine Gegend, in der es normale Häuser, Straßen und Bäume gab. Wenn sie so schnell rannte, wie sie nur konnte, würde sie innerhalb von zwei oder drei Minuten die Friedhofsmauern erreicht haben und in Sicherheit sein!
Aber verdammt, ihre Beine wollten nicht mitspielen. Sie wollte losrennen, doch ihr Knie zitterten so sehr, daß sie sich nicht vom Fleck bewegen konnte. Erst jetzt begann sie, ihre Umgebung wahrzunehmen, und sich darauf zu besinnen, daß sie schon hier einen sicheren Ort finden mußte. Die Friedhofswege erstreckten sich in alle Richtungen, und jeder von ihnen sah uneinladender aus als der andere. Die knöchernen Bäume an den Rändern, die düsteren Ginsterbüsche... und das schlimmste waren die stummen Grabsteine überall. Komisch, daß Marion es gerade jetzt bemerkte, doch auf vielen der Gräbern lagen Blumen, oder standen große Schalen mit Pflänzchen. Im richtigen Licht betrachtet, würde das alles bestimmt hoffnungsvoll und liebenswürdig aussehen. Im Augenblick jedoch roch es nach Tod und Verderben.
Ohne groß zu überlegen, wohin sie sich wenden sollte, da eh alles gleich aussah, humpelte Marion geradeaus, nur weg von der Gruft. Waren Tiff und Lukas noch da drin? Oder waren sie schon vor ihr herausgekommen? Der Schmerz im Bein wurde mit jedem Schritt stärker. Blut sickerte aus der Wunde. Jedes Auftreten tat mehr weh als das vorherige.
Nach einiger Zeit wurden die Büsche um sie herum dichter. Marion hatte nicht auf den Weg geachtet, aber sie wußte, daß sie nur geradeaus gelaufen war. Trotzdem kamen ihr die Gräber nun bekannt vor. Sie mühte sich ab, und mit dem bißchen Sternenlicht, das zwischen den Wolken durchfiel, konnte sie die Aufschrift auf einem Grabstein erkennen:

Alina
geboren am 5. April 1996
gestorben am 5. April 1996

wir lieben dich


Ein Schaudern ging über Marions Körper. Sie fühlte, wie sich all ihre Härchen aufstellten und wie ihre Seele erzitterte. Der Grabstein war sehr einfach, das Grab schlicht, aber gepflegt. Was die Eltern dieses Mädchens wohl für Qualen durchgestanden haben mußten?
Sie schleppte sich weiter. Es mußte bald der Ausgang kommen. Er mußte kommen. Der Friedhof war groß, aber nicht so groß. Es konnte sich nur noch um ein paar Schritte handeln. Eigentlich sollte man die Mauern schon sehen können. Aber da war nichts. Nur die Skelettbäume und die Ginsterbüsche um die Gräber und am Rande des Weges. Das eigenartige war, daß schon seit geraumer Zeit keine Abzweigungen mehr von diesem Hauptweg - falls das überhaupt einer der Hauptwege war! - wegführten. Mit einem mulmigen Gefühl beschleunigte das Mädchen seinen Schritt und war erleichtert, als der Schmerz im Bein endlich zur Taubheit wurde. Sie zog eine stetige Blutspur hinter sich her, die wie ein Rinnsal in den weißen Kies tropfte.
Das gab es nicht. Wie konnte es sein, daß sie so lange geradeaus lief und noch immer nicht an irgendeiner Mauer angekommen war? Marion tat etwas, das sie wenig später schon sehr bereuen sollte. Sie sah noch einmal auf einen der Grabsteine:

Alina
geboren am 5. April 1996
gestorben am 5. April 1996

wir lieben dich


Es war der gleiche wie vorhin. Sie war am gleichen Fleck, obwohl sie mindestens hundert Meter, wenn nicht mehr, gegangen sein mußte. In ein und dieselbe Richtung. Mit ernüchternder Klarheit wurde ihr bewußt, daß sie das Ende des Friedhofs nicht erreichen würde. Geboren am 5. April 1996. Gestorben am 5. April 1996. Gleich bleibt gleich. Und es würde keinen Ausweg geben.
Sie spürte, wie die Tränen an ihren Wangen herabzusickern begannen. Sie wollte nicht weinen, aber sie konnte es nicht aufhalten. Schluchzend sank sie auf den Kiesboden nieder und krallte sich mit einer Hand in den Steinen fest. In blutigen Steinen. Doch das Blut war teilweise schon getrocknet. Nur ein weiterer Beweis dafür, daß sie hier schon einmal entlanggelaufen war, und das vor nicht allzu langer Zeit.
Weil sie nur ihr eigenes Schluchzen hörte und in Embryonalhaltung auf dem Boden zusammengerollt war, fielen ihr die Geräusche erst auf, als sie schon viel zu nah waren. Mit plötzlicher, drängender Heftigkeit rief sich die Wirklichkeit in ihren Kopf zurück. Schritte. Es waren definitiv Schritte, die immer näher kamen.
Was sollte sie jetzt tun? Zusammengerollt liegenbleiben und hoffen, daß man sie übersah? Aber das war unwahrscheinlich. Und vielleicht waren es ja auch Lukas und Tiff, die ihr gefolgt waren?
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und sah auf. Nichts. Keine Menschenseele. Und, was noch besser war, keine Geister. Aber was hatte sie dann gehört?
Da. Schon wieder. Das Geräusch von Füßen, die auf Kies knirschen. Marion erhob sich mit letzter Kraft und hielt sich mit den Händen am Grabstein der verstorbenen Alina fest. Des Mädchens, das niemals länger als einen Tag hatte leben dürfen...
Marion war mit den Nerven am Ende. Es gab kein Vor und kein Zurück mehr, egal, wohin sie sich wendete. Es gab nur noch diese unwirkliche Angst vor allem, was überhaupt sein konnte. Wie konnte ein Mensch nur so unglaublich verdrehte Gedanken haben wie sie? Was sie sich in den Schatten überall um sich herum ausmalte, war schlimmer als alles, was eigentlich Realität sein konnte. Es war so bedrückend, daß ihr vor Furcht schlecht wurde und sie sich übergab.
Sie hätte ihre Freunde niemals alleine lassen dürfen. Egal, ob die beiden nun vor ihr aus der Gruft herausgekommen waren oder danach... sie hätte nicht weglaufen dürfen.
Marion zuckte zusammen, als die Schritte ein drittes Mal ertönten, diesmal genau hinter ihr. Sie drehte sich um und starrte schreckerfüllt ins Antlitz von Nabby. Doch es war nicht mehr die Nabby aus Fleisch und Blut, die hinter ihr stand, sondern ein bloßes Abbild von ihr. Eine bläulich schimmernde Gestalt, die nur noch die Züge und diese markante Gesichtsform hatte...
"Nabby..."
Der Geist blickte sie aus toten Augenhöhlen an. Alles, was vielleicht einmal in diesen Augen geschlummert hatte, war unwiederbringlich ausgelöscht. Er streckte einen Arm aus und berührte Marion, und schlagartig fühlte das Mädchen eine stechende Kälte an der betreffenden Stelle. Doch Marion konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr weglaufen. Todesängste und -sehnsüchte zugleich mischten sich in ihr, weil sie dieser Nacht, dieser Furcht, diesem Leben einfach nur noch entkommen wollte.
Sie fühlte, daß ihr Körper nach hinten taumelte, obwohl sie selbst das gar nicht wollte. Ihr Fuß verfing sich irgendwo, und sie stürzte rücklings dem Boden entgegen. Ein spitzer Stein rammte sich in ihre Wade, ausgerechnet an dem Bein, wo die Metallstange sie verletzt hatte. Der Schmerz brachte Marion wieder zurück ins Leben. Ohne noch einen Blick auf den Geist Nabbys zu werfen, richtete sie sich auf und sprintete trotz aller Verletzungen davon. Ein Blick nach hinten zeigte ihr nur den einsamen Grabstein, keine Nabby.
Während sie rannte, bemerkte sie, daß sich alles um sie herum zu verändern begann. Die Schatten am Boden und in den Büschen verharrten nicht mehr dort, wie sie hätten sein sollen, sondern bewegten sich mit ihr mit. Der Weg wurde enger und enger, und Marion hatte Schwierigkeiten, sich von den Büschen fernzuhalten, die am Rande wuchsen. Bäume ließen ihre Äste wie gierige Klauen über dem Weg baumeln. Geräusche drangen an ihr Ohr. Schlimme Geräusche. Sie klangen wie kummervolle Schreie oder langgezogenes Stöhnen.
Plötzlich erwischte einer der langen Äste sie am Arm, und obwohl Marion nicht sah, daß er sich bewegte, hielt er sie fest umklammert. Wild und beseelt vom Drang, sich zu befreien, schlug sie um sich und stolperte auf den Baum zu. Der Ast an ihrem Arm fügte ihr eine tiefe Fleischwunde zu, und mit einem Mal hingen sie überall, die knöchernen Finger des Baumes. Immer mehr verfing sich das Mädchen in ihnen, und bald spürte sie die hölzernen Einstiche überall an ihrem Körper. Sie trat und schlug und strampelte, doch ohne Erfolg. Als ihre Kraft endlich verebbt war, hing sie blutüberströmt und voller tiefer Einschnitte am Baum. Sie keuchte und wußte, daß es mit ihr zu Ende ging. Der Blutverlust war zu hoch, sie spürte schon die Benommenheit und kämpfte nur noch symbolisch dagegen an.
Nabby stand ihr gegenüber, war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Und als Marion die Augen ein letztes Mal öffnete, hallte ihr Schrei im geisthaften Angesicht des Todes durch die Nacht.

"Das war Marion."
Lukas nickte. Er stand Rücken an Rücken mit seiner Schwester und beobachtete die finsteren Büsche.
"Glaubst du, daß sie tot ist?"
"Nein, das glaube ich nicht. Ich bin mir sicher."
Tiffany sank vor Ohmacht, etwas zu unternehmen, in sich zusammen, stützte sich aber gegen den starken Rücken ihres Bruders. "Es scheint, als würden sie uns nur einzeln fertigmachen können. Thomas, Marion... wahrscheinlich auch Nabby... sie haben sie alle erwischt, als sie allein waren."
"Aber sie wollten uns auch schon in der Gruft holen, und da waren wir zu dritt."
Tiffany sagte nichts, sondern dachte nach.
Lukas überlegte ebenfalls und kam zu der Erkenntnis: "In der Gruft selbst war, soweit ich das beurteilen konnte, kein Geist. Irgendetwas hat den Dingen, die dort unten waren, ein geisthaftes Leben eingehaucht, aber es war kein Geist dort."
"Vielleicht doch." Tiffany schluckte hart. "Vielleicht müssen Geister nicht immer wie Geister aussehen. Vielleicht können sie leblose Gegenstände und Dinge einfach... beseelen."
"Warte!" Lukas hatte einen Einfall. "Wenn das stimmt, dann..."
"Dann was?" Tiffany zitterte am ganzen Körper. Sie standen nun schon seit mehreren Minuten hier draußen und hielten Wache, während der eisige Wind ihnen über die Haut strich.
"Dann müssen wir es doch irgendwie schaffen können, sie dazu zu bringen, etwas totes zum Leben zu erwecken..."
Tiffany hob die Brauen. "Mit welchem effektivem Nutzen?"
"Daß diese Dinger uns dann nicht mehr verfolgen können. Überleg doch einmal: Ein Geist besteht nur aus elektromagnetischer Strahlung... wie soll er uns gefährlich werden? Wie soll er uns angreifen? Er hat nichts! Er besteht nicht aus irgendeiner 'Substanz'... alles, was er machen kann, ist, Dinge zum Leben zu erwecken oder sich selbst in Dinge hineinzuversetzen oder was weiß ich! Ansonsten hat er keinerlei Chance, uns gefährlich zu werden!"
"Und diese Geisterratten? Sie haben gebissen. Sie haben richtig zugebissen."
"Ich... was weiß denn ich? Vielleicht liege ich ja falsch. Vielleicht können sie in beschränktem Maße ihre Substanz... verhärten oder so... aber ich bin mir sicher, daß sie ganz anders handeln würden, wenn sie uns einfach so, wie sie sind, in die Finger kriegen könnten. Nein, meine Liebe." Lukas lachte leise. "Diese Wichser können uns nicht einfach so erledigen. Sollen sie mit ihrer Umwelt machen, was sie wollen. Aber uns werden sie nicht bekommen."
"Und was schlägst du vor, was mir nun machen sollen?"
"Ich habe da eine Idee! Komm mit, wir müssen zu der Stelle, an der mein Blitz-Generator explodiert ist."
Es hatte sich bis jetzt kein Geist gezeigt, und auch während Lukas am Generator herumwerkelte, ließen sich die bläulichen Wesen nicht blicken.
"Könntest du dich beeilen mit dem, was du machst? Was immer das auch ist."
Lukas zog mit aller Gewalt an einem kleinen Etwas, das aus der geborstenen Maschine herausragte, und letzten Endes purzelte er mitsamt dem Teil auf den Hintern.
"Und hab es schon."
"Was ist das?"
Lukas lächelte vielsagend und fügte kleine metallene Teilchen zusammen. Ein Glück, daß an solchen unfertigen Werkprojekten immer eine kleine Werkzeugtasche hing. "Noch zwei Minuten, Schwesterherz, und du wirst staunen."
Tiffany hoffte, daß die Geister ihnen diese zwei Minuten noch geben würden, bevor sie ungeduldig wurden, aber ihre Bedenken wurden durch einen heiseren Jubelschrei ihres Bruders zerstreut.
"Fertig. Ha! Damit machen wir ihnen Feuer unterm Arsch."
"Erklärst du mir, was das ist?"
"Nun, du weißt doch, wie ein Elektroschocker aussieht, oder?"
"Naja, das ist ein Stab, der oben eine u-förmige Öffnung hat. Und zwischen den beiden oberen Enden entsteht eine Entladung, oder?"
"Genau. Nur, daß ich dieses Ding hier gerade ein wenig umkonfiguriert habe. Hätte nicht zu glauben gewagt, daß der Blitz-Generator doch noch was Gutes für uns bereithält. Aber ohne diese kleinen Gimmicks, die wir zum Bauen von dem Ding benötigt haben, hätte ich das hier nie zusammenschrauben können..."
"Bitte laß dein Technikgeschwätz und komm zur Sache."
"Gut. Siehst du diesen Hebel hier? Wenn du den nach oben klappst, dann passiert das Gleiche wie bei einem Elektroschocker. Aber meine kleine Erfindung hat - laienhaft ausgedrückt - so etwas wie eine Umkopplung drin, die die Entladung dann nicht zwischen den Polen stattfinden läßt, sondern sie nach draußen wirft..."
"Heißt das, daß da vorne an der Spitze dann ein kleiner Blitz rauskommt?"
"Ob er klein ist, kann ich nicht sagen. Ich habe keine Ahnung, wie groß er sein wird. Möglich, daß er einige Meter Reichweite hat. Oder eben, je nachdem soweit reicht, bis er auf etwas trifft."
"Kriegst du da keinen Schlag?"
"Nö. Hab alles gut isoliert."
Tiffany nickte. "Und was hast du jetzt mit diesem Ding vor?"
"Das zeige ich dir, sobald einer von diesen Wichsern sich einbildet, er könne irgendwas beseelen..."
"Dann sollten wir jetzt versuchen, von hier zu verschwinden."
"Yeah, Baby." Lukas ließ den Elektroschocker zwischen den Fingern kreisen. "Let's go and kick some buttock!"

"Irgendwelche Anzeichen?" Lukas war wachsamer denn je. Langsam liefen die beiden Rücken an Rücken über die Friedhofswege, immer weiter auf den Ausgang zu.
Tiffany schüttelte den Kopf. "Mmh-mmh."
"Verdammt, das macht mich noch nervöser als wenn sie sich irgendwie zeigen würden!"
"Ich weiß. Ich weiß." Tiffany klang besänftigend. "Sie werden sich zeigen. Sie werden uns nicht einfach so gehen lassen. Nur haben sie hier draußen größere Schwierigkeiten, etwas zu finden, dem sie Leben einhauchen können."
"Nun. Laß es uns hoffen." Kälte hatte sich in Lukas' Stimme geschlichen. "Hörst du nicht auch etwas?" fragte er nur kurze Zeit später.
Tiffany lauschte angestrengt. "Klingt wie... ein Schaben. Oder ein Rascheln."
"Ja. Sie wollen uns verrückt machen. Sie zeigen sich nicht so offensichtlich. Sie wollen uns absichtlich verrückt machen, denn wenn wir Hals über Kopf vor ihnen flüchten, können sie uns leichter kriegen. Ignoriere diese Geräusche, aber achte trotzdem darauf, woher sie kommen. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen."
"Alles klar."
Schatten rauschten vorbei. In wenigen Schritten schienen sie mehr Weg zurückzulegen, als eigentlich möglich war. Doch die Wegkulisse veränderte sich nicht. Tiffany beschlich ein mulmiges Gefühl.
"Sie beobachten uns, Lukas."
"Glaubst du, daß sie uns hören und verstehen?"
"Nenn mir einen vernünftigen Grund, warum sie es nicht tun sollten."
Lukas senkte seine Stimme zu einem Flüstern. "Dann sollten wir vielleicht nicht mehr soviel reden."
"Doch. Solange wir reden, wissen wir, daß mit dem anderen alles in Ordnung ist. Ich fühle dich zwar an meinem Rücken, aber das mag noch lange nichts heißen."
"Du kannst wirklich sehr berechnend sein, Schwesterherz."
"Ich will uns nur heil hier herausbringen."
"Dann sollten wir versuchen, herauszufinden, was sie gerade tun. Spürst du's nicht auch? Sie machen etwas mit uns... oder mit der Umgebung..."
"Jepp."
"Alles scheint in Bewegung zu sein. Mehr, als es sein sollte."
Tiffany kniff die Lippen so fest zusammen, daß sie eine weiße Linie bildeten. Die Büsche. Sie waren der Schlüssel. Die Bäume konnten sich nicht unauffällig verändern, ebensowenig wie die Grabsteine zu den Seiten. Nur die Hecken und Büsche waren so verwaschen, daß sie dieses Gefühl von Bewegung erzeugen konnten.
"Es sind die Büsche."
"Was?"
Tiffany wiederholte es, flüsterte diesmal etwas lauter.
"Bist du sicher?"
"Ja."
Lukas nickte. Er richtete den provisorischen Schocker auf die Pflanzen zu seiner Rechten, doch er zögerte, legte den Auslöser noch nicht um. Dieses Ding konnte gefährlich werden. Er wußte nicht, wie es reagieren würde, und ob die Konstruktion wirklich sicher war. Die Chancen, daß sie überhaupt funktionierte, standen fifty-fifty. Aber das hatte er Tiffany nicht mitgeteilt. Immerhin hatte sie genügend andere Sachen, um sich den Kopf drüber zu zerbrechen.
"Bitte berühr mich nicht, während ich den Schocker bediene."
Tiffany nickte und richtete sich auf, so daß ihr Rücken den seinen nicht mehr berühren konnte. Mit Falkenaugen behielt sie die Umgebung im Auge, die noch immer so auszusehen versuchte, als würde sie ihnen einen Streich spielen wollen.
"Und los." Der Hebel klackte, und ein blauer Blitz zuckte aus dem Elektroschocker, zwirbelte sich durch die Luft und prallte auf die Büsche, in denen er zerfaserte. Fast zeitgleich wurden überall um sie herum in den Gewächsen blaue Gestalten sichtbar, durch die Elektrizität in ihre ursprüngliche Form zurückgeworfen. Es funktionierte.
Mit angehaltenem Atem und angespannten Muskeln beobachteten Lukas und Tiffany, wie die Gestalten sich wie in Pein in den Büschen wanden, sich herauszerrten und kurz darauf eins mit dem Hintergrund wurden.
"Verdammt, das hat geklappt!" Lukas grinste breit. "Sieht so aus, als hätten sie Schwierigkeiten gehabt, sich in festem Material aufzuhalten, während sie selbst fast materiell sind! Ha!"
Mit einem erleichterten Stoßseufzer ließ Tiffany ihren Atem entweichen und erlaubte sich ebenfalls ein zufriedenes Lächeln.
"Mit diesem Ding schaffen wir's" sagte sie und wußte, daß das tatsächlich der Fall sein könnte.
"Hast du noch immer das Gefühl, daß wir beobachtet werden?"
"Seltsamerweise ja."
"Dann nichts wie weg hier. Wir können schlecht die ganze Umgebung elektrisieren."
Wie zwei Guerillas schlichen die beiden weiter, immer auf der Suche nach etwas, das nicht natürlich aussah. Irgendwann grunzte Lukas erbost, richtete seinen Schocker auf einen Grabstein und legte den Hebel um.
Blaues Licht zuckte durch die Luft, traf das Objekt des Anstoßes und enthüllte eine geisterhafte Gestalt, die sich im Stein wand. Sie ragte zu manchen Seiten daraus hervor, doch hauptsächlich war sie darin gefangen und konnte sich nicht losreißen.
"Das ist unglaublich" murmelte Lukas und schaltete den Apparat aus. Sofort wurden die Linien um das unirdische Wesen dünner, und es floß aus dem Grabstein heraus und verschwand in der Nacht. "Wir können sie festhalten. Solange sie etwas beseelen, sind sie eins mit damit. Wenn sie dann wieder in ihre tatsächliche Gestalt zurückkehren und das Material zu fest ist, sind sie gefangen!"
"Ja, das ist wirklich unglaublich. Aber wir hauen jetzt trotzdem hier ab." Tiffany machte sich Sorgen. Vorhin war Lukas noch ganz darauf bedacht gewesen, diesen Geistern zu entfliehen. Und wenn er mit dem Herzen bei einer Sache war, dann war er wirklich wahnsinnig gut darin! Aber jetzt hatte sein Köpfchen etwas neues gefunden, womit es sich beschäftigte. Und das war nicht gut. Das war gar nicht gut.
"Los jetzt, Lukas. Wir müssen fliehen, solange sich noch die Gelegenheit bietet! Wenn sie erstmal herausgefunden haben, wie sie unserem Schockeffekt entgegenwirken, dann ist es aus für uns!"
Zum Glück erkannte Lukas den Ernst der Lage, und beide begannen sie, schneller zu laufen.
Sie hatten noch keine große Distanz zurückgelegt, als Lukas abrupt stehenblieb und Tiffany ihn fast umwarf, als sie gegen ihn stieß.
"Was zum..." setzte sie an, dann drehte sie den Kopf und sah den Grund für Lukas' Halt.
Vor ihnen auf dem Weg stand Marions Geist. Er wirkte verloren und hilfesuchend. Mit ausgestreckten, flehentlichen Armen lief er enervierend langsam auf Lukas zu, und die toten Augen wirkten, zusammen mit dem geöffneten Mund, einfach nur mitleiderweckend.
"Marion." Tränen liefen über Lukas' Wangen. Tränen der Reue und der Hoffnung. Er hatte einen Fehler gemacht, als er sie allein gelassen und seiner Schwester geholfen hatte. Tiff war ein starkes Mädchen, sie wäre auch selbst klar gekommen. Aber er hatte seine Freundin im Stich gelassen, und das arme Mädchen war hier umgekommen!
Tiffany bemerkte zu spät, daß Lukas nicht die Absicht hatte, diesem Geist zu entfliehen. Sie brachte noch einen lauten Warnruf heraus, doch ihr Bruder lief seiner ehemaligen Freundin bereits entgegen. Er wollte Marion in die Arme nehmen, sie halten und ihr sagen, daß er es nicht gewollt hatte. Wie vielen Menschen bot sich schon die Gelegenheit, mit einer geliebten Person zu sprechen, die gestorben war?
Doch noch bevor er sein Mädchen erreicht hatte, veränderte sich ihr Gesicht und ihre Haltung. Was Mitleid und Trauer zum Ausdruck gebracht hatte, wurde hart und eisig. Die toten Augen finster, der offene Mund zu einem Zähnefletschen. Die Haare zerzausten sich, als würden sie von einem Geisterwind durchweht, und ihre liebliche Haut war plötzlich übersät mit Rissen und Wunden. Die schimmernde Kleidung zerfetzte sich, und was Lukas nun gegenüberstand, war nur noch eine häßliche Maske des Todes.
Mit einem gezielten, festen Schlag auf den Arm ließ sie solch bitteren, eisigen Schmerz in Lukas aufwallen, daß er den Elektroschocker fallen ließ und laut aufschrie. Geistesgegenwärtig hechtete er zu Boden, um nach der Waffe zu greifen, doch er verfehlte sie, prallte mit dem Ellbogen dagegen und schleuderte sie völlig außer Reichweite. Schon befand sich Marion über ihm, und ihre spitzen Zähne rissen ihm Haut und Kleider auf.
Vor Schreck wie gelähmt wollte Tiffany eingreifen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie brach einfach nach vorn zusammen und schlug schmerzhaft mit den Knien auf den Kiesboden. Sie sah, wie Lukas sich am Boden wand und versuchte, sich aus der todbringenden Umarmung seiner einstigen Freundin zu retten, als etwas anderes ganz in seiner Nähe sich zu bewegen begann.
Tiffany sah es kommen. Am Grab, neben dem Lukas um sein Leben kämpfte, stand ein mächtiges steinernes Kreuz, das nun zu kippen drohte und sich aus seiner Verankerung löste. Tiffany schrie aus vollem Halse Warnungen und suchte wie wild nach dem Schockgerät, als das knirschende Geräusch von bröckelndem Stein sie aufsehen ließ. Das große Symbol Christi stürzte Lukas und dem Geist entgegen, und überrascht von dem Lärm blickte Tiffanys Bruder nach oben. Das steinerne Kreuz zertrümmerte ihm das Gesicht, als bestünde es aus Pudding.
Tiffany keuchte entsetzt, doch dann schaltete sich ihr Überlebenswille ein und sie griff nach der Waffe, die sie endlich auf dem düsteren Boden ausfindig gemacht hatte. Im letzten Augenblick hob sie den Schocker und legte den Hebel um. Die blauen Zungen, die daraus hervorschossen, leckten sogleich an der dämonischen Gestalt Marions und ließen nicht mehr von ihr ab. Im Gegenteil, der Geist schien sich geradezu vollzusaugen mit der Elektrizität, wurde immer dichter und besser sichtbar, bis er in einem unheilvollen Blau strahlte und den gesamten Weg hell erleuchtete. Tiffany hielt sich die Augen zu und den Schocker noch immer auf das verhaßte Wesen gerichtet.
Es gab einen zischenden Knall. Dann wurde die Welt mit einem Mal so dunkel, daß Tiffany glaubte, erblindet zu sein. Doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die zuckenden Strahlen, die aus ihrer Waffe herausschlugen und nun einfach ein paar Büsche trafen. Sie blinzelte. Sie hatte Marions Geist vernichtet.
Mit entschlossenem Blick richtete sie die Strahlen auf das Kreuz, das ihren Bruder erschlagen hatte, und entlarvte somit den Geist, der dieses steinerne Objekt beseelt hatte. Ohne die Möglichkeit, sich befreien zu können, wand sich die bläuliche Gestalt hin und her, bis auch sie nach einem grellen Lichtblitz und einem Knall Geschichte war.
Mit einem Ruck raffte sich das Mädchen auf und rannte den Weg entlang, immer in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete. Sie wußte, daß sie beobachtet wurde, aber sie wußte auch, daß die Geister wußten, was sie in der Hand hielt. Mit ein wenig Glück würden sie es nicht wagen, sie anzugreifen.
Nur Sekunden später lichtete sich der Weg, und einer der kleineren Ausgänge des Zentralfriedhofs kam in Sicht. Das Tor war hölzern, leicht gebaut und nicht gerade stabil, und Tiffany, die sich im vollen Sprint befand, machte sich nicht die Mühe, anzuhalten. Sie sprang kurz vor dem Tor ab, drehte sich in der Luft und warf sich mit ihrer Schulter sowie ihrer gesamten verbliebenen Kraft dagegen. Ohne Widerstand zu leisten zerbarsten die Holzleisten, und Tiffany prallte mit voller Wucht auf den Gehweg dahinter. Ein paar Holzsplitter in Armen und Beinen bereiteten ihr keine Sorgen, als sie sich, ihren Schwung ausnutzend, einfach abrollte, aufsprang und weiter rannte.
Ohne Pause lief sie über die Straßen, bis sie die Anwesenheit von Personen um sich herum wahrnahm. Viele der Anwesenden schenkten ihr verblüffte Blicke, doch das störte Tiffany nicht im Geringsten. Sie wußte nun wieder Menschen um sich. Echte, lebende Menschen. Und sie wußte, daß sie den Friedhof weit, weit hinter sich gelassen hatte. Sie war in Sicherheit! In Sicherheit!
Während des Laufens sank sie in sich, stürzte auf den kalten Boden, rollte sich zusammen und umklammerte ihre wunden Beine mit den Armen. Ihre Gedanken wehten zu ihren toten Freunden. Thommy, Nabby, Lukas und Marion... sie alle waren die Opfer dieses schrecklichen Versuchs geworden, den ihr Bruder aufgrund von reiner Neugierde gemacht hatte...
Sie wußte, daß sie nicht lange hier auf dem kalten Asphalt liegen bleiben würde. Die Menschen würden die Polizei rufen, und schon bald wäre sie in irgendeinem Krankenhaus und würde ein paar Beamten erzählen müssen, warum auf dem Zentralfriedhof die Leichen von vier jungen Leuten zu finden waren. Aber das lag noch so weit in der Zukunft, daß es nicht lohnte, sich Sorgen darüber zu machen.
Glücklich, zum ersten Mal heute abend wirklich glücklich, atmete Tiffany schwer aus und ließ sich von der Ohnmacht ergreifen, die schon lange auf diesen Moment gewartet hatte. In ihrer Rechten hielt sie noch immer den Elektroschocker so fest umklammert, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.

Schwarze Wolken zogen über den Friedhof hinweg.
Die schimmernde, geisterhafte Gestalt Nabbys blickte auf die zusammengekauerte, friedlich schlummernde Tiffany herab. Wie ein kleines Mädchen, das sich am Fußende des elterlichen Bettes zusammenrollt, lag sie dort, mitten im Gebüsch, zerschunden und zerkratzt. Sie würde niemals mehr erfahren, daß ihre glückliche Flucht nichts weiter gewesen war als ein geschicktes Spiel der Lichter und Schatten und vor allem des Wunsches, endlich zu entfliehen. Sie würde nie erfahren, daß sie allein durch ihre Sehnsucht, dem Friedhof zu entkommen, den körperlosen Wesen die wundervolle Gelegenheit geboten hatte, ihr genau das vorzugaukeln. Nabbys Geist blickte die anderen an und nickte. Gemeinsam machten sie sich über das schlafende Mädchen her...
 
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Kommentare  

määänsch! ein glück dass es noch tag ist! das thema ist zwar schon ein bisschen abgekaut aber echt super umgesetzt! klasse!
lg darkangel


darkangel (10.02.2007)

Eine ausgezeichnete, wenn nicht sogar hervorragende Geschichte!!! Sehr fesselnd und prima nachvollziehbar!
In dieser langen Geschichte sind mir lediglich 2 kleine Fehler aufgefallen, an deren Behebung es nicht mangeln sollte, und zwar:
1. Auf dem Friedhof, nachdem die Maschine explodiert ist, findet sich der Satz:" Einige Metallverstrebungen aufgerissen." Es fehlt ein Wort dort.
2. Nachdem ein Geist mit Hilfe des E-Schockers aus einem Grabstein vertrieben wurde, gibt es den Satz: "Solange sie etwas beseelen, sind sie eins mit damit." Hier ist ein Wort zu viel.
Das wars aber auch schon!
Großartige Schreibleistung! 5 Pts


Dr. Ell (08.02.2004)

*bibber* war das gruselig. Die Story ist echt fesselnd, man kann nicht aufhören sie zu lesen, auch wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt. Unheimlich spannend, auch wenn der Anfang vielleicht ein wenig zu einfach gemacht ist.
Ich kann nur sagen: Well done.

Sehr gut.


Redfrettchen (22.11.2003)

Das ist eine Geschichte der Superlative! Eine der besten, die ich je auf diesem Board (oder auch anderen) gelesen habe.
Die Existenz von Geistwesen, das Warum und Wieso einmal aus einem ganz neuen Blickwinkel erklärt. So wissenschaftlich, dass es logisch nachvollziehbar klingt.
Mit sehr viel Liebe zum Detail ausgearbeitet, Verzicht auf kitschiges Happyend, Dialoge flüssig und glaubhaft, atemberaubender Spannungsbogen, ausgefeilter Stil - die Geschichte hat alles, was eine gute Story ausmacht. Und aufgrund der Bilder, die während des Lesens in mir aufstiegen kann ich sagen, dass sie sich selbst als Filmvorlage ausgezeichnet machen würde.
Ich denke, Du hast einen neuen Fan!
5 Punkte


Gwenhwyfar (11.07.2002)

wow! sensationell!!!

 (10.06.2002)

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