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6 Seiten

Kälte

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Kai
Manchmal saß ich in der Küche und trank mit Konrad ein Bier. Wir lebten zusammen in einer WG, waren Studenten. Es gab noch Arne und Frieder. Uns verband keine richtige Freundschaft. Wir bewahrten unsere Nahrung im gleichen Kühlschrank auf und benutzten die gleiche, dreckige Toilette. Ab und zu trank ich mit Konrad ein Bier oder wir rauchten einen Joint. Arne mochte das nicht. Ich hielt ihn für schwul. Pure Vermutung, darin war ich gut. Von Frieder sah oder hörte man nicht viel. Er lebte für und mit seiner Freundin, wozu er bei uns Miete zahlte war allen ein Rätsel. Konrad ähnelte mir von diesen Gestalten am ehesten, deshalb verbrachten wir manche Stunde in der Küche.
Ich war kein besonders guter Student aber auch kein Schlechter. Vielleicht etwas faul, was eventuell an der guten sozialen Stellung meines Vaters lag. Geldsorgen kannte ich nicht. Manchmal, wenn zum Beispiel die Toilette vor meiner Benutzung von Arne besucht wurde, fragte ich mich warum ich diese Typen nicht zum Teufel schicke, die Wohnung auflöse und mir ein schickes Einzelappartement miete. Das Problem war, das ich das Alleinsein nicht sonderlich gut vertragen konnte. Ich brauchte Menschen um mich herum, oder noch besser unter mir. Das wurde zwar auf Dauer auch langweilig aber es erfüllte die meiste Zeit seinen Zweck. Wichtig waren nur die, die neben mir standen, meine wenigen Freunde.
Wie jeden Donnerstag besuchte ich, sehr früh am Morgen, die derzeit einzige von mir gehörte Vorlesung. Dieser Morgen war, schon allein wegen der Uhrzeit, scheiße. Es roch förmlich danach. Eine Toilette ohne Fenster ist furchtbar. Irgendwann, sagte ich mir immer, ist Schluss damit. Was mich beim Verlassen des Hauses wieder etwas besser stimmte war die Temperatur. Für einen Januarmorgen war es geradezu verdammt mild. Dunkelheit herrschte trotzdem und so wunderte ich mich nicht weiter, sondern sah es positiv. Darin war ich gut. Die Vorlesung war langweilig aber der Tag bekam durch sie so etwas wie einen Sinn. Das war wohl der Grund, warum ich mir das jeden Donnerstag antat. Ich beobachtete eher die Gestik und Mimik des Vortragenden als den Inhalt seiner Worte. Er war außerordentlich auf seine Vorlesung konzentriert und die gewohnten Späße oder Bemerkungen blieben aus. Auch das Verhalten einiger Kommilitonen erstaunte mich etwas. Einige, die sonst nicht zu den Aufmerksamsten gehörten, schrieben eifrig mit und zeigten erstaunlichstes Interesse. Bei anderen gab es nur ein Thema: die hohen Temperaturen an diesem Morgen. Ich gab wie gewünscht meinen Senf dazu aber eigentlich berührte es mich nicht sonderlich. Die plötzliche Veränderung einiger mir gut bekannter Kollegen versetzte mich mehr in Erstaunen. Hatte ich sie immer falsch eingeschätzt oder kann man sich innerhalb einer Woche verändern? Wie ich später feststellte, muss diese Veränderung innerhalb dieses Morgens eingetreten sein.
Auf meinem Weg nach Hause ging ich, wie üblich, über den Markt um einige Lebensmittel zu kaufen. Die Alte am Eierstand erzählte mir etwas vom Ende der Welt, welches durch eine Hitzewelle angekündigt wird. Ich ließ sie quatschen und kaufte vier Eier, "garantiert von glücklichen Hühnern". Wenn sie allerdings jeden Tag das Gequatsche ihrer Besitzerin anhören müssen dann wage ich die Aufschrift auf der alten Pappe zu bezweifeln.
In der folgenden Woche musste ich häufiger über das Erlebte nachdenken, da meine Beobachtungen immer verwirrender wurden. Auch Arne, der mich nicht mochte und aus diesem Grund nur so viele Worte wie unbedingt nötig waren mit mir wechselte, erzählte ungewöhnliche Dinge in Zusammenhang mit der anhaltend hohen Temperatur. Nun war der Zeitpunkt gekommen und ich hatte Entspannung dringend nötig. Mein Ziel war ein für solche Situationen wie geschaffener Club. Man kannte sich, trank, rauchte und quatschte. Nicht selten ging man dann in Begleitung nach Hause. Der Abend verlief wie ich es mir vorgestellt hatte. Alle Leute verhielten sich völlig normal und bald hatte ich meine seltsamen Vorstellungen vergessen. Wie zu erwarten traf ich eine, zumindest für einen Abend, interessante Person. In der WG war alles still und niemand bemerkte unsere Ankunft. Dummerweise funktionierte nicht alles so, wie es sollte. Das kommt vor und ist kein Grund zur Sorge, für mich jedenfalls nicht. Ich erschrak nicht schlecht, als mein Versagen für dieses scheinbar normale Wesen eine äußerst besorgniserregende Botschaft darstellte. Ich schmiss sie raus. Jetzt war das Maß voll.
Mir schien, ich war mir nach dieser Begebenheit fast sicher, man könne viele Menschen plötzlich in drei Gruppen einteilen: in der Einen fanden sich die Panikmacher, am besten von der Alten mit den Hühnern repräsentiert. Sie nahmen die Temperaturerhöhung zum Anlass, im extremsten Fall, einen Weltuntergang oder wenigstens andere unschöne Dinge zu befürchten. Diese Menschen sahen in den normalsten und bekanntesten Dingen plötzlich Zeichen, die auf irgend etwas hindeuten sollten. Die Personen der zweiten Gruppe verhielten sich völlig anders. Ich bildete mir ein, hier das Gegenstück zur Überempfindlichkeit der Ersteren sehen zu können. Sie kümmerten sich mit auffällig großem Energieeinsatz um ihre täglichen Pflichten oder um ihre Arbeit. Hätte meine nächtliche Begleitung zu dieser Gruppe gehört, so wäre die Situation mit Sicherheit eine Andere gewesen. Die, zugegebenermaßen ungewöhnliche, derzeitige Temperatur blieb hier völlig unbeachtet. Die dritte Fraktion bildeten scheinbar wenige Ausnahmen, und ein Treffen erfreute mich immer sehr. Ich stellte allerdings sehr bald und äußerst deprimiert fest, dass einzig und allein meine Wenigkeit imstande war, diese ganze Scheiße zu erkennen. Ich kam mir nun völlig verlassen vor. Die Einsamkeit der vorherigen Jahre, die ich mir nie eingestehen wollte, trat plötzlich in komprimierter Form auf.
Der einzige Lichtblick waren kleinere Kinder, die ausgelassen im Park spielten und keine Tendenz zu einer dieser Gruppen zeigten. Es war verrückt, ich fühlte mich in der Gesellschaft von schreienden Hosenscheißern am wohlsten. Die Älteren wurden wohl zu stark von ihren Eltern beeinflusst und ich nahm die Kinder nicht in meine Gruppierung auf, da ich diese Abteilung als eine sehr Kurzfristige erkannte. Die Erziehung wirkt sich in immer stärkerem Maße auch auf die Kleinen aus.
Wie können solch verrückte Verhaltensweisen zustande kommen? Angeblich sei die Evolution ein fließender Prozess. Vielleicht ist nun plötzlich eine bestimmte Erkennungsschwelle überschritten und ich, nur ich, kann die Auswirkungen bemerken. Warum hat dieser unglaubliche Selektionsdruck mich ausgespart? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle drei Gruppen behaupten können liegt nahe dem Nullpunkt. Verdammt, ich werde als einziger normaler Mensch aussterben.
Um nicht wahnsinnig zu werden nutzte ich immer öfter die Möglichkeiten, meinen Körper und damit auch meinen Geist zu berauschen. Ich hatte ein seltsames Gefühl im Schädel, der gestrige Joint war wohl etwas kräftig. Zufällig war Donnerstag und das einzig feste und sichere und deshalb unbedingt nötige war diese bereits erwähnte Vorlesung. Meine Stimmung verschlechterte sich maßgeblich, als ich vor verschlossenen Türen stand. War es der richtige Tag? Ich war mir sicher. >Der Universitätsbetrieb wird wegen Ausnahmezustands bis auf weiteres eingestellt< war dort zu lesen. Ein Aprilscherz konnte es auch nicht sein, da wir uns mitten im Januar befanden. Nun fiel mir auf, dass ich auf dem Weg zum Institut keinen einzigen Menschen auf der Straße gesehen hatte. Ich ging nach Hause, wurde aber noch weit vor dem Marktplatz in einen fremden Hauseingang gezogen. "Bist Du lebensmüde? Die wissen doch nicht zu wem du gehörst, ein Opfer für beide Seiten" sagte eine ängstliche Stimme. Ich wollte aufwachen. "Was passiert hier?" war das Einzige was ich herausbrachte. Die Darstellung der Situation durch ein, äußerst ansprechend aussehendes, junges Individuum ließ mich zum einen erschaudern, zum anderen war ich fast froh, dass scheinbar nun auch der Rest der Menschen diese Zweiteilung erkannt hatte. Ich hatte also Recht und es war keine bloße Einbildung. Die bevorstehende gegenseitige Bekämpfung lies allerdings nicht auf eine rosige Zukunft blicken. Wie von dem Mädchen richtig erkannt, war ich ohne Zeichen. Wie auch, ich bildete eine eigene Gruppe. Ich wusste, dass das nicht erklärbar ist und mein Selbsterhaltungstrieb zwang mich zu einer Entscheidung. Ich war nie ein Freund von Einteilungen und konnte, beziehungsweise wollte, mich nicht zuordnen lassen. Ich wollte Normalität, mit dem Mädchen einen Kaffee trinken gehen und sie nach ihrer Telefonnummer fragen, vielleicht zum Abschied ein zarter Kuss auf die Hand. Das konnte ich gut. Letzteres verwirklichte ich und ging nach Hause. Auf dem Weg über den leergefegten Marktplatz bemerkte ich, dass ich meine geliebte blaue Mütze verloren hatte und schloss nach kurzer Überlegung mit meinem Leben ab. Als ich später diese Entscheidung noch einmal Revue passieren ließ, kam ich zu dem Entschluss, dass die Wirkung der Droge vom vorherigen Tag wohl noch nicht vollkommen verflogen gewesen sein konnte. >Opfer für beide Seiten< hatte sie gesagt. Es sollte eine Selbstopferung werden aber niemand war vorhanden um mir behilflich zu sein. Als ich unbeschadet mein Ziel erreichte und mir ein Bier aus der Küche holte blieb beim Öffnen der Dose der Nagel meines rechten Zeigefingers im Verschluss hängen. Nimmt mir eine Krankheit die Entscheidung ab? Ich fühlte mich neben mir stehend, berührte immer wieder die Stelle, an der sich vor wenigen Sekunden noch ein kompletter Nagel befand, als könnte ich so eine schnelle Lösung herbeirufen, obwohl es wahnsinnige Schmerzen bereitete. Plötzlich ging die Tür auf und Arne kam mit einer Handgranate herein. Ich nahm an, solche Dinge findet man bei einem Ausnahmezustand und wunderte mich nicht weiter. Unglaublicherweise hatten sich meine Gedanken bereits an diesen Zustand angepasst, Blitzgewöhnung. Außerdem hatte ich bei der Bundeswehr mehrere Handgranaten zünden dürfen. "Leg das Ding langsam auf den Kühlschrank, ich kümmere mich darum" sagte ich ruhig. Den Schweiß trieb es mir dann doch auf die Stirn, als Arne mit dem Versuch begann, sich dieses im scharfen Zustand nicht ungefährliche Teil in den Mund zu stecken. Hatte ich ihn völlig falsch eingeschätzt? Gehörte er zu meiner Gruppe und konnte es nicht länger ertragen? Wenn Du jetzt Deine Zunge in seinen Mund schiebst gehen wir beide zum Teufel. Ich tat es und erwachte schweißgebadet auf dem Küchenboden.
Dieser Traum verfolgte mich noch einige Monate, wenn nicht sogar Jahre. Er war wahrscheinlich aber auch der Grund dafür, dass ich damit aufhörte, die Menschen genau zu beobachten. Es gab keinen Ausnahmezustand und ich war gesund, das genügte.
Mein Leben verlief in immer geordneteren Bahnen. Ich verließ die WG und damit mein unproduktives Dasein und zog mit meiner neuen Freundin zusammen. Die ständigen Zweifel, an allem und jedem waren nicht mehr zu finden; ich war glücklich. Selbst mein Studium mit angeschlossener Dissertation verlief zu meiner vollsten Zufriedenheit. Ich hatte nun einen Job an der Universität und ein absolut geordnetes Leben. Die Frau an meiner Seite war noch die selbe und ich dachte immer seltener an die Vergangenheit. Meine Arbeitszeiten waren relativ variabel, ich begann meist gegen neun, da ich mir den Unmut über frühes Aufstehen bewahrt hatte.
An diesem Donnerstag musste ich jedoch für einen Kollegen einspringen, und dessen Vorlesung, welche 8:15 Uhr stattfindet, übernehmen. Diese dunklen Januarmorgen waren nicht nach meinem Geschmack aber ich war pünktlich, wie immer. Im kleinen Kreis meiner Zuhörer fiel mir eine junge Studentin auf, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie war schön und schaffte es ungewollt, mich nervös zu machen. Ich sprach über Rassismus und seine Ursachen, drückte mich allerdings wenig präzise und verständlich aus, was nach der Vorlesung zu einem Ansturm Fragender führte. Das hübsche Wesen war auch darunter, wartete aber bis zuletzt. Als sie direkt vor mir stand begann sich mein Puls zu verschnellern. Sie fragte etwas zur Vorlesung und erwähnte beiläufig die hohen Temperaturen an diesem Morgen. Plötzlich beschleunigte sich mein Herzschlag und mir wurde schwindelig, so dass ich zu Boden fiel. Das Mädchen jedoch kümmerte sich nicht um mich, setzte ihre blaue Mütze auf und im Augenwinkel konnte ich erkennen, dass sie ohne sich umzudrehen den Hörsaal verließ.
Ich hörte den Krankenwagen vorfahren. Vor meinen geschlossenen Augen erschienen verschwommene Bilder.
 
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Kommentare  

Klasse!

Little Arithmetics (08.03.2004)

Surreal und voll krass...

Stefan Steinmetz (23.03.2002)

Also ich muss mal sagen. Ich fand nicht nur deinen Schreibstil gut, sondern auch die Geschichte an sich. Ich bin begeistert. Volle Punktzahl! Mach weiter so!

Julia D. (20.03.2002)

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