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4 Seiten

Vorbei

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Kristin
Er lag auf dem Rücken, still und unbeweglich. Von draußen konnte er das Zwitschern der Vögel hören. Ein neuer Tag, ein Tag wie jeder andere, und doch... Mit einem Seufzen zog er die Bettdecke ein Stück höher und schielte in Richtung Fenster. Er fühlte kein Verlangen danach, aufzustehen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die ungeputzte Scheibe. Es war bestimmt schon acht Uhr. Normalerweise würde er jetzt den ersten Kaffee durchs Revier tragen und auf dem Weg zu seinem Schreibtisch mit den Kollegen herumscherzen, vielleicht über das Spiel der Cubs diskutieren. Nicht heute. Nicht morgen. Nie mehr.

Zu alt - nicht mehr gebraucht.

Er war immer gerne Polizist gewesen. 37 Jahre lang, eine halbe Ewigkeit. Schien so, jedenfalls. Gestern hatte ihm der Captain die Hand gedrückt, ihm alle Gute gewünscht. Die Kollegen hatten ihn gefragt, was er denn nun - in seinem wohlverdienten Ruhestand - machen würde. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und mit gesenktem Blick weiter die Sachen von seinem Schreibtisch in einen Karton gepackt. Wie konnte man 37 Jahre einfach so in einen Karton packen? Das ging über seinen Verstand. Ein Blick auf die Uhr, 8:14 Uhr. Er sollte aufstehen, wirklich. Das war sonst nicht seine Art, im Bett herumzuliegen und sich selbst leid zu tun. Entschlossen schlug er die Decke zurück und schwang die Beine über die Kante.

Barfuß schlurfte er in die Küche. Na, auch wenn es nicht das Gleiche war, er konnte seinen Kaffee ja auch hier trinken. Wäre doch gelacht! Umständlich füllte er mehrere Löffel aus einer vergilbten Tüte in seine Kaffemaschine und goß das Wasser hinein. Als sie schließlich anfing zu laufen, verlor er sich wieder in Gedanken...

Klar - es war hart, es war nicht immer schön, es war manchmal ein gottverdammter Scheißjob gewesen. Aber es war sein Leben. Wie viele Male hatte er mit gezogener Waffe zusammen mit seinem Partner ein verdächtiges Gebäude durchforstet? Wie viele Male hatte er einem Verbrecher Auge in Auge gestanden? Wie viele Male hatte er in der Gerichtspathologie Tote identifizieren müssen? Er dachte an die Verwundungen "in Ausübung seiner Pflicht", die auf seinem Körper ihre Spuren hinterlassen hatten. Er dachte an die innere Anspannung, die er immer bei seiner Arbeit gefühlt hatte, selbst wenn sie nur einem Raser einen Strafzettel verpassen mussten. Man musste immer auf alles gefasst sein, ständig auf der Hut, die Möglichkeit im Hinterkopf behalten, plötzlich eine Kugel oder ein Messer zwischen den Rippen zu haben. Chicago war schon immer ein hartes Pflaster gewesen. Er würde es vermissen. Als Polizist sah man die Stadt auf eine ganz besondere Weise, von Seiten, die selten schön waren, aber er liebte Chicago, verdammt noch einmal, und er liebte seinen Job, seinen aufregenden, harten, gefährlichen Job! Nur, dass er diesen Job nicht mehr ausübte.

Im Ruhestand. Im Gott verdammten Ruhestand.

Der Kaffee war durchgelaufen und er goß sich eine Tasse ein, warf die üblichen zwei Stücke Zucker rein und vollendete das Ganze mit einem Spritzer Milch. ?Coopers Spezialmischung? hatten sie das auf dem Revier genannt. Keiner hatte sonst so seinen Kaffee getrunken, keiner. Jetzt würde es auch keiner mehr tun. Er seufzte, rührte einige Male kräftig um und nahm dann einen Schluck aus der Tasse. Es schmeckte nicht so besonders, er hatte wohl zuviel Kaffeepulver reingetan. Oder war die Milch vielleicht schon schlecht? Egal. Ob er mal anrufen sollte, um zu hören, wie es so lief? Nein, doch nicht am allerersten Tag seines Ruhestands. Das wäre erbärmlich, das würde fast so wirken, als ob er mit seiner freien Zeit nichts anzufangen wusste. Er versuchte sich einen Moment lang einzureden, dass das nicht stimmte. Als er keinen Erfolg hatte, ging er mit der Tasse in der Hand in sein Wohnzimmer und sah sich um. Viel Zeit hatte er in den Jahren, die er hier gewohnt hatte, nicht verbracht. Er hatte bisher keine Gedanken daran verschwendet, ob er sich in dem kleinen Appartement downtown auch wohl fühlte, ob er es sein Zuhause nennen konnte. Sein Zuhause war das Polizeirevier gewesen, hierher kam er nur, um sich auszuruhen und vielleicht mal ein bisschen fern zu gucken. Oder um in Ruhe ein Bier zu trinken. Es war einsam hier. Das fiel ihm plötzlich auf - einsam. Er war allein.
Es hatte früher schon mal die eine oder andere Frau in seinem Leben gegeben, aber sie waren alle wieder verschwunden. Vielleicht hatten sie gemerkt, dass er in erster Linie Polizist war. Vielleicht waren sie der vielen einsamen Abende, an denen er Überstunden gemacht hatte, überdrüssig geworden. Vielleicht hatte er ihnen einfach nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Neben der Liebe, die er seinem Beruf entgegengebracht hatte, war für eine Frau nie viel übrig geblieben.
So hatte er nie geheiratet und es auch nie vermisst. Er war immer der Meinung gewesen, kein Mann zum Heiraten zu sein, und die Frauen hatten ihm da auch über kurz oder lang beigestimmt. Er war Polizist, kein liebender Familienvater. Jetzt war er gar nichts mehr. Er seufzte noch einmal.

Außer einem alten Mann im Ruhestand.

Es war still hier. Er vermisste die geschäftige Hektik auf dem Revier, das Stimmengewirr und das Gelächter, wenn Wilson mal wieder einen unanständigen Witz erzählt hatte, das Klingeln der Telefone, die barsche Stimme des Captains, der oft brüllen musste, um sich Gehör zu verschaffen. Es war wirklich verdammt still hier. Er ging zum Fenster und sah auf den düsteren Hinterhof hinunter. Von irgendwoher kam Musik, klang nach Jazz, vielleicht Goodman oder Parker. Der Hof war verlassen und außer einiger schmutziger Mülltonnen konnte er nichts entdecken. Wieder rührte er in seiner Kaffeetasse, obwohl sich der Zucker schon vor einiger Zeit aufgelöst hatte. Schon jetzt fühlte er, wie die Untätigkeit ihm den Atem zu nehmen drohte. Er konnte hier nicht einfach tagein, tagaus herumsitzen und vor sich hin leben. Klirrend stellte er die Tasse auf den Couchtisch und ließ sich in den Sessel fallen. Fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, durch die Haare. Tief atmete er aus, und lehnte sich zurück, schloß die Augen. Stille, es war ganz still. Nur das eintönige Ticken der Wanduhr durchbrach die Stille. *ticktack* - *ticktack* Es war plötzlich unerträglich laut. Bald hörte es sich nicht mehr wie eine Uhr an, es schien eine Stimme zu sein, die ihm mit jeder Sekunde lauter zurief: "Tu was!Tu was!" Unwillkürlich hielt er sich die Ohren zu - doch die Stimme schien immer eindringlicher zu werden, direkt in seinem Kopf hörte er sie. Dann gesellte sich eine zweite Stimme dazu: "Nutzlos! Nutzlos!" - "Ja!"brüllte er plötzlich, als er es gar nicht mehr aushalten konnte. "Ja, ich weiß?" Du brauchst es mir nicht zu sagen. Lass? mich in Frieden!" Erregt sprang er wieder auf, wobei er die Tasse mit dem Rest seines Kaffees umkippte. Ein brauner Fleck breitete sich über den sowieso schon recht dreckigen Teppich aus. "Scheiße!" fluchte er halblaut und ließ sich wieder zurück in den Sessel fallen, die Hände über den Augen. Benommen hörte er das Rauschen seines eigenen Bluts in seinen Ohren, hörte, wie sein Herz in seiner Brust pochte. Als er die Arme sinken ließ und sich vorbeugte, um den Kaffeefleck in Augenschein zu nehmen, floß die braune Farbe vor seinen flimmernden Augen zu Wörtern... ?Nein...jetzt drehst du durch...? sagte er sich. Doch ganz deutlich stand da "Im Ruhestand". Mit einem erneuten Fluch rannte er in die Küche, holte sein Fleckensalz und kippte soviel von dem weißen Pulver auf die braune Schrift, bis sie nicht mehr zu sehen war. Erleichterung. Er atmete tief durch und horchte. Keine sprechenden Uhren oder schreibende Kaffeeflecken mehr. Nur noch die Stille. Die allgegenwärtige Stille, die ihn umgab.

Er sah auf die Uhr. 8:42 Uhr. Noch nicht mal eine halbe Stunde war er wach und schon kurz vorm Verrücktwerden. Das konnte doch nicht so weitergehen. Er musste etwas tun, er musste...aber was? Raus - er wollte einfach nur aus diesem Appartement und weg. Was anderes sehen, Menschen, Stimmen hören, die nicht in seinem Kopf waren.

"Du gehst jetzt einkaufen!" befahl er sich selbst.

Fünf Minuten später stand er unten auf der Straße. Es war ein warmer Junimorgen und das geschäftige Treiben auf Chicagos Straßen vertrieb vorerst das Gefühl der Einsamkeit. Das Leben ging weiter. Er würde jetzt zum Supermarkt gehen und etwas Schönes fürs Mittagessen kaufen, vielleicht noch ein paar Donuts. Vielleicht würde er sich auch einen Hund anschaffen, oder doch lieber eine Katze?

Das Leben war noch nicht vorbei.
 
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Kommentare  

Eine ganz tolle, eine sehr bildhaft geschriebene Geschichte, die das Gefühl und die Stimmung dieses Polizisten, der nun kein Polizist mehr ist, in diesem Schmelztiegel sinnlosen Verbrechens, messerscharf uns vor Augen führt. Diesbezüglich hast du mit der Millionenmetropole Chicago eine City gewählt, wie sie passender nicht mehr sein konnte. Und dazu noch diese unheimliche, fast schon gespenstisch anmutende Stimmung!
Ein echtes Meisterwerk, das du deinen Sinnen entlocken konntest!
LG. Michael


Michael Brushwood (10.07.2013)

Hallo, Kristin - sehr gerne gelesen!
Es ist etwas verwirrend, dass bei der wörtlichen Rede Fragezeichen gesetzt sind, das empfehle ich zu ändern.

Herzlichen Gruß, Gringa


Gringa (10.07.2013)

Klasse Geschichte. Arbeitsgeil und Spaß dabei. Kenn ich irgenwoher. Und Privatleben? Was ist das? Nicht erst mit 60, viel eher sind wir schon so tot. Merken es nur nicht so. Haben ja unsere Jobfamlie. Und so sitzen wir dann abends vorm tv oder pc und kommunizieren mit Gott und der Welt, aber unsere Nachbarn kennen wir nicht

Kath (29.04.2007)

Gut geschrieben. Da kommt bei mir die Angst hoch, wenn ich mal rentnerin bin...oje.( 5 Pkt.)

Amazone (02.05.2003)

Ganz schön arbeitsgeil. Ich würde Gott auf Knien danken, wenn ich endlich aus der verdammten Tretmühle raus könnte. Und das nicht erst heute mit Vierzig. Ich wäre schon mit Zwanzig dankbar gewesen, die Arbeit los zu sein.
Anders sieht es aus, wenn man einen Job hat, der einen wirklich ausfüllt. Dann fällt man mit der Pensionierung tatsächlich in ein Loch. Du hast uns zu Beobachtern gemacht. Deine Schilderung ist prima mit guten Details.
Feine Geschichte. Volle Punktzahl.


Stefan Steinmetz (09.09.2002)

Sehr gut geschrieben, diese Geschichte eines Menschen, der sein Leben lang falsche Prioritäten gesetzt hat - und jetzt hart mit der Tatsache konfrontiert wird, dass er durchaus ersetzbar ist. Dass es ohne ihn weiterläuft.
Gut finde ich, dass sich der Protagonist am Ende nicht umgebracht hat - viele Stories würden so enden. Hier jedoch sieht man den Hoffnungsschimmer. Und ich denke mir: Er schafft das. Hat ja schon Schlimmeres geschafft.
5 Punkte auch von mir.


Gwenhwyfar (12.07.2002)

die geschichte finde ich wirklich gelungen! man kann richtig mitfühlen mit dem mann. die einsamkeit, das kurz vor einer panik sein....
ich halte es ja mehr mit dem spruch (zumindest im moment): "ich lebe nicht für die arbeit, sondern ich arbeite, um zu leben"


kersti (07.06.2002)

echt klasse... eine ganz andere perspektive, besonders wenn man noch jung ist und gerade dabei ist in irgendeinen job einzusteigen. vielleicht überlegen wir oft zu wenig, wo wir unsere energie eigentlich am besten investieren. was passiert, wenn der job zur familie wird? ich möchte später nicht so ein waisenkind sein, daß sich nach den kollegen zurücksehnt...

once was Sam (27.03.2002)

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