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Heute gehörst du mir

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Ich stehe an deinem Bett und schaue auf dich hinunter. Ein dicker Kloß steckt in meiner Kehle fest und will sich nicht hinunterwürgen lassen, obschon ich schlucke und schlucke und schlucke. Vorhin, bei der Besprechung, als zum ersten Mal dein Name fiel, habe ich es zunächst nicht glauben wollen. Doch du bist es. Tatsächlich.

Ich hätte dich fast nicht erkannt. Nehme an, dass auch du mich nicht mehr erkennen würdest, selbst wenn es dir gelänge, die Augen zu öffnen. Zwischen unserem letzten Treffen und heute liegen gut zweiundzwanzig Jahre. Heute bin ich so alt, wie du damals warst. Ich hatte dich ganz anders in Erinnerung: Vollbusig, untersetzt, mit roten Wangen und immer gut gelaunt, wenn auch ein wenig scheu. Du wurdest schnell rot, schautest Leuten selten in die Augen. Aber du warst tapfer, denn wenn du kämpfen musstest, dann tatest du es, und rangst deine Scheu nieder.

Sieh nur, was sie dir jetzt angetan haben! Und wieder einmal hast du einen Kampf vor dir.

Ich habe dich damals sehr lieb gehabt, weißt du das eigentlich? Nein, natürlich nicht. Woher auch. Ich habe es dir nie zeigen dürfen. Sympathie darf man zeigen, bestenfalls, aber niemals Zuneigung, wenn man sich nicht lächerlich machen möchte. Ich hegte für dich immens starke Gefühle, wollte dich in die Arme nehmen und knuddeln, dich auf die Wange küssen, mein Gesicht in deinen Haaren vergraben. Ich weiß nicht, woher das kam. Vielleicht aus einem früheren Leben? Ein unschuldiges, asexuelles Verlangen - aber wie hätte ich dir das klarmachen können? Ich wollte dich nicht erschrecken, wollte nicht, dass du etwas Falsches von mir denkst. In der besten aller möglichen Welten müssen wir Angst haben zuzugeben, dass wir jemanden lieben.

Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit zurück. Ich war jung damals, knapp sechzehn, und kam gerade von der Berufsschule. Eine frischgebackene Büromaus, verschüchtert und voller Angst, etwas falsch zu machen. Unsere Chefin war ein Drache. Die elementarsten Höflichkeitsformen waren ihr fremd, oder sie hatte sie ihrer Meinung nach nicht nötig. Ich kann nicht zählen, wie oft du dich mit deinem breiten Rücken zwischen uns gestellt hast. Oder mich getröstet hast, wenn ich wieder mal völlig fertig war, mich nach einem Anschiß auf der Toilette eingeschlossen hatte und weinte. Zu dieser Zeit hat mir noch jeder hochtrabende Titel einen Heidenrespekt eingeflößt – da kannte ich die Menschen noch nicht so gut wie heute. Und wenn ich mal wieder kein Geld fürs Frühstück hatte und mir vor Hunger das Wasser in die Augen trat, dann warst du da und deine dicken Leberwurstbütterchen. Du hast nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren. Den selbstgestrickten Pullover, den du mir damals vermacht hast, habe ich heute noch. Er passt nicht mehr und ist längst aus der Mode, aber irgendwie konnte ich mich nie davon trennen. Er liegt irgendwo in den Tiefen meines Kleiderschranks, ein Souvenir aus halbvergessenen Zeiten.

Ich weiß noch, du warst verrückt nach Sonnenaufgängen. Die Unterlage auf deinem Schreibtisch war mit Sonnenaufgangs-Postkarten gepflastert, und auch an der Wand hinter dir hing ein großes, feuerfarbenes Poster in dem Verschlag, den wir damals teilten. Du hast mir mal gestanden, dass dein ganzes Zuhause einen einzigen Sonnenaufgang darstellt. Sonnenaufgänge auf Bildern, auf Puzzles, auf Kissenbezügen und Wandteppichen – und sogar auf deinen T-Shirts. Ich habe gelacht und erklärt, dass es mir mit Diddle-Mäusen genauso ginge.

Wir haben uns dann einfach aus den Augen verloren. Als ich erwachsen wurde und andere Wege ging, meinen neuen Beruf erlernte, Mutter wurde. Manchmal habe ich schon an dich gedacht. Wo du wohl bist, habe ich mich gefragt, was du wohl machst und ob es dir gut geht. Besonders, wenn ich jemanden traf, der dir auf irgend eine Weise ähnlich sah. Aber ich habe nie versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen, zumal unsere alte Firma später aufgehört hatte zu existieren. Der Gedanke, frei nach dem Motto "Hier bin ich, jetzt freu‘ dich" unvermittelt in deine Privatsphäre zu platzen, war mir unangenehm. Für einen solchen Schritt gab es keine Veranlassung.

Jetzt umkreise ich dein Lager, auf der Lauer, gierig nach jedem Brocken Information, den du vermittelst. Viel kommt da nicht. Ich studiere deinen Gesichtsausdruck und die Spannung deiner Muskeln mit weit geöffneten Pupillen, damit mir nur ja nichts entgeht. Ich schnuppere deinen Atem. Wie eine Liebende, die Angst davor hat, irgend ein kleines Signal, einen wichtigen Hinweis zu verpassen.

In den kommenden Stunden gehe ich meinen üblichen Verrichtungen nur widerwillig nach. Ich bin an diesem Tag den anderen gegenüber etwas kurz angebunden, habe keine Geduld und keine Nachsicht. Das mag vielleicht unfair sein, aber heute ist mir weder nach Smalltalk noch nach Rumgezicke. Alle Versuche in diese Richtung werden gleich im Keim erstickt. Ich will den üblichen Kram hinter mir haben. Die Türe zu deinem Zimmer habe ich offen gelassen, und wann immer ich den schmalen Spalt passiere, halte ich kurz den Atem an und lausche nach dem deinen. Du wirst zunehmend unruhiger.

Gegen halb drei ist die tägliche Routine erledigt, und jetzt kann ich mir endlich Zeit für dich nehmen. Ich stelle die Rufanlage auf dein Zimmer um und schließe die Türe hinter mir. Das schnurlose Telefon deponiere ich auf deinem Nachtschrank. Doch ich hoffe inständig, dass uns jetzt niemand stört.

Dass du geschieden bist, habe ich gelesen. Aber du hattest doch Kinder. Zwei, glaube ich, einen Jungen und ein Mädchen. Beide müssten so ungefähr in meinem Alter sein. Britta, und... wie hieß doch gleich dein Sohn? Seinen Namen habe ich vergessen. Ist ja auch unwichtig. Wichtig ist, dass sie jetzt nicht hier sind. Wut will aufsteigen, doch ich darf ihr keinen Raum geben. Hier und jetzt hilft sie uns beiden nicht weiter. Später vielleicht.

Heute gehörst du mir. Hier und jetzt darf ich dich endlich lieb haben, und du darfst meine Liebe annehmen, bedingungslos und ohne Angst, ohne Verlegenheit und falsche Scham. Jetzt bin ich alles, was du hast. Hätten wir uns das damals je träumen lassen?

Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und krabble hinter dir ins Bett. Dein Körper ist ganz kalt und bereits lila marmoriert. Du ringst nach Luft, zitternd, schnappend, und dein Gesicht sieht verängstigt aus. Ich ziehe dich in meine Arme und stelle das Bett so ein, dass wir beide bequem liegen können. Die erhöhte Oberkörperlage erleichtert dir das Atmen. Ich schmiege meinen warmen Körper an deinen kalten, verschränke meine Finger mit den deinen und atme langsam, tief und vernehmlich an dein Ohr. Es dauert nicht lange, und du reagierst darauf und nimmst meinen Rhythmus auf. Ich kann spüren, wie du dich entspannst. Die gerunzelte Stirn glättet sich. Ich kann zusehen, wie die Angst von dir weicht.

Stundenlang liegen wir so, ich halte dich in meinen Armen. Wenn ich ein Bedürfnis bei dir spüre, dann stille ich es, so gut ich kann. Ich streichele deine Arme, spiele mit deinen Haaren, flüstere dir beruhigende, kleine Belanglosigkeiten in dein Ohr, singe, summe und lache leise. Nur einmal verlasse ich dein Bett, um die Jalousien hochzuziehen, die Vorhänge zurückzuziehen und das Fenster weit aufzumachen. Kurz bevor es soweit ist.

Draußen geht gerade die Sonne auf. Über den Dächern der Stadt ist der Abschnitt des Himmels, den wir sehen können, eine einzige Explosion von Farbe und Licht. Lila mischt sich mit Rot, Rosa, Orange und Graublau, goldfarbene, von innen angeleuchtete Wölkchen segeln bandförmig dazwischen. "Der ist für dich", flüstere ich dir ins Ohr. "Geh! Ich wünsche dir was Schönes."

Ich bin ganz steif, als ich mich auf die Beine quäle und tue, was in einem solchen Fall zu tun ist. Ich ziehe dir alle Zugänge, wasche dein Gesicht, beziehe das Bett neu und räume dein Zimmer auf. Du siehst aus, als ob du schliefest und etwas Wunderbares träumtest. So glücklich, so zufrieden, so entspannt. Du bist so schön, dass ich am liebsten weinen möchte, wenn ich dich ansehe. Doch meine Augen bleiben trocken.

Ganz zum Schluss greife ich zum Hörer und mache meinen Pflichtanruf: "‘Morgen, Dr. Mertens. Hier ist Onko Drei, Schwester Angela. Frau Macholdt auf Sieben ist soeben verstorben. - Ja, ist gut. Kurve und Totenschein liegen im Arztzimmer. Was? Nein, ist nicht schlimm, jetzt eilt es ja nicht mehr. Ja, okay. Man sieht sich. Bis gleich."

Ich trete an das Fenster des Stationszimmers und proste dir mit einer Tasse Kaffee zu. Am Himmel verblassen die letzten Farben. Ein neuer Tag beginnt.
 
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Kommentare  

Schluck! Was soll ich da noch hinzufügen? Die Story als solche hat mich ganz schön gebeutelt. Zu wissen, daß sie auf der Wirklichkeit basiert macht sie noch eindrucksvoller. Einfach großartig.
Noch ein Wort zu Wolz: Warum muß man Liebe denn immer definieren und in eine Schublade stecken? Es gibt soviele Arten von menschlicher Zuneigung. Man kann auch seine Mutter, seinen Bruder, seinen Freund lieben, ohne daß Sexualität damit zu tun hat. Und der Wunsch nach Berührung drückt doch einfach den Wunsch nach Verbundenheit mit dem anderen aus, egal um welche Art von Liebe es sich handelt.


Tom (30.09.2003)

Wolz... da war wohl jemand etwas sehr gefühlsblind, um nicht zu sagen gefühlsverwehrend, mitte des letzten Jahres....
Von mir gibt's hierfür auf jeden Fall fünf Punkte.
Und obwohl ich selbst bi bin, sehe ich hier überhaupt keine homosexuellen Tendenzen, im Gegenteil... ich denke, das Wort "asexuell" (steht irgendwo in der Geschichte) klärt das sehr eindeutig.

Graf Zahl (*****)


Graf Zahl (05.03.2003)

Kleine Träne verdrückt. Vor Rührung sprachlos.
5 Punkte


Norma Banzi (18.01.2003)

Wirklich sehr schön rührend. Habe wegen der Geschichte meinen Bus verpasst.
Das ging richtig unter die Haut


Julia (15.12.2002)

An alle, die das hier vielleicht noch lesen werden: Diese Geschichte basiert auf einem realen Erlebnis der Autorin. Sie ist von Anfang bis Ende, sowohl was das äußere Szenario als auch was die Gedanken und Gefühle betrifft, tatsächlich so passiert.
Was sich dabei in der Autorin verändert hat? Ich habe damals lernen müssen, dass es keinen Satz gibt, der leerer und sinnloser ist als einer, der mit "hätte ich doch" beginnt. Hätte ich ihr doch etwas mehr Zuneigung gezeigt, als sie noch etwas damit anfangen konnte. Hätte, hätte...aber jetzt ist es zu spät. Wir fürchten die Welt zu sehr.
Wolzenburgs Reaktion ist typisch: Mit dem Finger draufzeigen und "lesbisch" brüllen! - Früher hätte ich vieles unterlassen aus Furcht, eine solche Reaktion auszulösen. Dieses Erlebnis war jedoch so prägend, dass ich heute aber darauf pfeife. Es gibt Schlimmeres als die vorschnellen Urteile anderer, die nichts kapiert haben. Die Stimme des eigenen Gewissens, beispielsweise.
Das war die eigentiche Botschaft der Geschichte. Ist sie nicht 'rübergekommen, habe ich etwas falsch gemacht.
Zum Schluss noch eine private Info über die Autorin: Diese Frau ist verheiratet, zweifache Mutter, weder lesbisch noch bi und heute keine Krankenschwester mehr.


Heike Sanda (27.11.2002)

Ich kann darin nichts lesbisches entdecken. Im Gegenteil.
Wer kennt nicht die Zuneigung zu einer Person, die in Momenten größter Unsicherheit, wie eine große Eiche Schutz bietet.
Es hat für mich mehr etwas kindlich abhängiges als Homosexuelles.
Es gibt wohl kein größeres Dankeschön als einen Menschen auf dem Weg in den Tod zu begleiten.

Ich habe keine Ahnung, wie die Autorin es nun wirklich gemeint hat, aber mich hat es auf alle Fälle sehr berührt.


Angela (23.09.2002)

Und noch eine Story aus dem Medizinbereich.
Trotz Mann und Kind hat Schwester Angela ihre lesbische Veranlagung nie ganz ablegen können.
Ist das Verlangen nach ihrer Ausbilderin durch die Hilfe entstanden oder durch die Liebe die sie ihr gab? Wie dem auch sei,aus den Augen aber nicht aus dem Sinn.Jetzt liegt die Frau Macholt ausgerechnet auf der Station wo Angela arbeitet.
Die Chance für Angela ihrer heimlichen Liebe endlich näher zu kommen.
Kurz bevor Frau M.in die ewigen Jagdgründe geht bemerkt Angela die innere Unruhe der Frau M.Angela legt sich zu Frau M. in's Bett und erreicht durch Zärtlichkeiten Frau M.zu beruhigen.Aber ist es nicht auch so,das Angela die Situation ausnutzt um wenigstens einmal in ihrem Leben körperlichen Kontakt zu Frau M. zu haben,endlich mit der geliebten Person Berührungen auszutauschen,wenn auch nur von Angela's ausgehend.Wohlmöglich möchte die wehrlose Sterbende das garnicht.
Grenzt das nicht an eine Vergewaltigung ?
Schöne Geschichte mit ungewöhnlichem Schluss.
Wieder mal muss ich Dir die volle Punktzahl geben.


Wolzenburg (26.06.2002)

Arbeitest du als Krankenschwester oder in der Pflege? Deine Geschichten greifen das Thema immer wieder mal auf.
Auch Gevatter Hein mit Sense und Stundenglas spielt wieder mit. Abermals ist er eher ein netter Bursche, nicht die comic-hafte Grauensgestalt, die gewöhnlich durch unsere Köpfe geistert.
Anrührend ist sie, deine Geschichte. Weckt Gefühle und das sollte eine gute Geschichte auch tun. Egal ob Freude oder Hass, ob Wut oder Abscheu, ob Heiterkeit oder Trauer...nur Sterilität ist verboten. Feines Geschichtchen.
5 Punkte.


Stefan Steinmetz (12.06.2002)

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