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Dich trifft keine Schuld

Erotisches · Kurzgeschichten
Der kurzgeschorene Laufjunge des großen Aktienunternehmens trug eine eng anliegende, mit zwei Reihen Messingknöpfen verzierte Uniform, auf der man, da sie grau war, kein Stäubchen sehen konnte. Er öffnete die Tür zum Zimmer, wo fünf Sekretärinnen sassen und fünf Schreibmaschinen klapperten, lehnte sich lässig an den Türpfosten und sagte zu einer der Damen: ?Alexandra Nager, Frau Koller bittet Sie ans Telephon.?
Er lief fort. Seine Schritte waren auf dem grauen Filzteppich, der im schmalen Korridor lag, unhörbar.
Alexandra Nager, ein schlankes, schöngewachsenes Mädchen von etwa achtundzwanzig Jahren, mit sicheren und ruhigen Bewegungen und einem tiefen, klaren Blick, wie er nur Menschen eigen ist, die viel gelitten haben, schrieb die Zeile zu Ende, erhob sich ruhig von ihrem Platz und ging ins Vestibül zur Telephonzelle. Im Gehen fragte sie sich: ?Was ist schon wieder los?? Sie war es schon gewohnt, dass, so oft ihre Schwester ihr schreib oder sie ans Telephon rief, in ihrem Haus irgendein neues Unglück geschehen war: entweder war eins der Kinder erkrankt, oder der Schwager hatte Unannehmlichkeiten im Dienst, oder es gab irgendeine Affäre mit den Kindern in der Schule, oder es herrschte schließlich äußerste Geldnot. Alex fuhr jedesmal mit der Trambahn in die entfernte Vorstadt und half und tröstete, so gut sie konnte. Die Schwester war um zehn Jahre älter als sie und seit langer Zeit verheiratet. Obwohl sie in der gleichen Stadt wohnten sahen sie sich recht selten.
Alex trat in die enge Telephonzelle, wo es immer nach Bier, Tabak und Mäusen roch, ergriff das Hörrohr und sagte: ?Ich bin da. Bist du es Nina??
Die Stimme der Schwester klang verweint und aufgeregt, genauso, wie Alex es erwartet hatte. Sie sagte: ?Alex, um Gottes willen, komm sofort her. Ein großes Unglück ist geschehen: Stephan ist tot. Er hat sich erschossen.?
Alex konnte im ersten Augenblick das Schreckliche, das in der Nachricht vom Tod ihres liebsten sechzehnjährigen Neffen Stephan lag, gar nicht fassen. Sie stammelte:
?Nina, was sagst du? Wie schrecklich! Aus welchem Grund? Wann ist das geschehen?? Ohne die Antwort abzuwarten, fügte sie rasch hinzu: ?Ich komme sofort hinaus, sofort.?
Sie vergaß das Hörrohr an den Haken zu hängen, ließ es an der Schnur baumeln, lief zum Direktor und bat ihn um Erlaubnis, wegen einer dringenden Familienangelegenheit fortgehen zu dürfen. Der Direktor gab ihr die Erlaubnis. Er zog zwar ein unzufriedenes Gesicht und brummte: ?Sie wissen ja, wie viel vor den Feiertagen zu arbeit ist. Und die dringenden Familienangelegenheiten kommen in der ungelegensten Zeit. Wenn es aber durchaus sein muss, dürfen Sie gehen. Bedenken Sie nur, dass die ganze Arbeit stockt.?
Alexandra sass nach einigen Minuten in der Trambahn. Ihre Gedanken waren wieder an den Punkt angelangt, zu dem sie immer zurückkehrten, wenn der ruhige Lauf ihrer Tage von unerwarteten Geschehnissen, die fast immer schmerzvoll waren, unterbrochen wurde. Ihre Gefühle waren verworren, ihre Stimmung gedrückt. Ihr Herz krampfte sich vor schmerzlichem Mitleid mit der Schwester und dem Neffen zusammen. Der Gedanke, dass der sechzehnjährige Junge, der sie erst vor kurzem besucht hatte, der immer lustige Gymnasiast Stephan, sich das Leben genommen habe, war zu schrecklich. Auch der Gedanke an den Schmerz seiner Mutter, die ihr schweres, verfehltes Leben wie eine Last trug, war nicht weniger bedrückend.
Im Leben Alex Nager hatte es aber einmal etwas gegeben, was vielleicht noch viel schwerer und schrecklicher war und was ihr die Möglichkeit nahm, sich ganz der Trauer um die Schwester und den Neffen hinzugeben. Ihr von altem Leid bedrücktes Herz hatte nicht die Kraft, sich in einem erlösenden Strom schmerzlichen Mitleides zu ergießen. Ein schwerer Stein lag auf der Quelle der trostbringenden Tränen. Nur einzelne Tropfen traten in ihre Augen, deren gewöhnlicher Ausdruck eine gleichgültige Langweile war. Alex mußte im Geist wieder zu dem von ihr durchwanderten flammenden Kreis von Liebe und Leidenschaft zurückkehren. Zu den wenigen Tagen des Vergessens und der grenzlosen Hingabe, die sie vor einigen Jahren erfahren hatte. Jeder Tag jenes heiteren Sommers war sie wie ein Festtag. Über der armseligen Landschaft der Sommerfrische in Grünland blaute freudig der Himmel, rieselten lustig lachend sommerliche Regengüsse. Der Harzgeruch des warmen Nadelwalds war süßer als Rosenduft; in diesem herben und doch lieben Land gab es ja keine Rosen. Das graugrüne Moos im Waldesdickicht war ein lustvolles Lager der Liebe. Die zwischen den wild aufeinander getürmten grauen Felsen hervorsprudelnden Quellen rieselten so freudig und hell, als ob ihr klares Wasser geradewegs zu den Gefilden Arkadiens strömte. Süß und freudebringend war die Kühle des plätschernden Wasserlaufs. Die glücklichen Tage zogen im Liebesrausch schnell dahin. Und dann kam der letzte Tag, von dem Alex natürlich nicht wusste, dass er ihr letzter glücklicher Tag war. Alles um sie herum war heiter, wolkenlos, freudig. Die langen, harzduftenden Waldesschatten waren noch immer kühl und versonnen und das warme Moos unter ihren Füßen weich und zärtlich. Aber die Vögel waren schon verstummt; sie hatten sich Nester gebaut und Junge ausgebrütet.
Auf dem Antlitz des Geliebten lag ein seltsamer Schatten. Er hatte an diesem Tag einen unangenehmen Brief bekommen. So erklärte er wenigstens selbst: ?Ein furchtbar unangenehmer Brief. Ich bin verzweifelt. So viele Tage muss ich von dir fern sein!?
?Warum?? fragte sie. Sie spürte noch immer keine Trauer. Er aber sagte:
?Mein Vater schreibt, dass die Mutter schwer erkrankt ist. Ich muss sofort hinfahren.?
Der Vater schrieb ihm natürlich etwas ganz anderes. Alex wusste das aber nicht. Sie wusste noch nicht, dass Liebe getäuscht werden kann, dass Lippen, die geküsst haben, lügen können. Unter Liebkosungen und Küssen sagte er ihr:
?Ich muss fort. Ich kann nicht anders. Es ist so ärgerlich. Ich weiß zwar, dass es nicht Ernstes ist, aber ich muss sofort zu meiner Mutter.?
?Das ist ja selbstverständlich.?, sagte sie, ?wenn deine Mutter krank ist, musst du hin. Schreibe mir aber jeden Tag. Ich werde mich furchtbar nach dir sehnen.?
Sie begleitete ihn wie immer bis zur Landstraße an den Waldrand und kehrte allein durch den Wald heim. Sie war ein wenig betrübt, doch fest davon überzeugt, dass er bald zurückkehrte.
Er kehrte aber nicht zurück. Alex bekam von ihm mehrere Briefe. Sie waren unklar, verworren und enthielten unklare Anspielungen, die ihr Angst machten. Er schrieb ihr immer seltener. Alex ahnte schon, dass seine Liebe erloschen war. Gegen Ende des Sommers erfuhr sie zufällig von fremden Leuten dass er sich inzwischen verheiratet hatte.
?Ja, natürlich! Haben Sie das denn noch nicht gehört? Vorige Woche war die Trauung, und dann ist er gleich mit seiner jungen Frau nach Nizza abgereist.?
?Er kann von Glück sprechen; hat sich so eine hübsche und reiche Frau ergattert.?
?Ist die Mitgift groß??
?Und ob! Ihr Vater besitzt...?
Sie wollte aber gar nicht hören, was ihr Vater besitzt und wandte sich ab.
Die Erinnerung an das Schreckliche, das nachher kam, drängte sich ihr oft auf, obwohl sie sich alle Mühe gab, das alles auszumerzen und in ihrer Seele zu ersticken. Alles war so schwer und erniedrigend, wenn auch unvermeidlich gewesen. Als sie sich dort, wo alles noch von seinen Küssen sprach, Mutter fühlte, als sie von seiner Heirat erfuhr und die ersten Regungen des Kindes spürte, mußte sie ja sofort an den Tod des Kindes denken. Sie mußte das Ungeborene töten! Ihre Angehörigen erfuhren nichts. Alex war es gelungen, unter einem glaubwürdigen Vorwand für vierzehn Tage zu verreisen. Mit großer Mühe verschaffte sie sich so viel Geld, als das üble Werk kosten sollte. In einem gemeinen Asyl wurde es vollbracht. Die Erinnerung an die grauenhaften Einzelheiten war ihr heute noch qualvoll. Krank, abgezehrt, bleich und schwach kehrte sie nach hause zurück und verheimlichte mit traurigem Heldenmut den Schmerz und das Grauen. Die Erinnerung an die Einzelheiten war sehr aufdringlich, aber Alex hatte gelernt, sich nach kurzem Kampf immer wieder von der schweren Last dieser Gedanken zu befreien. So oft sie sich ihr aufdrängten, erschauerte sie vor Grauen und Ekel und wandte sich sofort anderen Gedanken zu, die sie ablenken. Was sie aber für keinen Augenblick verließ und wogegen sie weder ankämpfen konnte noch wollte, war das liebe und zugleich schreckliche Bild ihres ungeborenen Sohnes.
Wenn Alex allein war und mit geschlossenen Augen ruhig in ihrem Zimmer sass, besuchte sie manchmal ein kleiner Junge. Sie glaubte sogar wahrzunehmen, dass er mit der Zeit wuchs. Diese Vorstellung war so lebendig, dass sie von Tag zu Tag und Jahr zu Jahr im Geist alles durchkostete, was sonst nur die Mutter eines lebendigen Kindes durchkostet. In der ersten Zeit hatte sie sogar das Gefühl gehabt, ihre Brüste seien voll Milch. Bei jedem Geräusch fuhr sie zusammen: ob ihr Kind nicht ausgeglitten sei und sich wehgetan habe? Manchmal hatte sie das Bedürfnis, ihren Sohn auf den Schoß zu nehmen, ihn zu liebkosten, mit ihm zu sprechen. Sie streckte die Hand aus, um sein goldblondes, seidenweiches Haar zu streicheln; die Hand aber stieß ins Leere, und Alex hörte hinter ihren Rücken das Lachen des Kindes, das von ihr weggelaufen war und sich irgendwo in der Nähe versteckt hatte. Sie kannte das Gesicht ihres ungeborenen Sohnes, so deutlich sah sie es vor sich. Es war eine liebliche und zugleich grauenvolle Mischung der Gesichtszüge jenes Mannes, der ihre Liebe genommen und verworfen, der ihre Seele geraubt und bis auf den Grund geleert, der sie vergessen hatte - die Mischung seiner trotz alledem zärtlich geliebten Züge mit ihren eigenen Zügen. Die lachenden grauen Augen sind von der Mutter. Die weichen Linien der Lippen und Kinns - vom Vater. Die rundlichen Schultern, zart wie die eines jungen Mädchens - von der Mutter. Das goldblonde, leichtgelockte Haar - vom Vater. Alex kannte genau seine Züge und Glieder und alle seine Bewegungen und Gewohnheiten. Die Haltung der Hände und die Art, die Beine zu kreuzen, waren vom Vater, obwohl der Ungeborene seinen Vater nie gesehen hatte. Das Lachen, das zarte schamhafte Erröten hatte der Ungeborene von seiner Mutter. Das alles war so süß und zugleich so schmerzhaft, als ob ein zärtlicher, rosiger Finger grausam und liebevoll eine tiefe Wunde aufwühlte. Das alles tat weh; wie aber konnte sie ihn von sich weisen?
?Ich will dich gar nicht fortjagen, mein ungeborener Junge. Lebe wenigstens so, wie du es kannst. Dieses Leben ist ja das einzige, das ich dir geben kann... Es ist das Leben der Träume. Du lebst nur in meinen Träumen. Du armer, lieber Ungeborener! Du kannst dich niemals deiner selbst freuen, kannst nicht für dich selbst lachen und um dich selbst trauen. Du lebst und du bist nicht. In der Welt der Lebenden unter Menschen und Dingen bist du nicht. Du lebst, bist so lieb und so heiter und bist nicht. Das habe ich an dir verbrochen!?
Alex sagte sich zuweilen:
Jetzt ist er noch klein und weiß es nicht. Wenn er aber einmal groß ist und alles erfährt, wird er Vergleiche zwischen sich und den Lebenden anstellen und gegen seine Mutter Klage erheben. Dann werde ich sterben müssen.
Sie dachte gar nicht daran, dass alle ihre Gedanken wahnsinnig erscheinen würden, wenn sie der gesunde Menschenverstand, der schreckliche und wahnsinnige Richter aller unserer Handlungen, richten wollte. Sie dachte nicht daran, dass der von ihr ausgeschiedene kleine, hässliche, gekrümmte tote, unbeseelte Materie. Der Ungeborene lebte in ihrem Geist und marterte unaufhörlich ihr Herz.
Er war licht und trug ein lichtes Gewand. Seine Arme und Beine waren licht, seine unschuldigen Augen blickten heiter, und ein unschuldiges Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Lachen klang hell und freudig. Wenn sie ihn umarmen wollte, lief er zwar davon und versteckte sich, blieb aber immer irgendwo in der Nähe. Wenn sie ihn umarmen wollte, lief er davon; wenn sie aber mit geschlossenen Augen allein in ihrem Zimmer sass, umschlang er manchmal selbst ihren Hals mit seinen weichen, warmen Ärmchen und berührte ihre Wange leicht mit den Lippen. Auf den Mund aber hatte er sie noch nie geküsst.
Er wird größer werden und alles verstehen: sagte sich Alex; er wird sich traurig von mir abwenden und mich für immer verlassen. Und dann werde ich sterben.
Auch jetzt, als sie im eintönig polternden, überfüllten Trambahnwagen unter fremden, in Pelze gehüllten Menschen sass, die ihre Weihnachtseinkäufe vor sich auf dem Schoß liegen hatten, und sie die Augen schloss, sah sie ihren Sohn vor sich. Sie sah seine heiteren Augen und hörte, ohne auf die Worte zu achten, sein leises Flüstern. So ging es bis zur Haltestelle, wo sie aussteigen mußte. Sie stieg aus der Tram und schritt durch die schneeverwehten Straßen der Vorstadt. Sie ging allein. Die Leute, denen sie begegnete, waren ihr fremd. Das geliebte, schreckliche Wesen begleitete sie nicht mehr. Sie dachte:
?Meine Sünde ist in mir und immer mit mir. Ich kann ihr nicht entfliehen. Wozu lebe ich noch? Stephan lebt ja auch nicht mehr.? Ein dumpfer Schmerz bohrte in ihrer Seele, und sie wusste nicht, wie sie diese Frage beantworten sollte: Wozu lebe ich?
Sie dachte: Mein Kleiner ist immer mit mir. Jetzt ist er schon acht Jahre alt und kann vieles verstehen. Warum aber zürnt er mir nicht? Hat er gar keine Lust, mit den anderen Kindern zu spielen, den Schneehügel da herunter zu rodeln? Lockt ihn denn nicht die Schönheit des irdischen Lebens, die Schönheit, an der ich mich einst berauschte, die bezaubernde, wenn auch oft nur allzu trügerische Schönheit dieser lieben Erde, der besten aller möglichen Welten?
Während Alex durch die fremde und gleichgültige Straße weiterging, wurden diese Gedanken von anderen verdrängt. Sie dachte an die Familie ihrer Schwester, zu der sie ging: an den unter der Last der Arbeit beinahe zusammenbrechenden Schwager, an die ewig müde Schwester, an die große Schar lärmender, ungezogener, immer bettelnder Kinder, an die kleine Wohnung und die ständige Geldnot. An die Neffen und Nichten, die sie liebte. Und an den Gymnasiasten Stephan, der sich das Leben genommen hatte. Wer hätte das erwartet? Er war ein so aufgeweckter, lustiger Junge.
Sie erinnerte sich noch des Gesprächs, das sie mit Stephan in der Vorigen Woche gehabt hatte. Der Junge schien traurig und aufgeregt zu sein. Die Rede war auf irgendeinen Vorfall gekommen, von dem er in einem Zeitung gelesen hatte: also etwas Unheimliches und Tragisches. Er hatte gesagt: Das Leben zuhause ist schon schwer genug, und wenn man eine Zeitung in die Hand nimmt, so sieht man auch nichts anderes als Grauen und Ekel. Alex hatte darauf etwas erwidert, woran sie selbst nicht glaubte. Sie hatte den Neffen von seinen trüben Gedanken ablenken wollen. Stephan hatte traurig gelächelt und gesagt: ?Tante Alex, bedenke doch, wie hässlich alles ist! Bedenke, was um uns vorgeht! Es ist doch zu schrecklich, wenn der beste aller Menschen, ein so alter Mann von zuhause wegläuft und irgendwo in der Wildnis stirbt! Er hat deutlicher als wir alle das Grauen empfunden, in dem wir leben, und er konnte es nicht ertragen. Er lief fort und starb. Das ist schrecklich!? Stephan schwieg und sagte dann die Worte, die Alex so furchtbar erschreckten:
?Tante Alex, ich will es dir ganz offen sagen. Du bist so lieb, und du wirst mich verstehen. Es ist mir so schwer, unter all den Dingen, die um uns vorgehen, zu leben. Ich weiß, dass ich ebenso schwach bin wie die anderen und dass ich nichts ändern kann. Einmal werde ich wohl selbst in all das Ekelhafte hineingezogen werden. Tante, wie richtig hat doch Nekrose gesagt: ?Herrlich ist es, jung zu sterben!?
Alex war sehr erschrocken und hatte lange auf Stephan eingeredet. Schließlich glaubte sie, ihn umgestimmt zu haben. Er hatte ihr lustig zugelächelt - das war sein gewöhnliches sorgloses Lächeln gewesen - und hatte gesagt:
?Es ist schon gut! Wir wollen sehen, was das Leben weiter bringt. Der Fortschritt bewegt alle Dinge, und sein Siegeszug ist unaufhaltsam!?
Nun ist Stephan nicht mehr. Er hat sich erschossen. Er wollte also nicht weiterleben und den Siegeszug des Fortschritts mit ansehen. Was mag jetzt wohl seine Mutter tun? Küsst sie seine toten, wachsgelben Hände? Oder streicht sie Butterbrote für die hungrigen, verängstigten, verweinten Kinder, die seit dem frühen Morgen noch nichts gegessen haben und in ihren abgetragenen Kleidchen und Anzügen mit durchgewetzten Ellbogen so elend aussehen? Oder liegt sie auf ihrem Bett und weint, weint ohne Ende? Wie glücklich ist sie, wenn sie wenigstens noch weinen kann! Gibt es denn etwas Süßeres als Tränen?
Alex war endlich am Ziel. Sie lief so schnell die steile Treppe zum vierten Stock hinauf, dass ihr der Atem ausging und sie vor der Tür stehen bleiben mußte, um sich zu beruhigen. Schwer atmend stand sie da, hielt sich mit der rechten Hand im warmen gestrickten Handschuh am eisernen Treppengeländer fest und starrte auf die Tür. Sie hatte noch nicht geklingelt. Die Tür war mit Filz und darüber mit schwarzen Wachstuch beschlagen. Das Wachstuch war, der Schönheit oder Haltbarkeit wegen, kreuzweise mit schwarzen Streifen besetzt. Einer dieser Streifen war abgerissen und hing herunter. Das Wachstuch hatte an dieser Stell ein Loch, aus dem grauer Filz hervorblickte. Bei diesem Anblick krampfte sich Alex Herz zusammen. Ihre Schultern bebten. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. Eine plötzliche Schwäche überkam sie. Sie setzte sich auf den Treppenabsatz und ließ den Tränen freien Lauf. Unter den warmen gestrickten Handschuhen brach aus den geschlossenen Augen ein unaufhaltsamer Tränenstrom hervor.
Auf der Treppe war es kalt und finster und still. Die drei Wohnungstüren standen nebeneinander, verschlossen und stumm. Plötzlich hörte sie die wohlbekannten leichten Schritte. Sie war wie versteinert und voll freudiger Erwartung. Ihr Sohn ging auf sie zu, umschlang ihren Hals und schmiegte sein Gesicht an ihre Wange. Dann nahm er mit seinen warmen Händchen ihre Hand vom Gesicht weg, berührte mit seinen zarten Lippen ihre Wange und sagte: ?Warum weinst du? Bist du denn schuldig??
Sie lauschte stumm seinen Worten und wagte nicht, sich zu rühren oder die Augen zu öffnen, um ihn nicht zu vertreiben. Sie ließ die rechte Hand, die er ihr vom Gesicht genommen hatte, in den Schoß sinken und behielt die Linke auf den Augen. Sie bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, um ihn mit ihrem Weinen, dem unschönen Weinen eines armen irdischen Weibes, nicht zu vertreiben.
Er sagte: ?Dich trifft keine Schuld?
Wieder küsste er sie auf die Wange und wiederholte die schrecklichen Worte Stephans:
?Ich will hier nicht leben. Ich danke dir, liebe Mutter. Glaube mir, ich will gar nicht leben?
Diese Worte hatten aus dem Mund Stephans so schrecklich geklungen, weil er, dem eine unbekannte Macht lebendige Menschengestalt verliehen, die Plicht gehabt hatte, den ihm anvertrauten Schatz zu bewahren. Die gleichen Worte aus dem Mund des Ungeborenen aber klangen wie eine frohe Botschaft.
Sie fragte ihn ganz leise, kaum hörbar, um ihn mit dem Klang irdischer Worte nicht zu erschrecken: ?Liebes Kind, hast du mir vergeben??
Und er antwortete: ?Dich trifft keine Schuld. Wenn du es aber willst, vergebe ich dir?
Das Gefühl einer ungeahnten Freude erfüllte plötzlich das Herz der Mutter. Sie wagte noch nicht zu hoffen und wusste nicht, was noch kommen würde. Langsam und scheu streckte sie ihre Arme aus - und plötzlich sass der Ungeborene auf ihrem Schoß. Sie fühlte auf ihren Schultern seine leichten Arme und auf ihren Lippen seine Lippen. Sie küsste ihn immer wieder, und ihr war, als ob auf ihren Augen der Blick des Ungeborenen ruhte: strahlend wie Sonne über der frommen Welt. Sie hielt aber ihre Augen geschlossen, um das was ein Sterblicher nicht sehen darf, nicht zu sehen und daran nicht zu sterben.
Die kindlichen Arme lösten sich, und auf den Stufen erklangen leichte, sich entfernende Schritte. Der Kleine war fort. Alex Nager erhob sich, wischte die Tränen aus den Augen und klingelte an der Tür der Schwester. Vom Ruhe und Glück erfüllt, ging sie zu der Gramgebeugten, um Hilfe und Trost zu bringen.
 
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Kommentare  

Schau an; noch jemand, der wie ich das gleiche Thema beschreibt.
Ich finde die Geschichte recht gut.
"Geschraubte Sprache"? Nun ja, vielleicht ist dies deine erste Geschichte. Da passiert einem so was schon ein Mal.


Kuft Wildebrunn (17.12.2004)

ich versteh das problem nicht, mir gefällt die geschichte gut...

banshee (15.01.2004)

"Das üble Werk"?
Hört sich an wie die Propaganda von militanten Abtreibungsgegnern und nicht wie die sensible schriftstellerische Auseinandersetzung mit den Gefühlen einer Frau, die abgetrieben und deshalb einen Schmerz mit sich herumträgt.
Brrr, da schüttelt es mich. So einen Schmarren halte ich nicht bis zum Schluss aus. Und da ich jetzt keinen Bock auf Schmähbriefe habe, bleibt dieser Kommentar anonym.


 (19.02.2003)

Soweit ich verstanden habe, geht es hier um eine Frau, die erst dann (ihrer Schwester) Trost spenden kann, als sie ihre eigene Vergangenheit (Abtreibung) abschließt und sich selber verzeiht, symbolisch dargestellt durch den Abschied des abgetriebenen Kindes, das sie bis dato immer wie ein Geist begleitet hatte. Und der "Geist" des Neffen? Ist der denn echt, oder auch nur eine Bewusstseinsspiegelung?! Ist etwas unklar...
- So gut ich die Geschichte von der Idee her finde, so sehr stört mich die sprachliche Umsetzung. Die Sprache wird oftmals "geschraubt", gestelzt, unnatürlich. Einige Formulierungen wurden hier gewählt, die (und das soll bei diesem ernsten Thema ja sicher nicht sein) unwillkürlich zum Grinsen auffordern. Beispiel: "...Telephonzelle, wo es immer nach Bier, Tabak und Mäusen roch..." - Seither versuche ich eine Maus zu fangen und herauszufinden, wie sie riecht. Leider haben die Mäuse hier kein Verständnis für meine Wünsche.
Weiter: "...ergriff das Hörrohr..." - Das Ding heißt Hörer. Ein HörROHR wäre das, was die beiden Opas in der Muppet-Show sich in ihre Gehörgänge schieben, um von der Außenwelt noch etwas mitzubekommen.
"... ein schlankes, schöngewachsenes Mädchen von etwa achtundzwanzig Jahren..." - Eine Frau von fast dreißig noch als Mädchen zu bezeichnen, finde ich etwas übertrieben. Sie wird sich in zwei Jahren die erste Antifaltencreme unter die Augen schmieren.
Und dann wären da noch Schmankerl wie: "Ein schwerer Stein lag auf der Quelle der trostbringenden Tränen", oder "Über der armseligen Landschaft der Sommerfrische in Grünland blaute freudig der Himmel", "rieselten lustig lachend sommerliche Regengüsse" (ich habe noch keinen Regenguss lachen gehört!).

Lieber dem Leser eine klare, stilistisch einwandfreie, wenn auch dem Alltag angepasste, schnörkellose Sprache anbieten als ihn mit solchen "Sprachorgasmen" zum Lachen zu reizen! Denn das macht die ursprünglich ernste Message der Geschichte leider kaputt.


Gwenhwyfar (18.02.2003)

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