51


9 Seiten

Offline

Romane/Serien · Fantastisches
Sein Wecker rasselt:"Guten Morgen, B 25. Es ist 07.15 Uhr und 14 Sekunden. Es ist der 11. 04. 2062. Guten Morgen , B 25 . Es ist 07.15 Uhr und ..."
"Guten Morgen, Wecker." erwidert der Angesprochene halblaut, woraufhin dieser verstummt.
Sein farbloses Gesicht blickt ihm aus dem Spiegel entgegen wie jeden Morgen. Seine Augen glänzen durch die Reflexe der Deckenbeleuchtung wie ein Bildschirm. Mit spitzen Fingern dreht er den Wasserhahn auf, eine "Katzenwäsche" wie jeden Morgen.
Sein Arbeitsplatz ist hier, in dieser Wohneinheit, ein leistungsfähiger Computer, der ihn mit seinem Arbeitgeber verbindet.
B 25 arbeitet bei ARPATEC, einer Firma, die Großrechner herstellt, aber auch Software entwickelt. Als Programmierer ist er zusammen mit einigen Kollegen dafür zuständig, die neuen Programme auf Fehler zu überprüfen. Für ihr neues Projekt bleiben ihnen noch zwei Tage Zeit. Sie haben noch viel zu tun.
Er bindet sich einen Schultergurt mit einem Beutel voll Nährflüssigkeit um. Ganz automatisch schiebt er sich die Infusionsnadel in die Armvene, über die sein Körper mit allen lebensnotwendigen Stoffen versorgen wird. Sie wird ihm von einer Nahrungsmittelfirma pünktlich jeden 1. im Monat geliefert. Mit Schaudern denkt er an jene Bilder und Texte von der Ernährungsweise der Menschen in früherer Zeit. Als er Schüler war, hat er folgendes über sie gelernt: Beim Anblick der Nahrung produzierten ihre Mundschleimhäute Speichel - wie sonst nur Tiere! Eine ekelhafte Vorstellung.
Auf seinem Schreibtisch stehen seine beiden Maschinen. Vorsichtig entfernt er die Abdeckhaube seines Arbeitscomputers. Seine bläuliche Finger bewegen sich mit schlafwandlerischen Sicherheit über die Tastatur. Eine digital eingespeicherte Gestalt begrüßt ihn auf dem Bildschirm - das virtuelle Konterfei eines Kollegen. "Guten Morgen, B 25!" ruft der Avatar und zwinkert ihm zu.
70 000 Bits jagen in einer Sekunde durch die Glasfaserleitungen des Netzes hinaus zur Zentrale von ARPATEC. Ist seine Arbeit um 18 Uhr beendet, werden bis zu 2520 Millionen Bits dort angekommen sein. Manchmal träumt B 25 nachts, er verschmelze mit seinem Computer zu einer einzigartigen Arbeitseinheit, in der die Maschine und die Milliarden Neuronen seines Gehirnes alle Daten übergangslos miteinander austauschen können. Dann bräuchte er die gewünschten Befehle nicht mehr mühselig mit Hilfe seiner Finger in den Computer eingeben. Was für Möglichkeiten! Erhaben wäre er zudem über jedes Gefühl. Der immer wieder auftretende Widerspruch zwischen seinem logischen Verstand und nebelhaften Emotionen verwirrt ihn stets auf neue. Zur Zeit bleibt ihm nichts anderes, als von solchen Möglichkeiten zu träumen. Doch irgendwann, dessen ist er sich sicher, wird es Wissenschaftlern endlich gelingen, die perfekte Verbindung zwischen Mensch und Maschine herzustellen. Doch da sind auch die Alpträume, in denen es ihm nicht gelingt, die Fehler in einem Programm zu finden. Lange Zeilen programmierter Seiten rauschen dann blinkend an ihm vorbei, wirbeln und verdrehen sich zu grell bunten Spiralen, bis sie schließlich unauflöslich verheddert sind wie ein Kabelsalat. In letzter Zeit kommen diese Träume im-mer häufiger; Jedesmal wacht B 25 schweißgebadet auf.
Gerade will er eine Botschaft an den Computer eines Kollegen schicken, da verschwinden sämtliche Pixel von seinem Bildschirm. Er ist sprachlos angesichts dieses Systemausfalls - sekundenlang starrt er den Monitor an, der nicht wieder zum Leben erwachen will. Einen solchen Zwischenfall hat es noch nie gegeben. Oder doch? Um dies herauszufinden, müßte er sein digitales Notizbuch zu Rate ziehen, das im Computer gespeichert ist. B 25 kontrolliert die zweite Maschine, doch mit gleichem Ergebnis. Selbst sein Digiphon bleibt stumm. Eine Störung in der Leitung? B 25 versucht, den Gedankensturm in seinem Gehirn zu ordnen. Ruhe bewahren. Nachdenken; was kann er tun? Langsam setzt er sich wieder und beginnt, alle möglichen Fehlerquellen im System zu erfassen. Nichts passiert. Keine Tastenkom-bination bringt ihm das Bild zurück auf den Monitor. Wo sein logischer Verstand ihm schon sagt: "Es ist sinnlos." wollen ihm seinen Emotionen noch weismachen, dass die Lösung eigentlich zum Greifen nah sei.
Jeden Tag, seit mehr als 10 Jahren, sitzt er fast 10 Stunden lang vor diesem Bildschirm, danach 5 Stunden lang vor seinem Privatcomputer. 8 Stunden lang schläft er, "lädt" seinen Körper neu auf, indem sich die Zellen regenieren. Die spärlichen Unterbrechungen in diesem ewigen Rhythmus kann er an 10 Fingern abzählen. Störungen, die er mit Leichtigkeit selbst behoben hat; verspätete Lieferungen seiner Flüssignahrung oder jener scheußliche Stromausfall vor vier Jahren, der über 5 Minuten dauerte...
Er weiß, daß die Maschinen nicht perfekt sind. Wenigstens in der Theorie. Hat ihm nicht vor ein paar Dutzend Tagen erst ein Kollege eine Nachricht geschickt, dass er ein technisches Problem seines Rechners nicht selbst lösen konnte und einen mobilen Roboter zu Rate ziehen mußte? Bisher ist so etwas B 25 erspart geblieben. Da fällt ihm sein virtueller Lehrer W 230 ein. Ob es wohl möglich ist, ihn zu Rate zu ziehen? Seit er begonnen hat, für ARPATEC zu arbeiten, hat sein Lehrer sich nicht mehr bei ihm gemeldet.

B 25 ist nicht immer allein gewesen. Als Kind war er umgeben von seinesgleichen, er teilte sich Spiel- und Schlafraum mit vielen anderen. Erwachsene Aufsichtspersonen kamen und gingen, waren immer zur Stelle, wenn es ein Problem gab. Doch an ihre Gesichter kann er sich nicht mehr erinnern, auch nicht an ihre Stimmen. Eines Tages brachten ihn zwei Erwachsene hierher und schlossen unwiderruflich die Tür hinter sich. Es war das letzte Mal, das er weinte.
Einige Zeit später sprach plötzlich eine Stimme zu ihm. Es dauerte einen Moment, bis er den seltsamen Mann in dem Bildschirm entdeckte, der sich ihm vorstellte als W 230. Seine Stimme war wohltönend und laut; alle anderen Geräusche wurden von ihr ausgeblendet. W230 begleitete ihn von nun an täglich, begrüßte ihn, instruierte ihn, wie er die Geräte in der Wohnung zu bedienen hätte und spielte sogar mit ihm – Spiele, welche mal die Geschicklichkeit, mal das logische Denken fördern sollten, und alles mithilfe des Monitors. Und in seinen Augen waren es durchaus unterhaltsame Spiele. Was machte es da schon, dass er W 230 nicht berühren konnte wie die Spielgefährten vorher. W 230 war sein einziger quasi-menschlicher Kontakt. Den Roboter, der einmal in der Woche seine Flüssignahrung lieferte, konnte man kaum als solchen bezeichnen.
B 25 erfuhr von W 230 auch, das noch viele andere in diesem Haus lebten, doch es sei gefährlich, sie aufzusuchen.
»Hüte dich vor der Welt draußen! Sie ist voller Gefahren und niederträchtiger Leute. Denn die Menschen sind von ihrem Wesen her destruktiv, vor allem, wenn sie in einer Gemeinschaft zu leben versuchen. Früher oder später beginnen sie sich zu streiten, ja sogar zu töten. Dein größter Feind ist deinesgleichen. Sei nicht so töricht wie deine Vorfahren, die ernsthaft versuchten, mit ihren Artgenossen zu leben. Sei dankbar für das, was hier aufgebaut wurde. Hier drinnen hast du alles, was du benötigst und noch dazu Sicherheit. « Bei jeder passenden Gelegenheit wiederholte W 230 diese und ähnliche Warnungen. Die Worte brannten sich B 25 tief ins Gedächtnis ein und er versprach, sie zu befolgen.
Es dauerte gar nicht lang, da forderte W 230 ihn auf, einen bestimmten Schlüssel aus einer bislang unbeacheten Schublade zu nehmen. Mit diesem sollte er eine Klappe hinter seinem Schlafmöbel öffnen, die ihm bisher verborgen war. In dem kleinen Raum dahinter befand sich ein großer Karton, den B 25 mit zitternden Händen öffnete. W 230 erklärte ihm, das Gerät im Karton sei ein Hochleistungsrechner und er gab B 25 genaueste Anleitungen, wie es anzuschließen und zu bedienen sei. Einen ganzen Monat trainierte er seinen Schützling geduldig.
Schließlich sagte er: »Es wird Zeit, dass du meine Welt kennenlernst: die Virtualität.«
B 25 fand mit Hilfe seines Lehrers einen weiteren Karton mit einem Paar spezieller an Kabel angeschlossener Handschuhe und Sichtgläser. Er war überrascht über die virtuellen Welten, welche diese ihm eröffneten, nachdem er sie an den Computer angeschlossen hatte. Damit ausgerüstet, konnte er auf dem Mond spazierengehen oder durch das Bullauge eines U-Boots die Fische im Ozean betrachten.
Außerdem gab es spezielle Programme, mit denen er seinen Körper trainieren konnte. So gab es eine Landschaft, durch die er lief, und sein realer Körper bewegte sich genauso.
Eines Abends, nach einem langen Laufprogramm, sagte B 25 glücklich erschöpft zu W 230: »Es ist wirklich schön in dieser künstlichen Welt. Warum kann ich nicht immer dort sein?«
»Das geht schon allein deshalb nicht, weil die Programme gar nicht so lange laufen würden. Stell dir nur vor, sie brächen mittendrin ab – du wärst völlig verwirrt und orientierungslos. Außerdem würden sehr lange Programme unendlich viel Speicher verbrauchen.« B 25 hatte noch viele Fragen an seinen Lehrer, auch über die anderen Hausbewohner, doch W 230 wurde ungehalten und behauptete, über diese könne er ihm nichts sagen. So gewöhnte sich B 25 allmählich an, diese heikle Fragen für sich zu behalten.
Als dann die Zeit kam, in der B 25 völlig verwirrt aus feuchten Träumen erwachte, sagte W230 dazu:»Das ist ein unnützes Erbgut aus der Zeit deiner Vorfahren, welches jedoch nie überwunden werden konnte. Vielleicht wird die Evolution uns eines Tages davon befreien. Es ist allerdings nichts, wofür du dich schämen müsstest. Aus diesem Grunde werde ich dir heute einmal eine neue virtuelle Welt zeigen.«
Zum ersten Mal begegnete B 25 in der Virtualität einem anderen Lebewesen. Aus den Lektionen seines Lehrers erkannte er, dass dessen Gestalt einer menschlichen Frau nachempfunden war. Allerdings erschien sie ihm als etwas unheimlich, denn ihre Haut changierte in den verschiedensten Farben. Dennoch stellten sich seine Nackenhaare bei ihrer Berührung auf. Er sprach sie an, doch sie blieb stumm. Stattdessen berührte sie ihn überall und ermutigte ihn mit Gesten, es ihr gleichzutun. Ihm wurde ganz warm und seine Haut prickelte. Er erinnerte sich noch an etwas anderes aus seinen Lektionen, und sobald er Anstalten machte, dies in die Tat umzusetzen, dirigierte sie ihn in die richtige Richtung und verhalf ihm zu ungeahnter Ekstase. Er konnte nicht in Worte fassen, was er dabei empfand. Kurz darauf verschwand ihr Bild, obwohl er rief, sie solle noch bleiben. Zum ersten Mal war B 25 vor seinem Lehrer verlegen und weigerte sich, mit ihm zu reden. W 230 drängte ihn auch nicht. B 25 besuchte diese virtuelle Frau von nun an häufig. Doch später, wenn er die Sichtgläser von den Augen nahm, war er allein in seinem Zimmer und musste die klebrige Pfütze vom Boden aufwischen. In diesen Momenten wünschte er sich, er hätte sie nie kennengelernt.
Schließlich kam der Tag, an dem seine Arbeit bei ARPATEC begann. Es war auch der Tag, an dem sich W 230 von ihm verabschiedete. Sein Lehrer hatte ihn lange auf seine Aufgabe bei der Firma vorbereitet. Und er sagte er, wann immer er ein Problem habe, könne er das von nun an mit einem Kollegen dort besprechen. Als sich der Bildschirm verdunkelte und das Verdeck herunterfuhr, wollte B 25 es erst nicht glauben. Sicher würde W 230 ihn am nächsten Morgen wecken. Er konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Doch am nächsten Tag hörte er nur seinen automatischen Wecker. In der ersten Zeit vermisste B 25 seinen Lehrer und war zugleich wütend auf ihn. Daher dauerte es lang, bis er genug Vertrauen in einem Kollegen hatte, um mit diesem nicht nur über die Arbeit zu sprechen. Allerdings hatten sie nie viel Zeit für private Gespräche. Und noch immer musste er an die Warnung seines Lehrers vor den anderen Menschen denken. Mit der Zeit allerdings verblasste die Erinnerung an W 230.

Bis heute. B 25 schaltet den Bildschirm ein, doch alles, was er zu sehen bekommt sind Frequenzstörungen. Dennoch ruft er: »Wo bist du, W 230? Ich brauche deine Hilfe! Was soll ich denn nur tun?« Keine Tastenkombination läßt er unversucht, doch es hilft alles nichts. Immer wieder ruft er nach seinem Lehrer: »W, ich brauche einen Rat, verdammt!« Schließlich läßt er sich auf seinem Schlafmöbel nieder, versteckt den Kopf in den Händen und weint, zum ersten Mal seit so langer Zeit. Es sind Tränen der Wut. Eine Stunde später schreckt er hoch: Er ist eingeschlafen, und das mitten am Tag. Wieder hatte er einen Alptraum, in dem er erfolglos gegen ein Knäuel aus programmierten Zeilen kämpfte.
"Ich habe diese Träume satt!" Zum ersten Mal seit langem öffnet er die Jalousie seines Fensters und blickt hinaus. Draußen liegt die Welt grau in grau, lange Reihen von Wohneinheiten, die allmählich am Horizont verschwinden. Ob es dahinter noch etwas anderes gibt? Was ist mit den virtuellen Welten, dem Meer und den Bergen? Sind sie ein Spiegel der realen Welt? Sein Lehrer hat ihm diese Frage nie beantwortet. Lange steht er regunglos da und starrt nachdenklich auf den Horizont.
Schließlich versucht er wieder, den Computer zu starten. Als dieser sich auch nach mehreren Versuchen noch immer nicht anspricht, schüttelt B 25 zornig die Tastatur und schlägt sie gegen den Tisch, solange, bis einige Tasten sich lösen und auf den Boden fallen. Er verfällt mehr und mehr in eine ungekannte Raserei; zischt und spuckt, er schlägt das Gerät und schüttelt es. Er schreit es an, "Wie kannst du mich im Stich lassen!", obgleich er weiß, dass das irrational ist.
Merkwürdig ist nur, dass ihm diese ungewohnten Emotionen nicht unangenehm sind. B 25 staunt selbst, wie lebendig er sich auf einmal fühlt. Bisher war sein Ideal, sämtliche Emotionen gegen reine Logik einzutauschen. Und nun berauscht er sich förmlich an diesem Gefühl des Zorns. Das hier ist nicht die Virtualität, die Schattenbilder einer künstlichen Welt. Wie hat er es nur so lange dort ausgehalten? Zum ersten Mal in seinem Leben fragt sich B 25, wofür all die Lektionen seines Lehrers eigentlich gut waren. Und er fragt sich wieder, was außerhalb seiner Wohneinheit liegen mag. Es scheint, als hätten die Stunden ohne seine gewohnte Arbeit etwas in ihm aufgerührt, was lang verborgen war, nämlich die Frage nach dem Sinn seiner Existenz. All das, worauf W 230 ihm die Antwort verweigert hat.
Als der Computer auch nach mehreren Versuchen noch immer nicht anspringt, hat B 25s Wut ihren Höhepunkt erreicht: Ohne weitere Umstände trägt er den Computer zum Fenster, schlägt dessen Öffnungssicherung kaputt, öffnet es ganz und wirft das Gerät hinaus, gefolgt vom Monitor. B 25 sieht nicht einmal nach unten. Lange atmet er tief die kühle Luft ein, während sich ein Gefühl der Befreiung in ihm ausbreitet. Kein Bedauern. Nun ist er nicht länger ein Gefangener, der regungslos auf ein bläulich leuchtendes Viereck starrt. »Das hätte ich schon längst tun sollen.«, sagt er leise.
Keine fünf Minuten später rollt plötzlich das Verdeck vom Wandmonitor und eine fremde Gestalt erscheint dort. Sie schnarrt folgenden Text herunter: »Sehr geehrter Bürger, es folgt eine wichtige Mitteilung: Aufgrund einer Störung im Zentralen Elektrizitäts- und Rechnerwerk Süd sind heute im Zeitraum von 8.59 bis 14.03 Uhr sämtliche Computerleitungen der Stadt ausgefallen, dazu zählen auch die der Wandmonitoren in allen Wohneinheiten. Die Leitungen sind jetzt wieder störungsfrei.«
Als B 25 das hört, muss er lachen. Es ist kein glückliches Lachen. Eher ein hysterisches. Sein Rechner hatte also keinen Defekt. Warum hat ihm nie jemand gesagt, dass die Rechner eigene Leitungen haben? Wie konnte W 230 das nur übersehen – oder hat B 25 es einfach vergessen? Er schaltet den Wandmonitor aus und setzt sich auf sein Schlafmöbel, die Arme um die Beine geschlungen.
Doch er findet keine Zeit, seine Tat zu bedauern, denn mit einem Mal dringt ein Geräusch in die Stille, welches aus der Wohneinheit unter seiner zu kommen scheint. Nun, da er weder das stetige Tastaturklicken noch das Summen des Computers oder dessen zahlreiche Audiodateien hört, nimmt er alles um sich viel stärker war, selbst das Sausen des Windes draußen. Das Geräusch erinnert ihn an etwas, was er schon einmal gehört hat. Er presst sein Ohr gegen den Boden und schon nach kurzer Zeit ist er sich sicher: Dort unten weint jemand. B 25 muss an die Warnung seines Lehrers denken, niemals die Außenwelt zu betreten bei all den Gefahren dort. Doch wie kann jemand, der weint, eine Gefahr darstellen? Außerdem kann er die virtuelle Welt nicht mehr betreten und sich nicht einmal mehr Flüssignahrung bestellen, so bleibt ihm ja gar nichts anderes übrig, als hinauszugehen.
B 25 sieht sich in seiner Wohneinheit nach einer Waffe um – nur für alle Fälle – und entschließt sich schließlich für die Spritze seiner Flüssignahrung. Vorsichtig lugt er zur Tür hinaus. Der graue Flur liegt still und verlassen da, beleuchtet von einer endlosen Reihe greller Lampen. Leise schließt B 25 seine Tür und schleicht mit pochendem Herz den Korridor entlang. Bei jedem Geräusch zuckt er angstvoll zusammen. Aus den Wohneinheiten links und rechts von ihm ist nur hin und wieder das Klicken einer Tastatur oder gedämpftes Gemurmel zu hören.
Am Ende des Korridors sieht er einen Escalator, wie er ihn aus der virtuellen Welt kennt. Vorsichtig drückt er auf den Knopf. Als kurz darauf die Tür ruckartig zufällt, bleibt B 25 fast das Herz stehen in der engen Kabine. Er befürchtet schon, nie mehr herauszukommen, da bemerkt er die lange Reihe an Knöpfen, für jedes Stockwerk einer. Er drückt den für das Stockwerk unter seinem und wartet atemlos auf eine Reaktion. Erstaunlich leise setzt sich der Escalator in Bewegung.
Auch im Korridor unter seinem ist alles ruhig. B 25 zählt die Wohneinheiten ab, bis er die entsprechende gefunden hatte. Er presst sein Ohr an deren Tür. Noch immer ist ein verhaltenes Wimmern zu hören.
B 25 nimmt allen seinen Mut zusammen und drückt auf die Klingel. Es dauert einen Moment, und er will schon wieder gehen, da öffnet ihm eine Frau, in der einen Hand eine Spritze wie seine. Sie wirkt ganz anders als die Frauen aus der virtuellen Welt. Mit ihrer hellen, ein wenig fahlen Haut und den grauen Augen, die noch feucht sind vom Weinen, sieht sie ihm selbst überraschend ähnlich. Als diese Frau die Spritze fallen lässt und ihn zögernd anlächelt, weiß B 25 , dass seine Welt nie wieder dieselbe sein wird.

© 2003 Andrea Kerlen
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

grausige zukunftsvisionen... aber toll geschrieben! 4 Punkte

*Becci* (12.03.2003)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Saturday Night Pizza  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De