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4 Seiten

12 Uhr (Erlebnisse um Mitternacht)

Fantastisches · Kurzgeschichten
11.59 Uhr.
Immer noch wach.
Und irgendwie spüre ich, wie die Furcht ihre kalten Finger nach meinem Hirn ausstreckt, es schmerzhaft in sich zusammenziehen lässt. Es ist keine wirkliche Angst, die in mir empor kriecht, aber das beklemmende Gefühl, etwas unbekanntem gegenüberzutreten. Etwas mächtigem.

Da, sie schlägt schon 12.

Der erste Schlag der Kirchturmuhr.
Und mit ihm ein irgendwie bedrohliches, unheilschwangeres Geräusch.
Es beginnt. Die Welt, so wie ich sie kannte, wie jeder sie kannte, wird sich verändern.
Noch scheint alles wie früher, zu unmerklich sind die Veränderungen. Man kann sie noch nicht sehen, nicht fassen, aber sie sind da. Nur das Gefühl sagt einem, sagt mir, dass etwas nicht stimmt.
Hat sich irgend etwas verschoben? Ist das matte Dunkelblau des Himmels schwerer geworden; die Schatten tiefer? Ich kann es nicht genau sagen.
Vielleicht mache ich mir auch nur was vor, meine, etwas zu merken, weil ich es erwarte.
Die Zeit wird es zeigen.

Der zweite Schlag der Kirchturmuhr.
Ein erneuter kleiner Schritt zur Seite. Eine Verschiebung hin zum Wahnsinn. Ich glaube, Bewegungen sehen zu können, Bewegungen, die nicht da sein dürften. Und sobald ich sie fixieren will, sind sie fort, wie substanzlose Schatten, die das Licht meiner Augen fürchten. Wohl eher wie ein Flackern, das aber, trotz das mein Auge es nicht fassen kann, präsent ist. Mindestens so präsent wie ich es bin. Und gerechtfertigter in der Anwesenheit, das spüre ich und es lässt mir mich selbst wie einen Eindringling erscheinen.
Schon wirkt alles unecht; die Häuser an der anderen Straßenseite scheinen fehl am Platze. Sie heben sich nicht mehr so stark von ihrer Umwelt ab, als wären sie in einen Nebelschleier eingehüllt. Oder aber ihre Umgebung versucht, sie zu verschlucken.
Passt die Welt um sie herum nicht mehr zu ihnen? Oder sie nicht mehr in diese Welt?

Der dritte Schlag der Kirchturmuhr.
Hätte ich doch nie an den Mächten gerührt, die für das Menschengeschlecht verboten sind! Und das sind sie nicht umsonst.
Jahrhunderte altes Wissen habe ich mir zu eigen gemacht, ihm mein Leben verschrieben, um bis in das Unbekannte vorzustoßen. Die Wissenschaft habe ich weit hinter mir gelassen und die Magie ausgeschöpft und ihre Grenzen überschritten, um mich über die verhasste Menschheit zu erheben.
Doch die Kraft der Urgewalten ist tausendfach größer, als ich zu denken fähig bin. Milliardenfach stärker, als ich und alle Menschen zusammen beherrschen könnten. Und die Entscheidung ist absolut. Es liegt nicht mehr in meiner Hand.
Ich habe diesen Weg vorherbestimmt und bezweifle nun, ob die Menschheit dieser Vehemenz überhaupt standhalten kann.
Selbst, wenn er überleben wird, wird er nicht den Stellenwert einer Schmeißfliege einnehmen, maximal als lästiges Ungeziefer geduldet werden?
Auch ich werde an den Mächten, die ich beschworen habe, zerbrechen. Wie konnte ich jemals glauben, , die Kraft zu besitzen, mir diese Urgewalten Untertan machen zu können?

Der vierte Schlag der Kirchturmuhr.
Energie.
Kann man Energie anfassen, ist sie materiell?
Ich weiß jetzt, daß es so ist.
Ich fühle, daß ich auf einer Schwelle stehe, da, wo keiner stehen sollte und keiner stehen kann.
Wie lange kann ich noch hier sein? Werde ich das Ende, das eigentlich ein Neuanfang sein sollte, noch erleben oder werde ich da schon hinfort geweht sein wie ein welkes Blatt in einem Herbststurm?
Ich glaube fast, daß es besser wäre, den zwölften Schlag nicht zu erleben, den Übergang in den Wahnsinn nicht mitgehen zu müssen.
Und ich fürchte, genau das werde ich müssen.
Vielleicht als Bestrafung für meine Gier. Vielleicht auch als zweifelhafte Belohnung, weil ich daß Tor geöffnet habe.
Jetzt wird mir klar, daß alle wissenschaftliche Neugier bloß Vorwand war, die Betonung liegt auf Gier.
Ich wollte Macht, und nun fehlt mir die Kontrolle.
Wenn ich sie jemals hatte. Ich habe mich selbst zum Vasallen gemacht.

Der fünfte Schlag der Kirchturmuhr.
Noch nicht einmal die Hälfte der Entfaltung hat sich vollzogen, der Großteil der Welt da draußen ist noch irdisch. Doch ich erkenne nichts wieder. Mein Geist scheint stumpf zu werden. Der mir so vertraute Blick aus dem Fenster ist mir zur Pein geworden, zu bizarr ist mein Umfeld. Schon dieser Anblick müßte reichen, jeden Betrachter in den Wahnsinn zu treiben. So vieles, was das Hirn nicht fassen kann, was das Auge nicht richtig zu sehen vermag. Jeder Schatten scheint tief zu sein, endlos, ein Abgrund bis tief in die Vergangenheit. Jede Gerade scheint sich zu krümmen, wie es unmöglich ist; die 3 Dimensionen unserer Wahrnehmung sind nicht mehr relevant. Gibt es Winkel über 360°, ohne einen Kreis zu bilden? Der Anblick bohrt sich wie glühende Nadeln in mein Bewußtsein, so daß ich es nicht lang genug fixieren kann, um sein Geheimnis zu ergründen.
Der sechste Schlag der Kirchturmuhr.
Die Luft scheint zu leben, wie ein Organismus. Und ich bin der Parasit, der sich von ihr ernährt. Lange wird sie mich wohl nicht mehr dulden. Ich kann fühlen, wie neues Leben entsteht und wie altes Leben vergeht.
Wieso vergehe ich nicht? Ich wünschte, ich würde es.
Meine Orientierung ist völlig hinüber; obwohl ich mir sicher bin, mich nicht bewegt zu haben, kann ich es nicht beschwören.
Alles um mich herum lebt, auch wenn kein Biologe dies je als Leben erkennen würde, so fremdartig ist es. Ich kann es fühlen, ich weiß, daß unser Leben nur eine einfache Ableitung dieser viel komplexeren Form ist. Jetzt beginne ich zu ahnen, was das Wort Leben bedeutet und wie zynisch unser Gebrauch dieses Wortes ist.
Es hat nichts mit Organismen, atmen, wachsen zu tun, wirkliches Leben ist viel elementarer. Kraftvoller. Absoluter.
Meine eigenen Möglichkeiten sind schon längst erschöpft, schon beim zweiten Schlag hätte ich vergehen müssen. Etwas hält mich am Leben. Ich soll sehen, was ich ausgelöst habe. Ich kann den Mantel des Schutzes spüren, der über mir ausgebreitet wurde.
In den bisher vergangenen 30 Sekunden hat sich mein Horizont derart erweitert, daß die geballten Erkenntnisse der gesamten Menschheitsgeschichte unbedeutend werden. Mein Kopf droht aus den Nähten zu platzen, soviel strömt auf mich ein und kann nie völlig verarbeitet werden.

Der siebente Schlag der Kirchturmuhr.
Es beginnt sich zu materialisieren.
Ich meine das neue hohe Leben. Hätten wir von ihnen gewußt, wir hätten sie alle Götter genannt. Vorzeitliche Wesen, gewaltvoller, als es mir denkbar scheint. Damals verbannt von einer noch größeren Macht, einer dem Gott bedingungslos zu Füßen liegt.
Und ich habe das Siegel gebrochen!
Ich, der ich vor ihnen in der Unendlichkeit des Nichts versinke. Wie konnte ich jemals annehmen, Verehrung durch diese Wesen zu erfahren? Sie werden mich nicht einmal wahrnehmen, vielleicht nicht einmal wahrnehmen können.
Ihre Welt gehorcht keinem unserer Gesetze, unsere obersten Gebote werden degradiert zu Nichtigkeiten. Zu recht.
Ich dachte, ich könnte sie beherrschen, und kann ihre Möglichkeit nicht einmal ansatzweise verstehen.

Der achte Schlag der Kirchturmuhr.
Ich kann nur noch registrieren, jeder Versuch, zu verstehen, muß im Wahnsinn, wenn nicht gar im Tode, enden.
Gestalten, für das menschliche Auge zu bizarr, um Formen anzunehmen, bevölkern [die Straße] draußen. Nicht mehr meine Straße, sie ist einer neuen Architektur gewichen. Geometrische Körper, fernab des menschlichen Verständnisses, bestimmen die Landschaft. Jedes Elementarteilchen unserer Welt wurde ausradiert und mußte anderem weichen; Materialien, die ich nicht beschreiben kann, mit einer Tiefe und Komplexität, die allem irdischen spottet.
Eine Aura von Gewalttätigkeit umgibt jeden Zentimeter (wenn man noch von Zentimetern sprechen kann in einer Welt im Widerspruch zum Irdischen), denn für jedwede Schönheit fehlt die Ästhetik der klaren Körper. Eine Gewalttätigkeit, die erhabener scheint, als alles, was ich je mit Gewalt in Verbindung gebracht hatte.
Ich fühle mich nichtig und, noch schlimmer, dumm und unwissend, ja, geradezu unvermögend. Ich, der ich in der Welt, der ich entstamme, Wissen besaß, welches mich an die Spitze der Macht hob. Ich, der ich von den wenigen Eingeweihten selbst als Gott verehrt wurde.

Der neunte Schlag der Kirchturmuhr.
Gewaltig.
Alles in dieser Welt ist gewaltig.
Ja, selbst der Mond scheint mächtiger, realer, lebendiger zu sein. Er scheint vernunftbegabt, im Gegensatz zu mir.
Die Veränderungen dauern erst 45 Sekunden an, aber mir kommt es vor wie eine Lebensspanne. Bedeutet für diese Wesen ein Menschenleben nur einige Sekunden?
In allem steckt ein Hauch von Ewigkeit. Zeiträume, die schon im Erahnen Furcht auslösen. Und diese Zeit verläuft definitiv nicht linear. Auch sie ist ihnen unterworfen.

Der zehnte Schlag der Kirchturmuhr.
Kirchenuhr?
Welche Uhr, von welcher Kirche?
Nichts irdisches ist noch existent.
Der Schlag, ich glaube fast, er existiert nur noch in meinem Geiste.
Dieser Ton, mir seit Jahren vertraut, zerreißt mir fast die Schädeldecke, so falsch wirkt er.
Die Geräusche, die jetzt die [Luft] erfüllen, sind anders. Kompakter und breiter, von engelsgleicher Klarheit und einer Melodik, die meine Sinne Salti schlagen läßt und trotzdem dumpf und dröhnend wie Kanonenschüsse.

Der elfte Schlag der Kirchturmuhr.
Jetzt ist sie vollständig da.
Die andere Welt, von mir aus dem Verlies gelassen.
Der Sprung über Dimensionen (und was auch immer noch) ist vollendet, die alte Welt ist ihr zum Opfer gefallen.
Ich verspüre nicht einmal einen Anflug von Trauer. Sie hatte nichts, was auch nur einen Gedanken wert ist.
Ich bin das letzte Relikt eines Hauches, der das Universum gestreift hat.
Schon vergessen.
Ich spüre die Last der übermäßigen geistigen Anstrengung auf mir.
Sie ermüdet mich.

Der zwölfte Schlag der Kirchturmuhr.
...
 
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Kommentare  

ich muss zu geben, irgendwie habe ich das ganze nur so halb verstanden ...aber das hat gerreicht, um mich zum nachdenken zu bringen. hat er einen sprung in eine andere welt gemacht? außerhalb unserer 3dimensionalen? oder stirbt er da gerade? irgendwie klingt es, als hätte er gift genommen und wartet, bis es wirkt... naja, man sieht ich denke drüber nach...

PS an meinen Vor-kommentator: *gg* ich gebe zu, ich habe das Buch "Bestellung beim Universum" und ich gebe auch zu, dass es lustigerweise irgendwie funktioniert... vielleicht liegt es aber auch an der inneren Einstellung... wie heißt es doch? Aus Gedanken werden Worte, aus Worten Taten, aus Taten der Charakter, aus dem Charakter das Schicksal und das Leben. Aber das ist ein anderes Thema...

[zu lang finde ich es übrigens auch nicht]


*Becci* (18.07.2002)

Donnerwetter, kann ich hier nur sagen!
In einer Welt, in der Selbstverwirklichung, Macht, Durchsetzungsvermögen bis hin zu "Bestellungen beim Universum" angepriesen wird, wo Schwarze und Weiße Magie fröhliche Urständ feiern wie weiland im Mittelalter, wo per Autosuggestion, Mentaltraining und HemiSync fast jede Methode Recht ist, die verschlossenen Ressourcen unseres Geistes aufzubrechen und zu persönlicher Macht zu gelangen ist es Dir mit dieser Geschichte gelungen aufzuzeigen, was passieren kann, wenn es WIRKLICH jemandem gelingen sollte. Pass auf was du dir wünscht - es könnte in Erfüllung gehen!, kann man da nur sagen.
Eine Frage bleibt offen: Ist es nun die ganze Welt, die Dein Protagonist ins Unglück gestürzt hat, oder ist er kraft seines Willens nur selbst dort gelandet, wo er (vermutlich) gar nicht hin wollte?
Wie dem auch sei: Alle fünfe von mir. Von "zu lang" gar keine Rede.


Gwenhwyfar (03.07.2002)

Es gefällt mir, wie du Gefühle und Gedanken beschreibst. Ich war die ganze Zeit gespannt, was nach dem zwölften Schlag passiert, wen oder was er ausgelöst hat. Wurde leider entäuscht. Trotzdem war es spannend und man muß einfach darüber nachdenken...

esmias (03.09.2001)

Willst Du mich veralbern? Was soll ich mit so einem Kommentar anfangen? Ganz nett klingt wie scheiße und zu lang ist schlicht falsch. Gezogen ist hier schon gar nix. Danke.

MarkusBoehme (16.08.2001)

Naja, ganz nett geschrieben aber für ein Kurzgeschichte doch sehr langgezogen.

Kerstin (16.08.2001)

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