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4 Seiten

Der Neue

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Kess
Auf der rechten Seite die ungeraden Zimmernummern, auf der linken Seite die geraden. Der obere Flur ist lang.
Tobias versucht sich daran zu erinnern, wie er am Nachmittag mit Rolf hier herauf gekommen ist. Sind sie da an der rechten Wand entlang gegangen?
Eins, drei, fünf... Unbewusst schüttelt Tobi den Kopf.
Er hat am Nachmittag nicht darauf geachtet, den Kopf mit anderen Dingen voll gehabt. Jetzt ist er sich unsicher, in welchem Zimmer sie ihn einquartiert haben.
Erst als er ganz hinten im Gang ankommt, weiß er es wieder. Als er schon vor der richtigen Tür steht und die Nummer liest.
Richtig! Elf hat Rolf vorhin zu ihm gesagt. Und 7.11 war Tobias’ Nummer. „Riege 7, Zimmer 11, ganz einfach.“
Tobias hat Rolfs Worte noch genau im Ohr, umso mehr, je stärker er versucht, sie zu verdrängen.
7.11, das klingt ziemlich blöd, findet er. Rolf hatte frech gegrinst.
Vorsichtig drückt Tobias die Klinke herunter. Falls er sich irrt, falls es gar nicht sein Zimmer ist.

Die leere Reisetasche liegt auf dem Schreibtisch; die Schranktüre ist halb offen und Tobias kann seinen Lieblingspullover erkennen. Der hängt da in dem Schrank, wie Tobias in der offenen Tür steht: völlig regungslos und irgendwie ein bisschen Fehl am Platze.
Schritte auf der Treppe.
Nein! Daß ihn jemand hier so sieht, jetzt, wo er schon wieder einen dicken Kloß im Hals hat, das muß nicht sein.
Vielleicht, versucht der Junge sich einzureden, geht’s mir morgen besser.
Aber daran glaubt er nicht. Er will gar nicht daran glauben.
Hinter ihm fliegt die Tür zu.
Tobias legt sich aufs Bett und versucht zu verschnaufen, aber das gelingt ihm auch nicht.
Zu viele Gedanken schwirren in seinem Kopf herum; der Tag hat ihm ordentlich zugesetzt.
Vor fünf Stunden noch ist Tobias in der Klinik gewesen, in der er die letzten drei Monate verbracht hat. Dort haben sie mit ihm geübt, damit er sein Bein wieder richtig bewegen konnte. Und damit die Sache mit seinem Kopf wieder in Ordnung kam, damit das mit dem Denken klappt.
Über den Unfall wollten sie auch mit ihm sprechen, aber Tobias hat sich auf die Zunge gebissen und kein Sterbenswörtchen davon erzählt, wie er sich fühlt. Können sie sich doch selbst vorstellen, wie es ist, wenn man aus dem Koma aufwacht und keine Eltern mehr hat.
Da gibt es nichts zu sagen.
Wenn Tobias in den Spiegel schaut, erkennt er in seinem Gesicht noch die Spuren des Autounfalls. Kleine Narben, kaum der Rede wert.
Sein Leben ist trotzdem ordentlich durcheinander geraten.
Ein Blick auf die Uhr: Noch eine Viertelstunde, dann kommt Rolf und holt ihn zum Duschen ab.
Eigene Handtücher hat Tobias nicht, auch keine eigene Bettwäsche.
Manche von den anderen Jungs haben das, hat ihm Rolf erzählt, als sie für Tobias Handtücher aus der Wäschekammer geholt haben.
Die meisten sogar.
Rolf nicht.
Der nimmt die gleichen ausgewaschenen Laken und das gesteifte Bettzeug, das auch Tobias auf seinem Bett hat. Manchmal ziehen die anderen Rolf damit auf, hat er gemeint, aber dann sagt er ihnen seine Meinung: Dass er nicht mehr fünf ist und dass er keine Micky-Maus-Kopfkissenbezüge braucht. Dafür hat Rolf sich ein eigenes Handtuch von seinem Taschengeld gekauft. Tobias durfte es bewundern, als Rolf ihm den Waschraum zeigte.
Anscheinend war er sehr stolz darauf.

Im Waschraum ist es kalt. Tobi fühlt sich unbehaglich, als er, nur mit seiner Unterhose bekleidet, hinter Rolf in den Raum kommt. Die anderen Jungen starren ihn neugierig an, kichern unterdrückt, grinsen.
Blöde hat der Neue sich heute beim Essen benommen, hat mit der Gabel darin rumgemanscht und so getan, als wäre das Abendbrot ganz besonders eklig.
Sie können ja nicht ahnen, dass Tobias von Rührei reihern muss. Er hat es schließlich nicht gesagt.
Auch Rolf grinst, aber nicht unfreundlich. Er winkt ihn zu den Duschen hinüber. Das Seifenstück, das Tobias von einem der Erzieher bekommen hat, ist glitschig. Tobi kann gar nicht damit umgehen. Ständig flutscht ihm die nasse Seife durch die ungeschickten Finger. Er weiß nicht recht, wie er sich damit waschen soll.
Die anderen sehen das natürlich.
„Essen kann er nicht und waschen kann er sich auch nicht.“
Das ist nicht wahr.
Natürlich kann Tobias sich waschen – nur nicht mit Kernseife, weil er das noch nie gemacht hat, nicht mal die Hände. Es ist einfach ungewohnt.
„Soll’n wir dir helfen?“ fragt jemand spöttisch.
Schon umringen ihn drei der fremden Jungen. Tobias bekommt Angst, als er sich so gegen die feuchte Fliesenwand gedrängt wiederfindet. Nicht nur, dass die anderen so groß und um einiges älter als er selbst sind. Ihr Grinsen ist auch ganz schön mies.
Plötzlich packen sie ihn an den Armen. Die Seife, die Tobias vor Schreck fallen gelassen hat, wird aufgehoben und die Jungen reiben ihn von Kopf bis Fuß kräftig damit ein, dass es nur so schäumt.
Dann lassen sie ihn ganz unvermittelt los. Sie lachen noch immer, aber nicht mehr so bissig. Einer klopft Tobi sogar auf die Schulter, bevor sie ihn unter die eiskalt aufgedrehte Dusche schieben.
Schnaubend wischt Tobias sich Seifenschaum aus dem Gesicht.
Er möchte am liebsten Losheulen – nur starren sie ihn schon wieder alle so an, warm eingewickelt in ihre Handtücher, und lachen.
„Mensch, heul doch nicht!“
Das klingt beinah versöhnlich. Sein Handtuch wird ihm zugeworfen.
Tobias kann nicht gut fangen. Bei Ballspielen wird er immer zuletzt gewählt. Das Handtuch klatscht auf den nassen Boden und saugt sofort das dort schwimmende Wasser auf.
„Na, damit kannste dich jetzt nicht mehr abtrocknen“, stellt einer fest, als Tobi das schmuddlige gelbgraue Handtuch aufhebt.
„Wart mal“, sagt Helge, weil Tobias diesen Einwand überhört und sich trotzdem notdürftig mit dem nassen Ding trockenreiben will. „Ich hab’ noch ein Handtuch im Schrank. Dann brauchste das da nicht zu benutzen.“
Das versprochene Handtuch ist weich und kuschelig, mit kleinen blauen Elefanten drauf.
„Von Helges Omilein“, frotzelt einer der Jungen.
Helge reagiert nicht darauf. Nachdenklich schaute er auf das alte, abgeriebene Handtuch zu Tobis Füßen. In Helges Schrank liegen sieben Handtücher, so gut wie neu, denn er bekommt jede Weihnachten und jeden Geburtstag eines, seit er seine Oma ganz am Anfang darum gebeten hat, ihm ein Handtuch zu schenken. Die ist eben schon ein bisschen senil.
Das Handtuch, mit dem Tobi sich jetzt abreibt, hat Helge schon über zwei Jahre und noch nie benutzt.
Blaue Elefanten! Er kann sich schließlich nicht lächerlich machen!
Helge denkt darüber nach, dass der Neue nun eine ganze Weile lang dieses schreckliche alte Ding benutzen muss. Er kann sich daran erinnern, wie hart es ist, wenn die anderen darüber herziehen. Es ist zwar nur Spaß, aber es tut trotzdem weh.
Als sie nebeneinander am Waschbecken stehen, um sich die Zähne zu putzen, hält Helge Tobias das geborgte Tuch hin. „Wenn du magst, kannst du es behalten“, bietet er an. Bevor Tobi ja oder nein sagen kann, hat Helge sein Namensschild von dem Tuch abgeknurpselt und es an Tobis Haken gehängt.
Die anderen Jungen grinsen, als sie das bemerken:
„Na, Helge, bist du endlich dein Lieblingshandtuch losgeworden?“
„Stehst wohl nicht auf Rüssel, Helge.“
Es ist ein gutmütiges Spotten, das sich über Tobias und Helge ergießt. Gutmütig und versöhnlich: „Aber unser Neuer, der hat’s mit Elefanten, stimmt’s nicht, Dumbo.“
Auch das noch. So ein lächerlicher Spitzname.
Doch als Tobi merkt, dass dieses „Dumbo“ so nett gemeint ist, wie es nur geht, lässt er es dabei bewenden: So schlimm ist der Name nun auch wieder nicht; besser, als wenn sie ihn die ganze Zeit über „Kleiner“ oder „Neuer“ rufen würden. Also.

Erst im Bett wird Tobias wieder von seinem ganzen Elend eingeholt. Der Mond scheint hell in das kleine Zimmer und die warme Luft schiebt sich durch das weit geöffnete Fenster hinein. Im Nebenzimmer wälzt sich einer der anderen Jungen scheinbar ebenfalls schlaflos im Bett hin und her. Die Wand ist so dünn, dass er Tobias die Bettsparren knarren hört.
Die Tür wird eine Handbreit geöffnet. Flurlicht schimmert auf den Dielen.
„Hey, Dumbo, schläfst du?“
Tobias erkennt mit Mühe Rolfs holprige, vom Stimmbruch verzerrte Stimme. Rasch setzt er sich in den knisternden Bettbezügen auf.
„Nee. – Komm doch rein.“
Rolf scheint zu zögern, aber schließlich schleicht er zu Tobi herüber. Auf Zehenspitzen.
Nächtliches Herumgeturne ist verboten, erinnert Tobi sich an das, was der andere ihm heute Nachmittag gleich zu Beginn eingebläut hat.
Die Heimordnung ist streng.
Wer weiß, was passiert, wenn sie uns dabei erwischen.
Rolf errät diesen Gedanken und winkt gelassen ab.
„Ach, is’ doch deine erste Nacht, da fühlt man sich nicht nach Alleinsein. Und schlafen kannste sowieso nicht.“
Stimmt.
Tobias möchte gar nicht mehr so gern allein sein, wie er am Mittag noch gedacht hat. Allein sein, das ist viel schlimmer, als wenn man mit anderen redet.
Rolf plappert und plappert, lässt einen Satz munter dem anderen folgen.
„Deine Eltern sind tot, nicht?“
Na, das war ja eine besonders feine Art, mit der Tür ins Haus zu fallen. Einen Moment lang ist die Versuchung groß, Rolf für diesen Satz aus dem engen Zimmer zu jagen, aber Tobi lässt es bleiben. Es stimmt, Mama und Papa sind tot - und dass Rolf etwas ungeschickt danach fragt, das ist bestimmt nicht böse gemeint.
Tobi nickt langsam. Er hat sich dazu entschlossen, sich Mühe zu geben. Vielleicht ist ja dann alles gar nicht mehr so schlimm.
 
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Kommentare  

Tolle Story, liest sich fast wie von selbst :)

Wolf (06.02.2002)

Eine wirklich gute und einfühlsame Story!

Robert Short (19.10.2001)

Kinder können so grausam sein, aber eben nicht alle! Schöne Geschichte, würde gerne mehr von dir lesen!

esmias (19.10.2001)

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