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13 Seiten

Roboter Jan

Romane/Serien · Fantastisches
Die Welt - unsere Welt! - ist in Wirklichkeit... eine Welt OHNE MENSCHEN - offenbar!

Ja, zu dieser Erkenntnis kommt der Dreizehnjährige Jan Herwig eines schönen Tages. Ganz überzeugend sogar! Obwohl...

Nun, ganz von vorn: Er ist an diesem wirklich wunderschönen Tag im Urlaub mit seinen Eltern. Sie hatten im Lotto gewonnen (das gibt es ab und an tatsächlich). Grund genug für sie, sich zunächst einen wahren Herzenswunsch zu erfüllen, noch bevor sie an andere Dinge dachten, wie Ablösung aller Hypotheken, einen neuen, größeren, besseren Wagen,
den modernsten PC - endlich! - je einen für Vater und für Sohn - und so weiter...

Die Reise führte sie hierher in die Südsee, auf eine Insel, die ungefähr so einsam war wie die von Robinson Crusoe. Jedenfalls kam sie Jan so vor: Keine Freunde, keine Action, nicht einmal Zerstreuung, und sogar sein geliebtes Handheld (= tragbares Videospielsystem) durfte er nicht mitnehmen hierher - angeblich, "um die Idylle nicht durch so 'nen Kram zu stören", wie sein Vater meinte.

Kein Wunder, daß er auf "dumme Gedanken" kam und sich ein Floß baute. So hätte es Robinson Crusoe in seiner Situation gewiß ebenfalls getan. Nur hätte der vorher die Meeresströmung beobachtet. Wahrscheinlich. Und die führte schnurstracks von der Insel weg. Für den Original-Robinson gewiß eine gute Sache, für Jan allerdings...

Er ruhte sich nach getaner Arbeit erst einmal aus, sonnte sich auf seinem Floß, ließ sich von der sanften Brandung in der Bucht schaukeln, döste ein... Und als er erwachte, war es längst zu spät: Er war hinausgetrieben auf die offene See, lag in greller, unbarmherziger Sonne, hatte eine dicke, pelzige Zunge und sah nur noch Wasser, so weit sein
Auge reichte. Eine flirrende Wasserwüste und dennoch keinen Tropfen zu trinken.

Er wollte schreien, aber seine ausgetrocknete Kehle verließ kein Laut. Die Angst schnürte seinen Brustkorb so fest, daß er glaubte, ersticken zu müssen.

Er schloß die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Bloß keine Panik. Das könnte alles nur noch verschlimmern.

Er riß die Augen wieder auf.

Blödsinn, als wenn es eine solche Verschlimmerung jetzt noch geben könnte...

Wie viele Meilen waren es denn bis zum Festland? Tausend? Ja, in welche Richtung war er denn überhaupt abgetrieben worden?

Verflixt, er war mitgeflogen, hatte sich sogar auf diesen Urlaub gefreut. Er hatte ja nicht ahnen können... Wenn er wenigstens noch einen Blick in die Seekarten geworfen hätte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo er sich hier befand, wußte noch nicht einmal, wo genau diese verflixte Insel lag, auf die ihn seine Eltern verfrachtet hatten.

Das habt ihr jetzt davon! dachte er in einem seltsamen Anflug von Schadenfreude. Aber diese hatte keine rechte Chance, Fuß zu fassen. Die Angst war größer. Sie beherrschte mehr und mehr sein Denken. Er hätte nur noch schreien mögen. Wäre es nur gegangen...

Er suchte den strahlendblauen, unendlichen Himmel ab. Vielleicht ein Flugzeug? Vielleicht suchte man schon nach ihm?

Die wilde Hoffnung ließ ihn keuchen. Er sprang auf. Das primitive Floß schaukelte bedrohlich und wollte ihn abwerfen. Er konnte sich im letzten Moment wieder ducken und festhalten.

Verflixt, vermißte ihn denn gar niemand? Wann merkten die denn überhaupt, daß er nicht mehr da war?

Seit Tagen sind wir auf dieser blöden Insel. Als wäre das Urlaub. Das ist absolut beschissen. Das ist sogar zum Schreien blöd. Und das für all das gute Geld. - Dabei hatten sich seine Eltern echt wohlgefühlt und ihn eigentlich längst vergessen. Er war seiner eigenen Wege gegangen, hatte versucht, irgendwie die Zeit totzuschlagen. Man kann ja nicht den ganzen Tag nur faulenzen, oder? Jan jedenfalls nicht. Er brauchte ein Mindestmaß
an Action. Indem er zum Beispiel ein Floß baute. Leider...

Ein Ruck ging durch das Floß. Jan schlitterte darüber hinweg und wäre jetzt doch beinahe ins Wasser gefallen.

Das Ding ist aufgelaufen! schoß es ihm durch den Kopf.

Er schaute in die Richtung und sah - das Land.

Das gibt es doch gar nicht! Ich fange an zu spinnen. Wie die Leute in so einer Wüste. Wenn sie so eine blöde Fata Morgana sehen. Wie kann denn plötzlich Land dort sein, wo es vor Sekunden nur noch Wasser gegeben hat?

Er schaute in die andere Richtung.

Das Wasser war dort immer noch, so weit sein Auge reichte.

Er war auf einen Strand aufgelaufen. Sanft stieg der Strand empor. Am höchsten Punkt gab es eine staubige Buschreihe. Mehr konnte Jan nicht erkennen. Die Küste zog sich scheinbar schnurgerade entlang.

Und da tauchte tatsächlich jemand oben auf.

Jan winkte erfreut, um auf sich aufmerksam zu machen. Zu spät sah er, daß der Mann uniformiert und - bewaffnet war. Er legte sofort mit dem Gewehr auf Jan an. Jan bildete sich ein, genau zu sehen, wie sich der Zeigefinger des Mannes entschlossen um den Abzug krümmte. Trotz der Entfernung.

"He!" rief der Mann, "einer von den verdammten Robotern ist ausgebüchst. Soll ich ihn kaputtschießen?"

Das war nicht an die Adresse von Jan gerichtet. Der Mann hatte es einem anderen zugerufen, den Jan noch nicht sehen konnte.

Was war das gewesen?

Vielleicht ein Verrückter? dachte sich Jan. Und wieso steckte man so einen Kerl in Uniform und ließ ihn frei herumlaufen?

"Bist du verrückt?" rief prompt ein anderer hinter der Buschreihe. Er tauchte jetzt ebenfalls auf. Der zweite Uniformierte: "Du mit deinem Gewehr. Mußt du immer auf alles schießen?"

Der erste ließ tatsächlich sein Gewehr wieder sinken. "Aber die können ganz schön gefährlich werden, diese Dinger. Das hat man uns gesagt."

"Hast du eine Ahnung, was so ein Modell überhaupt kostet? Das schießt man nicht so ohne weiteres kaputt."

"Aber man hat doch keine Verwendung mehr dafür", verteidigte sich der erste erneut. "Bis der gemerkt hat, was hier gespielt wird, muß er ausgeschaltet werden. Und daß er hier ist, beweist uns, daß er aus der Versuchsanordnung und damit ausgeschieden ist. In einer Art und
Weise, daß es kein Zurück mehr für ihn gibt. Der ist für die quasi auf dem Meer verschollen. Für immer."

Sprachs und legte wieder an.

Der Schuß krachte.

Jan war unfähig, sich zu bewegen, geschweige denn, davonzurennen. Das Gerede machte ihn schwindeln. Er verstand zwar jedes einzelne Wort, aber er begriff nichts. Quasi als würden die eine völlig unbekannte Sprache sprechen, wo es zwar bekannte Wörter gab, die aber eine völlig andere Bedeutung hatten.

Die Kugel ging vorbei, denn der zweite hatte rechtzeitig unter das Gewehr geschlagen.

"Nichts da!" befahl er. "Wir nehmen das Ding gefangen und führen es vor. Es liegt nicht an uns, darüber zu entscheiden."

"Das ist Quatsch!" widersprach der erste enttäuscht. Und: "Ach, es wäre so ein guter Schuß gewesen. Direkt ins Schwarze. Die haben genau dort ihre Batterie, wo wir das Herz haben. Das macht es ja so spannend."

Jan tastete unwillkürlich über seine Brust.

Das Herz. Es schlug heftig. Kein Wunder.

Eine Batterie?

Ihm war auf einmal hundeelend. Er glaubte, sich übergeben zu müssen.

Das Herz schlug und schlug. Es trommelte regelrecht von innen gegen
die Rippen.

Eine Batterie, wo "die da" - ein Herz hatten?

Schlagartig war die Übelkeit weg. Jedenfalls spürte Jan sie nicht mehr. Alles wurde überschattet vom Zorn. Er ballte die Hände zu Fäusten.

"Was geht hier vor, verflixt und zugenäht? Ist das eine Insel oder was? So eine Art Sanatorium für Verrückte?"

Eine innere Stimme flüsterte ihm zu: "Nein, die Wahrheit sieht anders aus. Du hast das längst erkannt und willst es nur nicht anerkennen. Weil es wehtut."

Der zweite Mann schob den ersten unsanft beiseite und rief herunter: "He, Junge, ganz ruhig, sonst schießt mein Kumpel doch noch. Er ist der beste Schütze vom ganzen Bataillon. Der hat mehr Dinger abgeknallt als du dir vorstellen kannst. Es kommt immer wieder vor, daß eins mal durchdreht, einfach aus der Reihe tanzt. Für solche Pannen sind wir da."

Der erste Mann rief triumphierend: "Siehst du, das Ding da unten dreht jetzt auch durch. Also, worauf warten wir noch?"

Der zweite Mann reagierte gar nicht. Er verließ die Buschreihe und kam zu Jan herab. Bei jedem Schritt sank er mit den Füßen tief im lockeren Sand ein. Er näherte sich immer mehr.

Es war ein ganz normaler Mann, der freundlich lächelte und die Arme hob, als wollte er Jan wie einen alten Freund umarmen.

Jan runzelte die Stirn. Er schielte zu dem ersten Mann hinauf, der unschlüssig mit dem Gewehr hantierte.

"Ruhig Blut!" beschwor der zweite Mann. "Es ist wird alles gut, wenn du Vertrauen hast, mein Junge!"

"Blut?" schimpfte der erste Mann und packte sein Gewehr fester. Seine Miene verfinstert sich. Ja, Jan konnte es tatsächlich sehen, trotz der Entfernung. Wie war das denn möglich? "Junge?" fügte der Mann hinzu und spuckte verächtlich in den Sand. "Begib dich nur in Gefahr. Als wenn du nicht wüßtest, was mit denen geschieht, wenn sie erst mal die
Wahrheit erkannt haben."

Die Wahrheit!

Jan sah den näherkommenden Mann, beobachtete ihn genau. Der Mann wirkte freundlich, gutmütig. Ja, gewiß, er meinte es gut mit ihm. Aber er war ebenfalls bewaffnet. Das Gewehr hatte er geschultert, an der Hüfte baumelte ein Ding, das entfernt aussah wie eine Pistole.

Jans Blick saugte sich regelrecht daran fest. Eine eigenartige Pistole war das. So eine hatte er noch nie zuvor gesehen. In keinem Film.

Auf einmal war ihm, als sei er in einen futuristischen Science-Fiction-Film geraten. Alles erschien so unwirklich, so skurril, so absurd... Und doch...

Ich bin - ein Roboter! dachte Jan. In Wirklichkeit bin ich – ein verdammter Roboter. Ja, das gibt es. Ganz offensichtlich. Noch vor Minuten war ich einfach ein verzweifelter Dreizehnjähriger auf einem primitiven Floß gewesen, mitten im Ozean - und jetzt bin ich hier, bin ich ein - Roboter!

Nein, nicht ich habe mich verändert, sondern meine Umgebung. Ich war noch nie ein richtiger Mensch gewesen. Ich habe nur so gelebt, habe mich nur als Dreizehnjähriger mit Namen Jan Herwig gefühlt. Ganz programmgemäß. In einer Scheinwirklichkeit, aus der ich durch einen dummen Zufall entkam.

Aber jetzt bin ich hier und muß handeln, ehe es zu spät ist!

Der Mann war nahe genug. Jan sprang vor.

Der Mann war freundlich. Er meinte es wirklich gut. Er wollte verhindern, daß sein Kollege auf Jan schoß. Wahrscheinlich eine Ausnahme bei den Wächtern. Wie groß war denn Jans Chance, wenn er sich ergab?

Nein, der erste Mann hatte deutlich gemacht, was er von Robotern wie Jan hielt. Für ihn hatten sie den Wert von Pappkameraden auf dem Schießstand. Es war kaum vorstellbar, daß er damit eine Ausnahme bildete. Sonst hätte er sich vor Bestrafung fürchten müssen.

Ganz im Gegenteil, es sah eher danach aus, daß diese Uniformierten dazu da waren, gewisse Ausreißer sofort zu eliminieren. Und Jan war in seinen Augen nichts anderes als ein - Ausreißer.

Der freundliche Mann hatte einen Fehler gemacht - im Sinne seines Auftrages.

Und er bot Jan dafür die entscheidende Chance.

Jan entwendete ihm schneller die eigenartig aussehende Waffe als er reagieren konnte. Jan richtete die Waffe auf den Mann mit dem Gewehr.

"Alarm!" schrie dieser entsetzt und sprang in Deckung.

"Jetzt sind wir für einen Moment allein!" sagte der zweite Mann ruhig. Er machte keinerlei Anstalten, Jan die Waffe wieder wegzunehmen. Ganz im Gegenteil: "Behalte das Ding. Wir nennen es Paralyzer. So eine Art Laserwaffe, allerdings nur bedingt tödlich. Roboter schaltet es aus. Ihre Energieversorgung bricht zusammen. Das ist weniger dramatisch, als wenn sie von einem Raketengeschoß aus dem Gewehrlauf getroffen
werden. Die Projektile explodieren nämlich und hinterlassen nur noch einen rauchenden Trümmerhaufen. Man sollte bei einem Treffer weit genug wegstehen."

"Wie - wie wirkt die Handwaffe - der Paralyzer - auf - Menschen?" würgte Jan hervor. Vor allem das Wort Menschen fiel ihm schier unendlich schwer.

"Es raubt ihnen das Bewußtsein, lähmt sie zumindest für eine Weile. Je nachdem, wie du sie triffst, auf manchmal sehr schmerzhafte Weise. Jedoch: Im falschen Moment getroffen, tötest du sie. Vergiß das nie!"

"Warum tun Sie das für mich?"

Er zuckte die Achseln. "Ich bin ein Mensch, und ich habe deshalb Gefühl. Ich weiß, daß ihr so denkt und fühlt wie Menschen. Sonst wärt ihr für die Versuchsanordnung unbrauchbar. Wie also kann man denkende und fühlende Wesen so behandeln? Wie könnte ich das jemals akzeptieren?"

"Aber man wird Sie zur Rechenschaft ziehen..."

"Schieße auf mich mit dem Ding, und dann renne in diese Richtung, immer gen Norden, so schnell du kannst. Renne um dein Leben und kümmere dich nicht darum, deine Kräfte einzuteilen. Sie sind nicht mehr in einem solchen Maße gedrosselt, daß du dich wie ein zerbrechlicher Mensch fühlen mußt."

Jan legte mit der Waffe an, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte.

"Wie heißt du?" fragte der Mann, ehe Jan abdrückte.

Jan antwortete ihm: "Ich bin Jan Herwig. - Gewesen!" fügte er hinzu und drückte ab.

Jan sprintete los, noch ehe der zusammenbrechende Mann den Boden berührt hatte. Er dachte an seine Eltern. Sie würden ihn vermissen.

Ihr Sohn - auf dem Meer für immer verschollen...

Seine - Eltern?

*

Die Nackenhaare sträubten sich ihm unwillkürlich, als er noch einmal über alles nachdachte, was er in der letzten Minute erlebt hatte. Es war nur eine einzige Minute gewesen - und sie hatte seine ganze Welt in einem solch extremen Maße verändert, daß es ihm schier übel davon wurde.

Und trotzdem rannte er um sein Leben. Er jagte den Strand entlang. Seine Füße trommelten im wilden Stakkato über den lockeren Sand. Sie hatten keine Gelegenheit, in diesen Sand einzusinken - bei der Kürze der Berührung -, und er flog förmlich darüber hinweg, in einer Geschwindigkeit, als würde er in einem schnellen Sportwagen sitzen und
sich nicht auf eigenen Füßen fortbewegen. Und sein Atem ging dabei ganz ruhig, überhaupt nicht beschleunigt. Er spürte auch weder Müdigkeit, noch Erschöpfung. Daß er jetzt keuchte, das kam nur von der Fremdartigkeit der Situation, nicht von dem schnellen Lauf.

Er wandte den Kopf und schaute zurück. Weit hinten lag der paralysierte Mann bewußtlos am Strand. Er hatte ihn niedergeschossen, was ihn aber nur betäubte. Der schießwütige Mann indessen mit dem Gewehr hatte inzwischen wieder seine Deckung verlassen.

Jan brauchte es nur zu wollen, und schon zoomten seine Augen das Bild des zweiten Mannes heran, so nahe, als würde er unmittelbar vor ihm stehen. Der Mann legte mit dem Gewehr an, aber Jan war viel zu schnell und wahrscheinlich längst außerhalb der Reichweite seines Gewehres. Aber jetzt tat der Mann etwas anderes: Er ließ sein Gewehr wieder sinken
und griff sich ein kleines Ding, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Handy hatte. Daß es auch ähnliche Bedeutung besaß, zeigte sich sofort, als er hineinredete.

Jan brauchte es nur zu wollen, und er hörte deutlich, was der Mann zu sagen hatte: Er gab in das Handy Alarm!

Jan schaute sofort wieder nach vorn. Seine Augen und Ohren normalisierten sich. Er flog dahin und spürte den rasenden Fahrtwind. Jetzt fühlte er sich wie auf einer Rennmaschine, und das bewirkte er einfach mit seinen wirbelnden Beinen. Sie wirbelten so schnell, daß man
sie nicht mehr sehen konnte. Jedenfalls, ein normaler Mensch hätte sie nicht mehr sehen können. Jan konnte es, wenn er nur wollte.

Sein linkes Auge richtete sich nach vorn, auf den Strand, damit er kein Hindernis übersah, über das er hätte stolpern können. Sein rechtes Auge indessen suchte die Dünen ab, die sich rechts von ihm erhoben, immer wieder von seltsamen Buschreihen gesäumt. Wenn er richtig vermutete, gab es auf der ganzen Strecke im gewissen Abstand immer wieder jene
Wächter. Er hatte die Grenzen der Versuchsanordnung überschritten und mußte damit rechnen, daß diese Grenzen hermetisch abgeriegelt waren. Und selbst wenn er die Fähigkeiten eines Superroboters hatte, war er dennoch gefährdet. Der zweite Mann hatte es ihm drastisch genug geschildert, was passierte, wenn er von einer Gewehrkugel getroffen wurde. Diese Kugeln hatten die Wirkung von Granaten. Er würde sich in Sekundenbruchteilen in einen explodierenden Trümmerhaufen verwandeln.

Deshalb war er so vorsichtig. Er bildete sich in keiner Sekunde ein, bereits in Sicherheit zu sein. Und so entging es ihm nicht, daß weit vorn jemand in Deckung lag und genau auf ihn zielte. Der hatte ein Zielfernrohr auf sein Gewehr montiert. Jan sah es überdeutlich, weil er das Bild heranzoomte.

Er konzentrierte sich auf die Gewehrmündung und sah die Pulverflamme, die plötzlich aus dem Lauf hervorschoß. Den Schuß würde er viel zu spät hören, weil der Schall wesentlich langsamer war als die tödliche Kugel. Daran konnte sich Jan undeutlich erinnern. Hatte ihnen
nicht der Physiklehrer das so erklärt? Daß einer erst die Kugel spüren und dann erst den Schuß hören würde?

Jan blieb nicht stehen. Der Schütze hatte seinen Lauf genau voraus berechnet. Die Kugel würde ihn nicht verfehlen.

Aber im richtigen Sekundenbruchteil schlug Jan einen Haken. Die Kugel zischte dicht an ihm vorbei und verlor sich irgendwo über dem Meer, ohne Schaden anrichten zu können.

Jan jagte weiter und war eine Sekunde später schon wieder im Visier des Todesschützen.

Mit dem rechten Auge beobachtete Jan das Mündungsfeuer. Sein hochgezüchtetes Gehirn, einem menschlichen Gehirn tausendfach überlegen, rechnete schneller die Flugbahn des Projektils aus als dieses fliegen konnte. Abermals eine plötzliche, wenn auch nur vorübergehende Richtungsänderung seinerseits: Auch dieses Projektil verfehlte ihn knapp.

Der Mann fluchte lauthals vor sich hin.

Und da entdeckte Jan den nächsten Schützen. Und sogar noch einen dritten. Sie deckten ihn mit einem wahren Feuerregen ein. Aber selbst das war kein Problem für ihn. In einem wilden Zickzack und mit kaum verminderter Geschwindigkeit sauste er dahin.

Und da entdeckte er weit vor sich die Felsenformation, die bis zum Meer reichte und den Strand abschnitt. Der freundliche Mann hatte ihm den Tip gegeben, in diese Richtung zu laufen, immer in Richtung Norden. Das mußte ja wohl einen Grund gehabt haben. War die Felsenformation der Grund? Hörte dort die Überwachung auf?

Jan hoffte es inbrünstig, denn wenn noch mehr Todesschützen hinzu kamen, befand er sich in echten Schwierigkeiten, denn zu vielen Kugeln gleichzeitig würde er am Ende viellicht doch nicht mehr so ohne weiteres ausweichen können.

Er erreichte die Felsformation im Rekordtempo und wollte schon aufatmen.

Aber da trat ein Mann aus der Deckung eines Felsbrockens. Er hatte eine Waffe in der Faust. Jan raste auf ihn zu, mit einer Geschwindigkeit von mindestens einhundertfünfzig Stundenkilometern. Dabei hatte er seinen rasenden Lauf längst gedrosselt, um nicht an den Felsen zu zerschellen, und er war dabei, seine Geschwindigkeit noch mehr zu
drosseln.

Der Mann schoß dennoch mit der seltsamen Waffe, wie auch Jan selber eine mit sich führte. Der zweite Mann am Strand, direkt bei seiner Ankunft, hatte sie besessen. Und mit dieser Waffe hatte er den Mann auch bewußtlos geschossen. Was hatte er noch gesagt, was eine solche Waffe bei einem Roboter bewirkte, wie Jan einer war?

Jan hatte keine Gelegenheit mehr, weiter darüber nachzudenken, denn der Mann schoß auf ihn.

Diesmal konnte er leider nicht ausweichen, weil der Mann auf Streustrahlung geschaltet hatte. Das heißt, es gab keinen dünnen Strahl, dem man ausweichen könnte, sondern einen so breiten Fächer, daß selbst ein so hochgezüchteter Roboter wie Jan keine Chance mehr hatte.

Der Mann erwischte ihn mit dem Schuß. Dabei lächelte er sogar. Wie sah das aus? Schadenfroh?

Es war das letzte, was sich Jan noch fragte, ehe es dunkel um ihn wurde.

*

Die Dunkelheit kannte keinen Schmerz mehr, auch keine Sorgen. Vielleicht hätte er sich nicht fragen sollen, wie das Lächeln des Schützen zu deuten war, sondern vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, sich darüber Gedanken zu machen, ob er bei seiner immer noch viel zu hohen Geschwindigkeit nicht am Felsen zerschellte und damit den Tod fand?

Der Strahl an sich war nicht ganz so stark gewesen, dank der Fächerung. Das würde nicht für seinen Tod sorgen.

Tod? Was für ein seltsamer Begriff - im Zusammenhang mit ihm.

Dachte er und erwachte!

Es geschah nicht schlagartig. Die Gedanken in seinem Kopf waren erst nur sehr vage gewesen. Aber das Wort Tod hatte seine Lebensgeister endgültig geweckt. Er versuchte, die Augen aufzuschlagen, aber das ging aus ungewissen Gründen nicht. Sie waren wie zugeklebt.

Aber vielleicht hatte man sie ihm ja auch - tatsächlich zugeklebt? Vielleicht war sein Gesicht beschädigt und mußte erst repariert werden?

Nein, er konnte in diesem Zusammenhang nicht denken: verletzt! Er mußte an Beschädigung denken. Nicht an Heilung, sondern an... Reparatur! Jetzt, da er wußte, daß er überhaupt kein Mensch war, daß er sich nur dreizehn Jahre lang etwas vorgemacht hatte. Eine perfekte Versuchsanordnung. Alles Roboter, selbst seine Eltern, seine Freunde...
ALLE, die er kannte!

Er lauschte. Dabei versuchte er, sein hypersensibles Gehör einzuschalten.

Das gelang ihm nicht mehr! Er hatte wieder ein hundsgewöhnliches, menschenähnliches Gehör. Dabei war die Geräuschwahrnehmung sogar noch gedämpft.

Ich habe einen dicken Kopfverband! schloß er daraus.

Er hörte Stimmen, die er aber nicht recht einordnen konnte. Kamen sie ihm bekannt vor? Das wäre ja auch zu ungewöhnlich gewesen. Die hatten ihn eingefangen, ohne Frage. Aber sie hatten ihn nicht zerstört, sondern sie hatten ihn nur gefangengenommen.

Da, die eine Stimme erkannte er doch: War das nicht die Stimme von seiner... Mutter?

Mutter?

Es wurde wieder schwarz vor seinen Augen - noch schwärzer als ohnehin schon. Und sein Denken erlosch erneut.

*

"Ich bin, weil ich bin!" ging es ihm durch Kopf, als er diesmal erwachte. Ein Satz aus dem Philosophieunterricht. Wie wahr, wie wahr! Was machte es für einen Unterschied, ob er nun Jan, der dreizehnjährige Junge war - oder Jan, der hypersensible Roboter, dem es gelungen war, aus einer Versuchsanordnung auszubüchsen, in der er sich als eben dieser
Dreizehnjährige gefühlt hatte - programmgemäß?

Die Augen waren immer noch verbunden, aber er konnte diesmal besser hören. Die Stimme von seiner Mutter hatte ihn geweckt. Sie fragte besorgt nach seinem Zustand, und eine noch unbekannte Stimme antwortete zuversichtlich: "Kein Problem! Er wird am Ende alles weitgehend vergessen haben. In diesem Alter verkraftet man das viel
besser."

"Aber er war Tage auf dem Meer gewesen. Die unbarmherzige Sonne hat ihn schier zur Unkenntlichkeit verbrannt. Er war fiebrig gewesen, erschöpft, fast verdurstet..."

"...und wird dies alles überstehen... sozusagen, als sei überhaupt nichts geschehen. Ich muß sagen, Ihr Sohn hat eine Konstitution, um die man ihn nur beneiden kann."

Jan verlor wieder das Bewußtsein.

*
Als er zum dritten Mal erwachte, war die Binde vor seinen Augen weg. Er schaute in blendendes Licht. - Er hatte doch wieder seine Mutter gehört, nicht wahr?

Mutter? Seit wann haben Roboter... Mütter?

Er blinzelte geblendet und wagte es erst wieder nach einer ganzen Weile, die Augen zu öffnen.

Allmählich gewöhnten sie sich an die Helligkeit, und Jan merkte, dass es eigentlich überhaupt nicht so strahlend hell war - an dem Ort, an dem er sich befand. Seine Augen waren offenbar nur zu lange verbunden gewesen und waren deshalb entsprechend empfindlich geworden.

Und er war nicht allein. Er sah die schweigenden Männer und Frauen im weißen Kittel, und dazwischen sah er seine Mutter und seinen Vater. Mutter weinte gerührt. Vater hatte den Mund geöffnet, als wollte er nach Luft schnappen. Auch sie hatten weiße Kittel an.

"Gott, Junge, wie fühlst du dich denn?" fragte Mutter tränenerstickt. Sie wollte vortreten, aber die anderen hielten sie auf.

"Nein, nicht berühren. Denken Sie an die Verbrennungen!"

Quatsch, Verbrennungen! Ich bin gegen den Felsen gerast. Ich war einfach noch zu schnell gewesen, als mich der Lähmstrahl getroffen hatte. Deshalb bin ich beschädigt. Aber die haben mich nicht nur einfach eingefangen und repariert, sondern sogar in die Versuchsanordnung zurückgeführt - damit ich wieder Jan, der Dreizehnjährige bin?

"Nein, ich bin kein Mensch!" hörte er seine Stimme. Sie klang irgendwie mehr nach einem Quaken. Das Sprechen fiel ihm auch noch ungeheuer schwer. "Versteht ihr denn nicht? Die haben - mich – wieder eingefangen. Wir - wir alle - sind Roboter! Ich - ich war draußen. Sie haben - mich nur wieder - eingefangen!"

"Mutter" und "Vater" sahen sich erschüttert an.

"Er fantasiert noch!" sagte der eine Weißkittel zuversichtlich. Offenbar der leitende Arzt? Oder war er mehr ein - Reparateur?

"Vater" indessen sagte zu "Mutter": "Ich habe schon immer gewußt, daß es in diesem Alter zu früh zur Science Fiction ist. Der darf so ein Zeug nie mehr lesen - geschweige denn entsprechende Filme sehen. In seinen Fieberträumen hat er sich Dinge eingebildet..." Kopfschüttelnd sah er wieder nach seinem "Sohn".

Jan wollte lauthals protestieren, aber es fehlte ihm einfach die Kraft dazu. Er fühlte sich so unendlich erschöpft und schloß wieder die Augen.

Ihm dämmerte, bevor er einschlief, daß ihm niemals jemand glauben würde. Kein Wort. Und er würde sicherlich keinerlei Beweise dafür erbringen können, daß er die Wahrheit sprach. Dafür würden "die" stets sorgen: Diejenigen eben, die hinter alledem steckten. Sonst hätten sie es niemals wagen können, ihn nach dem Einfangen einfach wieder in die
Versuchsanordnung zurückzustecken.

Er hörte noch die Stimme seiner angeblichen Mutter, wie aus weiter Ferne: "Ja, Liebling, wir haben sofort Alarm geschlagen, als du weg warst, und trotzdem hat es so lange gedauert, bis die Hubschrauber dich auf deinem Floß fanden. Es tut mir so leid!"

Nein, es war besser, wenn er es niemals mehr erwähnte, was er wirklich erlebt hatte.

Aber war es denn tatsächlich - die Wirklichkeit gewesen und... nicht doch nur ein Fiebertraum?

Gott im Himmel, wie soll ich darin jemals selber sicher sein? schrieen seine Gedanken: Ein letztes Aufbäumen vor dem nächsten Schlaf, der ihn noch näher an seine Genesung bringen sollte...
 
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