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10 Seiten

Der silberne Löwe

Fantastisches · Kurzgeschichten
Der prasselnde Regen übertönte Noahs Schluchzen. Der Junge lehnte mit dem Rücken gegen eine uralte Douglastanne, die zu einem verwilderten Waldstück irgendwo in den Rocky Mountains gehörte. Seine langen blonden Haare hingen ihm zottig ins Gesicht. Die Wassertropfen perlten an ihnen herab und sogen sich in seine ohnehin schon durchtränkte Kleidung.
Als ein weiterer heftiger Schluchzer seinen Körper durchschüttelte, sank er in die Knie und vergrub seinen Kopf zwischen den Beinen.
Alles was im Leben eines 16-jährigen schief gehen konnte, war schief gegangen.
Seine Eltern hatten ihn beim Marihuanarauchen erwischt und ihm schließlich verboten weiterhin in der Band mitzuspielen. Dabei war Musik sein Leben. Er würde lieber dafür sterben ein Musiker zu werden, als irgendeinen langweiligen Bürojob auszuüben.
Das hatte er seinem Vater auch ins Gesicht gebrüllt, in einer dieser Situationen, wo der Streit zwischen Kindern und Eltern schnell aus dem Ruder geriet.
„Du bist ein sturer Bock – ein Nichtsnutz", hatte sein Vater zurückgeschrien. „Ich schäme mich dafür, dass du mein Sohn bist." Diese Worte halten durch Noahs Kopf immer und immer wieder. Er konnte sie nicht vergessen, denn es war der Moment, in dem er seinen Vater abgrundtief zu hassen lernte.
Und dann hatte er sich heimlich zu den Jamsessions davongeschlichen, bis sein Vater davon Wind bekommen hatte und ihn in seinem Zimmer einschloss. Im Gegenzug dafür hörte Noah den ganzen Tag lang Sepultura auf voller Lautstärke.
„Waaaaaaaaar for territoooooory" ließ fast fünf Stunden ununterbrochen die Wände beben. Doch dann entschied sich Noah aus dem Fenster zu klettern und eine Tat zu begehen, die sein ganzes Leben verändern sollte. Er ließ sich auf einen Deal ein - einen Deal mit weißem Gold. Dafür waren seine gesamten Ersparnisse draufgegangen, aber wen interessierte das noch? Denn gerade an diesem blöden Tag musste die Polizei eine Razzia in dieser gottverdammten Hütte durchführen.
„So eine verfickte Scheiße", hatte Gregory geschrien, als die Tür aufgetreten wurde. Bobby hatte noch versucht einen Teil im Klo herunterzuspülen. Es war zu Handgreiflichkeiten gekommen. Greg war sozusagen das Messer ausgerutscht, und zwar direkt in den Oberschenkel des Polizisten. Im Gegenzug dafür ging Greg erstmal die Luft aus, als sich die Faust in seinen Bauch bohrte. Noah hatte das alles ungläubig mit angesehen. Und dann hatte Tobey ihm eine Pistole zugeworfen. Noah hatte sie auf den Polizisten gerichtet, bis dieser sie ihm aus der Hand geschlagen hatte. Er landete vorläufig in einer Zelle des lokalen Polizeireviers; und an die Dinge, die seine Eltern ihm an diesem Tag vorgeworfen hatten, erinnerte er sich schon gar nicht mehr.
Weiß Gott, wie sein Vater ihn da überhaupt heraus bekommen hatte. Er musste tatsächlich ein einflussreicher Bürgermeister sein. Noah hatte auf der Heimfahrt auf Durchzug geschaltet, war freiwillig auf sein Zimmer gegangen und hatte dem Gespräch seiner Eltern gelauscht. Irgendwann hatten sie von einem Gerichtsverfahren und mindestens zwei Jahren Jugendstrafanstalt in Trenton gesprochen. Noahs Gedärme verknoteten sich bei dem Gedanken an die Jugendstrafanstalt. Das Wort hallte wie ein Echo in seinem Kopf.
„Das ist, wo sie dir in den Arsch ...“, er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Stattdessen erinnerte er sich an einem Film, den er vor langer Zeit gesehen hatte, in dem ein Schwarzer für sechs Jahre in den Bau gewandert war, nur weil er aus versehen den Fernseher auf den Fuß eines Polizisten hatte fallen lassen. Was wenn er mehr als nur zwei Jahre bekam?
Letztendlich hatte er den Rucksack gepackt, und einige kleine Utensilien, die er für ein Überleben in den Rockies für nützlich hielt.
Schließlich war er der Enkel eines waschechten Navajo. Er stellte fest, wie sehr er seinen Großvater vermisste seitdem er gestorben war - den Mann, der ihm so viel über die Kultur seines Stammes beigebracht hatte und der weit gereist, viel über die Sitten anderer Länder zu berichten hatte. Vor allem die afrikanische Mythologie hatte der alte Indianer geliebt und seinem Enkel viel von dieser für die Indianer wundersamen Welt berichtet. Noah seufzte bei dieser Erinnerung. Damals war alles besser und einfacher gewesen. Und schon damals hatte sein Großvater seine Mutter davor gewarnt einen Mann zu heiraten, der ihre Kultur nicht verstand.
Noah hatte noch lange in seinem Zimmer gestanden, bevor er ein letztes Mal aus seinem Fenster kletterte. Sein Blick war über seine Sachen gewandert, die ganzen Heavy Metal Poster. Sein Zimmer war düster eingerichtet, sogar die Gardinen waren schwarz und mit einer dicken Staubschicht überzogen. Nur ein kleiner weißer Löwe in seinem Bücherregal ließ erahnen, was für ein Junge früher in diesem Zimmer gelebt hatte.
Er nahm den Stofflöwen aus dem Regal und setzte ihn auf den Schreibtisch. Dann lehnte er seinen Abschiedsbrief gegen das zottelige, vergilbte Fell und ging.
Er hatte die Stadt per Anhalter verlassen, und war dann auf irgendeinem Rasthof zurückgeblieben, von dem aus er hinaus in die Wälder wanderte, wo ihn der Regen überraschte und seine Kleidung durchnässte.
Da merkte er, dass auch indianisches Blut ihn vor nichts schützte, dass er nicht unsterblich war und sein Leben eine einzige Katastrophe. Er war eine Stunde weinend durch den Wald gelaufen und jetzt lehnte er erschöpft an dem alten Baum. Er wartete darauf, dass der unbarmherzige Regen endlich nachließ und den Vollmond durch die Wolkendecke brechen ließ.
Nur für einen kurzen Augenblick herrschte Stille, als der Regen abrupt stoppte, und fast genauso so plötzlich setzten die Geräusche des Waldes ein.
Noah hob den Kopf, seine Haut schimmerte dunkel im Licht des Mondes. Die dunklen Stämme der Bäume warfen lange Schatten in das Unterholz. Grillen zirpten und Käuzchen schrien. Überall schien es zu knistern und zu knacken.
Im angenehmsten Falle war es nur Wild, das durch die Wälder streifte, dachte sich Noah. Aber was, wenn dort draußen Wölfe waren oder gar Bären? Was konnte eine 16-jährige Möchtegernrothaut schon gegen einen ausgewachsenen Grizzly ausrichten?
Er wünschte sich in die Blockhütte seines Großvaters zurück, in der sie an Winterabenden oft zahlreiche Stunden vor dem prasselnden Kaminfeuer verbracht hatten.
Noah hatte auf dem Boden gesessen und seinen Großvater mit den grünen unschuldigen Augen eines 8-jährigen angesehen, die dem alten Mann geradezu jede Geschichte von den Lippen stahlen.
Im Hintergrund knackte es laut und Noah kam mit einem Ruck wieder in die Realität zurück. Angestrengt lauschte er der Dunkelheit. Ein merkwürdiges schwerfälliges Schnaufen ließ ihn erneut zusammenfahren.
Dem Jungen gefror das Blut in den Adern. Langsam richtete er sich auf und blickte an einem Baum empor. Er hatte keine Chance an die oberen Äste zu gelangen und an ihnen empor zu klettern. Was sollte er jetzt tun? Er stand mucksmäuschenstill, hielt den Atem an und lauschte. Aber er vernahm keinen Laut mehr. Nicht einmal das Zirpen der Grillen - und da wusste Noah, dass er beobachtet wurde.
Dieser Zustand hielt sehr lange an, und er fragte sich, warum der blöde Bär es nicht endlich hinter sich brachte und ihn von seinem Leid erlöste. Er war bereit zu sterben, denn was hatte er schon zu verlieren? Seine Eltern hassten ihn, und er würde in die Tuntenhölle geschickt werden. Aber nichts geschah, kein Bär tauchte auf und riss ihn in Stücke. Die Warterei kam Noah bald wie eine Ewigkeit vor. Seine nassen Klamotten ließen ihn entsetzlich frieren, und er wusste, dass wenn er noch lange stehen blieb, er qualvoll an einer Lungenentzündung sterben würde. Letztendlich marschierte er einfach in die entgegengesetzte Richtung, von der er das Geräusch gehört hatte. Er war wohl doch nicht so todesmutig, wie er es sich wünschte.
Immer wieder blickte er sich ängstlich um. Das Bild von einem brüllenden Bären, der mit aufgerissenem Maul auf ihn zu gestürmt kam, setze sich in seinem Kopf fest. Er konnte das brechende Unterholz beinahe hören, dass von seinen imaginären Pranken zerschmettert wurde, bis sie sich in seine dürren Beine fleischten. Noahs Schritte wurden eiliger. Der Wind, der ihm in das Gesicht geblasen wurde, würde dem Bären wahrscheinlich seine Panik, wie den Duft eines gebratenen Hühnchens zutragen. Er schämte sich ein Hosenscheißer zu sein.
Noah hechtete eilig einen Hügel hinauf, dabei trampelte er ungewollt laut durch die Büsche und trat letztendlich aus dem dichten Wald hinaus.
Für einen Moment stockte er, als er über die Ebene hinweg sah, deren lange Gräser im Wind spielten, und vom Licht des Mondes erhellt, glitzerten die Tropfen des Regens auf den Halmen.
Und dann hörte Noah es: das Brechen von Ästen, über die etwas Großes - etwas Gewaltiges hinwegdonnerte. Er schrie auf und rannte auf die Wiese hinaus. Seine Turnschuhe verfingen sich immer wieder in irgendwelchen Erdlöchern. Sie gaben seinen Knöcheln auf dem unwegsamen Boden keinen Halt. Sein Atem ging stoßweise, als er das mächtige Schnaufen hinter sich hörte. Dann knickte Noah zur Seite weg. Er streifte sich seinen Rucksack vom Rücken und rannte weiter. Er wusste, dass seine Kräfte schwanden. Und dann drehte er sich aus reinem Instinkt heraus um.
Und Noah blieb mit offenem Mund stehen, als er den Löwen sah. Er hatte noch nie einen echten afrikanischen Löwen gesehen und in der amerikanischen Wildnis schon gar nicht. Sein Fell schimmerte silbern im Licht des Vollmondes, und er kam mit majestätischen Bewegungen auf ihn zu. Noah hatte sogar den Eindruck, als könnte er sehen, wie die kräftigen Muskeln sich unter dem silbernen Fell bewegten.
Das Tier hielt allerdings nicht direkt auf ihn zu. Es kam einige Meter von ihm entfernt zum Stehen und blickte ihn lange an. Noah konnte seinem Blick nicht ausweichen. Es schien so viel Weisheit darin zu liegen, dass es den Jungen fast erschlug vor Demut. Er ging andächtig vor dem König der Tiere in die Knie. Der Löwe erkannte diese Geste an, in dem er den Kopf kurz senkte, dann galoppierte er davon und verschwand auf der entgegengesetzten Seite im Wald.
Noah sah ihm eine Weile lang nach, bevor er sich auf die Suche nach seinem Rucksack machte. Er hatte noch nie so etwas Wunderschönes gesehen. Er war so bewegt, dass er all seine Probleme mit einem Schlag vergessen hatte. Er fragte sich, wo der Löwe hergekommen war, und wie er es meisterte unentdeckt durch die Wälder zu streifen? Verträumt schaute er in die Richtung, in der er verschwunden war. Dann folgte Noah ihm.

Es war sehr still in dem Wald, in dem der Löwe verschwunden war. Noah schlich so leise wie möglich durch das Unterholz, um nicht auf sich aufmerksam zu machen.
Es knisterte leise im Dickicht und veranlasste den Jungen für einen Augenblick in völliger Ruhe zu verharren.
Vor ihm zog eine Füchsin mit ihren Jungen vorüber, so seltsam anmutig, dass ihm ihre Bewegungen wie eine Zeitlupe erschienen. Er massierte sich die Augen, aber als er sie wieder öffnete, waren sie verschwunden.
Noch immer herrschte diese wundersame Stille. Er marschierte langsam weiter und sah sich dabei aufmerksam um. Es war ein wahrlich seltsamer Wald. Moose bedeckten die Stämme der Bäume und zahlreiche Flechten überzogen den Boden. Er musste sehr alt sein, sagte sich Noah.

Ein warmer Windhauch streifte sanft über die Zweige der Bäume hinweg und trocknete Noahs nasse Haare.
„Weeer bist duuuuuuuuu?“, hauchte eine tiefe, urige Stimme.
Noah erschrak und drehte sich nach allen Seiten um, konnte allerdings niemanden entdecken.
„Bist du stumm, Junge?“
„Ich ..., ich bin Noah, und wer bist du?"
„Ich bin der Allgegenwärtige, derjenige, der das Wasser vorantreibt und in dessen Schwingen die Vögel segeln. Man nennt mich auch den Geist des Windes.“
Ein eisiges Frösteln lief über Noahs Rücken.
„Ich kann dich aber gar nicht sehen.“
Ein schallendes Lachen erklang.
„Was ist daran so komisch?“
„Ich habe keine Form, Noah. Mein Geist ist frei von allen körperlichen Zwängen. Frei - verstehst du Noah?"
„Frei?“ Er dachte über den wunderbaren Klang dieser Worte nach.
„Warum bist du hier Menschenjunge?“
„Ich will frei sein – so wie du!“
„Willst du das wirklich?“ Der Wind lachte erneut, diesmal aber nicht so überrascht.
„Nichts hält mich mehr in meiner Welt.“ Noah senkte den Kopf.
„Deine Welt? Sie ist so fern und doch so nah. Sag Menschenjunge, wie hast du den Weg zu uns gefunden?“
„Zu Euch? Ich bin nur dem silbernen Löwen gefolgt.“
„Der Spirit Guide“, hauchte der Wind ganz leise.
„Ein Spirit Guide?“ Noahs Augen leuchteten kurz auf. „Mein Großvater hat mir von ihnen erzählt.“
„Dein Großvater war ein sehr weiser Mann.“
„Er ist schon lange tot.“
„Sei nicht traurig Menschenjunge. Ich werde dir etwas verraten.“
Noah sah auf.
„Was denn?“
„Nicht weit von hier ist der verschleierte Fluss. In der Stunde vor dem Morgengrauen nimmt der Geist des Waldes dort sein Bad. Wenn du dem Licht des Mondes folgst, bis zu diesem Fluss und geduldig wartest, bis der Geist aus dem Wasser aufsteigt und zu dir spricht, dann wirst du finden, wonach du suchst.“
„Suchen? Aber ich suche niemanden.“
Er hörte den Wind erneut lachen; erst sehr nahe, als würde er direkt neben ihm stehen und dann verschwand er irgendwo zwischen den Bäumen, und es war still.
„Hallo? ... hallo?“ Noah bekam keine Antwort.
Er sah nach oben, um festzustellen, aus welcher Richtung das Mondlicht einfiel und marschierte los.
„Der verschleierte Fluss ..., was soll das denn sein?", brummelte er vor sich hin, aber innerlich war er voller Aufregung. Aufregung, die bald verschwinden sollte. Denn mit jedem Schritt wurde das Unterholz dichter, und dann kam er an den Punkt, wo sich die Kletten in seiner Kleidung verfingen und ihn zurück hielten. Noah kämpfte eine halbe Stunde lang, bis ihn seine ohnehin schon kaum vorhandenen Kräfte verließen. Jener noch zuvor verspürte Optimismus war verfolgen. Der Junge wurde erneut von Weinkrämpfen geschüttelt und fühlte sich wie ein Nichtsnutz - ein Versager. Zum ersten Mal beschlich ihn das Gefühl, dass sein Vater Recht gehabt hatte.
„Warum hilft mir den keiner?“, weinte er und wischte sich mit dem Handrücken schniefend die Nase.
„Bitte!“ Sein Flehen verhallte im Wald. Und dann geschah es erneut. Das Bersten von Unterholz. Etwas bahnte sich kraftvoll seinen Weg durch das Gestrüpp und näherte sich Noah.
Dann stand er vor ihm. Der Junge blickte auf und griff mit beiden Händen nach dem Kopf des Löwen und drückte ihn gegen seine Stirn. Er schluchzte bitterlich und der silberne Löwe hielt still, spendete dem Jungen Trost und wartete geduldig, bis er zur Ruhe kam.
Noah blickte ein wenig beschämt auf. Aber als er dem Löwen in die Augen sah, verschwand das Gefühl so schnell, wie es gekommen war.
„Kannst du mir helfen?“
Wie auf Kommando drückte sich der Löwe an ihm vorbei, sodass die Kletten von seiner Kleidung gerissen wurden. Noah hielt sich an der Mähne des Tieres fest und wurde durch dessen kräftige Bewegungen aus seinem Gefängnis befreit. Eine Weile folgte er dem Löwen, der ihn sicher führte, bis sich das Unterholz lichtete und sie durch einen helleren Teil des Waldes wanderten. Noah ging gleich auf mit dem Löwen und hatte seine Hand sanft auf dessen Rücken gelegt, sodass er sein weiches, seidiges Fell spüren konnte.
So gingen sie gemeinsam dahin. Und Noah erkannte bald, warum der verschleierte Fluss seinen Namen trug. Dicke Nebelschwaden zogen über ihn hinweg und nur das Rauschen des Wassers ließ erahnen, was sich unter seiner Oberfläche verbarg.
Der silberne Löwe trat hinaus in das feuchte Gras und legte sich neben dem Fluss nieder. Dabei blickte er Noah einladen an, es ihm gleich zu tun. Der Junge setzte sich neben das Tier und bewunderte seinen majestätischen Anblick. Der Löwe hatte große wunderschöne Pranken. Und Noah verspürte das Verlangen sie zu streicheln.
Doch ein seltsam säuselnder Klang hielt ihn davon ab und ließ ihn aufschauen.
Eine Frau trat aus dem Wald heraus, kaum 20 Meter von ihnen entfernt. Sie hatte langes schneeweißes Haar, das ihren Körper bedeckte und bis zu ihren Knöcheln reichte. Ein heller diffuser Schimmer umgab sie, als sie andächtig über die Wiese Schritt und im Nebel des Flusses verschwand. Dann erfüllte eine süße Stimme die Luft und sang ein zauberhaftes Lied in einer Sprache, die Noah noch nie zuvor gehört hatte.
Der silberne Löwe legte seinen Kopf auf seine Tatzen und gab einen leisen Seufzer von sich.
Noah hatte den Eindruck, als würde der Gesang bis in alle Ewigkeit anhalten. Er verfiel in eine seltsame Trance und hätte den Moment fast verpasst, als der Geist des Waldes den Fluss verließ und zurück in den Wald ging. Der Löwe verpasste Noah einen harten Stoß mit dem Kopf, sodass er nach vorne kippte und benommen auf die Füße sprang.
„Warte“, rief er.
Die Frau hielt inne und drehte sich zu ihm um.
„Bitte - geh nicht!" Noah traute sich nicht auf sie zuzugehen, aber das musste er auch nicht, den sie kam, ohne weiter zu zögern zu ihm.
„Noah?“ Er hörte die Stimme nur in seinem Kopf. Sie selbst sah ihn mit leicht geneigter Körperhaltung an. Ihre Augen waren schneeweiß und gaben ihr beinahe ein abstoßendes Äußeres.
„Hilf mir“, flehte er. „Ich will so frei sein, wie der Wind - wie ein Spirit Guide.“

„Was ist ein Spirit Guide, Großvater?“, hörte er jetzt seine eigene Stimme sagen und sah sich selbst, wie er vor seinem Großvater auf dem Boden saß.
„Die Spirit Guides sind Schutzgeister, Noah. Jede menschliche Seele wird von einem solchen Schutzgeist auf ihrem Weg durch das Leben begleitet. Sie bewahren ihre Schützlinge vor Gefahren oder stehen ihnen manchmal bei sehr schwierigen Entscheidungen zur Seite.
Manche Seelen sind schon so lange unterwegs, dass sie so viel an Weisheit gewonnen haben, dass sie keinen Spirit Guide mehr benötigen und am Tage ihres Ablebens selbst zu einem solchen werden. Junge Seelen hingegen haben mächtige Spirit Guides an ihrer Seite, denn sie sind noch unerfahren und werden noch sehr oft wiedergeboren, bevor sie eines Tages die Weisheit erlangen und selbst zu einen Spirit Guide werden.“
„Was ist dein Spirit Guide, Großvater?“
„Ein prächtiger Hirsch, mein Junge. Aber er hat mich schon lange nicht mehr besucht. Bald wird er wiederkehren, um mich auf meinem letzten großen Weg zu begleiten."
„Und meiner?“
Der Großvater legte seinem Enkel die Hand auf die Schulter.
„Deine Seele ist so neu wie der Schnee, der am ersten Tag des Winters fällt, Noah. Das ist sehr selten. Aber deine Frage kannst nur du dir beantworten. Wenn du deinen Spirit Guide am meisten brauchst, dann wird er kommen und dir sein Antlitz zeigen. Es wird ein mächtiges Wesen sein."

„Der Silberlöwe“, hauchte Noah, wagte es aber nicht sich umzudrehen. Er wusste, dass das Tier direkt hinter ihm stand.
„Was du von mir verlangst, ist unmöglich Noah. Dein Weg ist noch weit.“
„Aber ich will nicht zurück“, flehte er, „sie werden mich einsperren.“
„Ist das ein Problem, das du nicht zu bewältigen vermagst?“
Er nickte.
„Ich kann dich auf einen neuen Weg schicken, wenn du das möchtest, aber du wirst einem neuen Problem begegnen, das von gleichem Ausmaß sein wird, und das immer und immer wieder, bis du es gemeistert hast. Willst du das wirklich?“
„Was bedeutet das? Ein neues Problem von gleichem Ausmaß? Das verstehe ich nicht.“
„Was du von mir verlangst, Noah, ist dich von deinem alten Leben zu binden und dich auf einen neuen Lebensweg zu schicken. Aber eine Seele, so jung wie die deine, muss erst viele Dinge meistern, bevor sie bereit ist ihre Dienste als Spirit Guide aufzunehmen. Du kannst vor deinen Problemen nicht davon laufen, aber du kannst immer von neuem beginnen. Wie entscheidest du dich Noah?“ Sie schaute nach Osten, wo der erste helle Streifen des neuen Tages sich auszudehnen begann.
Noah schwieg.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit Noah, ich muss gehen. Wie entscheidest du dich?“
Der Junge dachte an sein jetziges Leben, an seine wütenden Eltern, seine falschen Freunde und seinen verstorbenen Großvater. Er war noch zu naiv, um sich ernsthaft den Problemen seines Lebens zu stellen, um abschätzen zu können, was seine Entscheidungen für ihn bedeuten würden. So blickte er auf den silbernen Löwen und sah dann den Geist des Waldes an.
„Ich will einen neuen Anfang.“
Der Geist des Waldes nickte. „So soll es sein, Enkel des silbernen Löwen." Dann hob sie ihre Hand und eine gleißende Wolke aus Licht begann Noah zu verschlingen, bevor er die Bedeutung ihrer letzten Worte überhaupt erfassen konnte. Ihm wurde schwindelig, und er griff nach Halt. Das Letzte, an das er sich erinnerte konnte, war das weiche Fell des Löwen, in das er griff, bevor er in sich zusammensank und das Bewusstsein verlor.
Andächtig legte der Löwe seinen großen Kopf auf Noahs Körper und wartete darauf, dass der letzte Herzschlag des Jungen verstummte. Mit der aufgehenden Sonne verblasste dann auch der silberne Löwe langsam und kehrte zurück in das Reich der Geister.
Die Sonnenstrahlen begannen sich in den Tautropfen der Wiese wiederzuspiegeln, in deren Mitte der leblose Körper Noahs zurückgeblieben war. Sein Gesicht wirkte friedlich, als wäre er in einen langen erholsamen Schlaf hinüber geglitten.

Aus dem Willmington Morning Herald
Von Scott Fielding
Glen Terrace District – DIE SUCHE nach dem 16-jährigem Noah Westerman fand am Morgen des 13. Augusts ein jähes Ende, als ein Ranger die Leiche des Jungen 20 Meilen von Trenton in den Wäldern fand. Der Teenager war nach einer Drogenrazzia aus dem 40 Meilen entfernten Willmington geflüchtet und in den Wäldern untergetaucht. Die Polizei vermutet, dass er Selbstmord begangen hat.
„Er wäre für mindestens vier Jahre in die Jugendstrafanstalt gekommen“, erklärte Lt. Harwood, einer der Polizeibeamten, der in dem Fall ermittelt hat.
Die Beisetzung des Jungen wird in der kommenden Woche stattfinden, unmittelbar nach den ersten Gerichtsverhandlungen der Jugendlichen, die während der Razzia verhaftet wurden.

The End


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Kommentare  

Sehr schöne Story. Habe beim Lesen eine Gänsehaut bekommen. Allerdings gefällt mir das Ende nicht. Ich finde, das endet irgendwie zu abrupt. Ich für meinen Teil hätte gerne erfahren, was mit Noah passiert.
Kann es sein, daß Noahs Großvater sein Spirit Guide ist? Die Worte: "So soll es sein, Enkel des silbernen Löwen.", haben mich stutzig gemacht.
Wie auch immer. Trotz des seltsamen Endes geb ich dir 4 Punkte.


Metevelis (30.06.2003)

Schöne Fantasy, aber mit dem Ende komm ich nicht klar. Gebe trotzdem 4 Punkte

NewWolz (24.06.2003)

Mein Kommentar hast du ja schon, deshalb hier nur die 5 verdienten Punkte ;-)

Drachenlord (22.06.2003)

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