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12 Seiten

Sternenstaub

Fantastisches · Kurzgeschichten
Mir ist etwas passiert und wie die meisten Dinge im Leben, passierte es einfach so. Man fragt sich nach dem Warum, aber instinktiv weiß man, es gibt keine Antwort darauf. Es gibt überhaupt keine Antworten auf irgendetwas.
Meine Geschichte begann einfach und sie begann zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, der gut war. Ich wusste überhaupt nicht, wer ich war. Ich war einfach. Alles war gut ... davon will natürlich keiner etwas hören. Wer will schon, dass alles gut ist. Die Wahrheit ist, dass eigentlich alle das wollen, aber keiner will es zugeben. Generell wollen eben alle erst einmal leiden. Sinn ergibt das natürlich keinen.
Ich will aber trotzdem davon erzählen, wie zu Beginn alles gut war, eben weil ich alles so schön fand, wie es war. Und es stimmt wirklich, ich hatte keinen Schimmer, wer ich eigentlich war. Seltsam, oder?
Beginnen wir also an einem Ort, wo ich des Öfteren war: einer Anhöhe. Nennen wir es einen Felsvorsprung. Hier verbrachte ich die meisten Nächte mit meinem Gefährten. Wir saßen hier am Lagerfeuer, schauten in den Sternenhimmel, wenn die Glut nur noch sachte ausglühte. Wir waren vollkommen zeitlos. Es gab nichts, was wirklich getan werden musste. Das gibt’s ja nicht, werden jetzt die meisten denken. Aber so war es und genau so soll es sein. Und es wird noch etwas Unglaublicher: Mein Gefährte, das war ein Pferd, ein schwarzes Pferd. Ja, kitschig, oder? Aber so sah er eben aus. Es ist ja auch meine Geschichte, also darf er ein schwarzes Pferd sein. Daran muss sich ja jetzt wirklich keiner stören. Eigentlich hatte er keinen Namen, ich hatte ja auch keinen. Ein Name war auch vollkommen unnötig. Manchmal rutschte mir dennoch ein Name heraus: Much. Weil er einfach „Mehr“ war. Wenn man tief in sich geht, dann weiß jeder sofort, warum ich ihn so nenne. Wenn man einfach nur zusammen ist, dann ist man eben „Mehr“. Zu zweit ist alles einfacher, es ist einfacher zu teilen. Man stelle sich mal vor, man wäre ganz allein. Wem soll man denn die verrückte Welt um einen herum sonst zeigen? Deswegen sollte man also immer einen Gefährten an seiner Seite haben. Man merke sich dies. Und was macht man mit einem Gefährten: man teilt. So einfach ist das.
Much und ich teilen uns also eine Welt. Hier können wir beide sein, vollkommen ungestört.
Jetzt schauen wir uns mal an, wie diese Welt ist bzw. wie sie war, bis sich etwas in ihr veränderte und zwar ganz erheblich veränderte. Ich erzähle jetzt also von echt vollkommen kitschigen Dingen, dem wunderschönsten Tag, den es je gab und er war immer da, immer wieder ... jeden Tag.
Morgens, kurz bevor die Sonne über dem Horizont aufging, erleuchtete der Himmel in einem Blau, so wundervoll, dass muss sich jeder einfach selbst vorstellen, dass weiß man aber, wenn man an einem frühen Morgen schon einmal auf einer Anhöhe gestanden hat und den Sonnenaufgang erwartete. Die Vögel singen alle wild durcheinander, so chaotisch und melodisch, hundert Stimmen schweben. Und wenn die ersten Sonnenstrahlen die sanften Schleierwolken über dem Horizont berühren, erhebt sich ein sanfter, warmer Wind, er ist genau richtig und lädt ein ihm zu folgen, über die Ebene.
Wenn der Wind uns ruft, schwinge ich mich auf Muchs Rücken, ich halte mich an seiner Mähne fest, während er vorsichtig ins Tal hinab steigt. Jeden Schritt setzt er ganz bedacht vor den anderen, hin und wieder kullert einen Stein klackernd zur Seite. Er schnauft ganz rhythmisch und konzentriert, seine Ohren bewegen sich spielerisch umher. Sein Fell ist weich und ich spüre seine Wärme an meinen Beinen.
Dort, wo der Fuß des Hanges in die Ebene übergeht, fällt Much in einen sanften Trab, der Wind frischt mit unserer Ankunft auf, braust rauschend über das Gras und scheint nur eins zu rufen: fliegt mit mir. Und Much galoppiert schnaubend los, wir sind alle eins mit dem Wind auf dieser Ebene. Das ist Freiheit. Die Ebene ist grenzenlos und wir sind mit dem Wind, so lange, wie wir wollen. Nur so kennen wir das, es ist unsere Welt. Wir sind der Wind auf der Ebene, so lange uns das einfach Spaß macht. Es ist wunderschön. Warum darf es also nicht wunderschön sein?
Und wir setzen noch einen drauf. Bevor sich die Dinge verändern, muss ich einfach noch mehr von den Schönheiten dieser Welt berichten.
Wenn wir nicht der Wind sind, dann sind wir manchmal mit dem Wald. Im Wald ist es angenehm kühl. Wenn man ihn betritt, fühlt es sich an, als hätte ein Gewitter diesen Wald mit einem erfrischenden Sommerregen gekühlt. Alles riecht frisch und dampft. Es riecht nach Walderde und nach Moos. Überall stehen Farne, die Blätter der Bäume säuseln leise im Wind. Der Wind ist immer da, wie eine schützende Hülle, um diesen Wald. Das Licht scheint durch die Zweige und erhellt den Waldboden in einem Wechselspiel aus Licht und Schatten. Und wenn sich die Sonne über dem fernen Horizont senkt und die Vögel langsam schlafen gehen, nur noch das ein oder andere Käuzchen ruft, dann erheben sich die Glühwürmchen und tanzen durch den Wald. Man kann sie berühren, während Much gemächlich den Weg entlang schreitet. Es fühlt sich großartig an. Und ich setze noch einen drauf, einfach weil Much und ich so drauf stehen. Much und ich sind Träumer und wir träumen für unser Leben gerne. Deswegen trage ich einen kleinen Lederbeutel bei mir, den ich an meinem Gürtel befestigt habe. In diesem Gürtel habe ich ein Pulver, es ist ein Pulver, das ich aus Steinen anfertige, die Nachts vom Himmel fallen. Ihr wisst schon, nicht alle Sternschnuppen vergehen am Himmel. Ich nenne, das Pulver liebevoll Sternenstaub. An sich ist es ja tatsächlich nichts anderes, wir sind alle aus Sternenstaub gemacht, aber das weiß ja jeder. Und mit diesem Wissen, nimmt man Ängste. Dafür ist Sternenstaub da. Dafür muss man wirklich keine Angst haben. Im Sternenstaub liegen viel mehr Geheimnisse, als wir bisher verstehen. Uns reicht also nur zu wissen, dass wir sind. Der Rest kommt von selbst.
Wenn Much und ich also vollkommen herumspinnen wollen, dann nehme ich den Sternenstaub in meine Hand und blase ihn sanft davon. Er glitzert dann im Wald, wie die Glühwürmchen und Much schnaubt, so dass der Staub durch die Luft wirbelt, er verwandelt sich dann in kleine, leuchtende Insekten, meistens sind es Schmetterlinge. Wir stehen voll auf Schmetterlinge, weiß der Kuckuck warum. Sie schillern in allen Farben. Da habt ihr es, Much und ich stehen auf leuchtende Schmetterlinge nachts im Wald. Und wir sind dort so lange, wie wir wollen. Wir erinnern daran, dass wir zeitlos sind. Es gibt keinen Grund für irgendwas, wir wollen einfach nur, dass es schön ist und kitschig darf es sein.
Was natürlich in unserer Welt nicht fehlen darf, ist ein Strand. Jeder liebt den Sand und das Meer. Ein Strand, auf dem man im gestreckten Jagdflug dahin rast. Den Wind im Gesicht, das Wasser spritzt zu allen Seiten nach oben. Es riecht nach Salz, die Möwen rufen. Und des Nachts, da explodiert über einem der Sternenhimmel, wenn die Sternschnuppen fallen. Das Meer leuchtet in fluoreszierendem Grün. Ja, so was gibt’s doch tatsächlich.
Und wenn man mal eine Pause braucht, dann gibt es immer ein Plätzchen mit einer erfrischenden Quelle, einen Baum mit Früchten und es geht nichts über Kokosnüsse. Das ist ein Traum.

Und immer wieder kehren wir zu unserer Anhöhe zurück, der Anhöhe, wo wir über die Ebene schauen können, in der Ebene, auf der wir eins mit dem Wind sind, bevor wir kitschige Momente im Wald erleben oder Sternschnuppen am Strand jagen. Alles ist gut, so wie es ist und so wie wir es haben wollen. Es geht uns gut und es darf uns gut gehen.
So kann eine Welt sein, jeder hat seine eigene. Nicht jeder muss unsere Welt so schön finden, wie Much und ich das tun. Aber jeder darf sie teilen, wir teilen gerne. Und es darf auch immer „Mehr“ geben. Das ist vollkommen in Ordnung.

An sich war es immer so. Manchmal haben Much und ich uns andere Späße ausgedacht, einfach weil wir es so wollten. Und eines Tages, da geschah etwas, was keiner von uns, sich vorgenommen hat. Es war neu und irgendwie interessant, ein bisschen seltsam. Aber seltsam ist unsere Welt ja auch. Es war genauer gesagt, genau richtig.
Much und ich jagen also über die Ebene hinweg, eins mit dem Wind.
Ich lache erst laut und Much schlägt mit dem Kopf und dann spannt sich sein Körper an, er stemmt die Hufe in den Boden, Grasbüschel fliegen in Fetzen zu den Seiten weg. Ich klatsche gegen Muchs Hals, klammer mich noch in die Mähne und falle zur Seite vorneweg ins Gras, wo ich dumpf aufschlage und das spüre, was allgemein zu einigen saftigen, blauen Flecken führen würde.
„Fuck the what?“, entfährt es mir. Ich rede eigentlich nie laut, aber das kam eben so noch nie vor. Ich richte mich auf den Knien auf und stütze mich an Muchs rechtem Bein ab ... und traue meinen Augen nicht so recht. Much auch nicht, er schnaubt irritiert und dreht mir seinen Kopf zu. Seine Ohren zucken fragend immer wieder in Richtung Tür und dann zu mir. Er denkt wohl dasselbe, was ich gerade ausgesprochen habe. Eine Tür?
Ich stehe auf und zucke mit den Schultern.
„Meine Idee war das nicht. Deine auch nicht, nehme ich an?“ Ich reibe mir den Hintern. Schmerzen gehörten nicht zum Deal. Aber es tat eindeutig weh.
Much machte einen Schritt auf die Tür zu. Sie stand tatsächlich einfach vor uns mitten auf der Wiese. Hatte sogar einen Rahmen. Er berührte die Tür mit seinen Nüstern, nibbelte am Holz herum und bewegte sich dann im Schritt einmal um die Tür. Ich ging jetzt ebenfalls auf die Tür zu und legte meine Hand auf das Holz - es war etwas spröde, ich klopfte und drückte meinen Wange dagegen, spürte die raue Oberfläche. Ich tat so, als lauschte ich, wusste aber nicht so genau, wieso eigentlich. Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete die alte Metallklinke. Und klar, tat ich dann das, was man mit einer Türklinke so macht, ich drückte sie herunter.
Die Tür öffnete sich und ich trat durch sie hindurch, auf die andere Seite ... wo nichts Unerwartetes zum Vorschein kam, außer dem Rest der Ebene. Ich schloss die Tür und wandte mich an Much.
„So, was denkst du also? Meinst du, jemand wird kommen? Es wollte noch nie jemand hierher kommen.“
Much schaute mich fragend an, so gut ein Pferd das eben konnte.
„Manchmal könntest du etwas gesprächiger sein. Aber ich weiß ja, du hast dir das so ausgesucht. Du weißt schon, was das bedeutet.“
Much nickte. Wir wussten es beide in unserem Inneren, es nannte sich Veränderung. Wir gönnten uns das auch immer wieder.
So, jetzt hatte sich in unserer Welt etwas verändert, eine Tür war erschienen. Irgendwie seltsam, aber auch spannend. Veränderungen sollen immer spannend sein, dass sollte sich jeder merken.
„Sollen wir die Tür auf oder zulassen, was denkst du?“
Ich sah Much an, aber na ja gut, ihr wisst schon, er hat es nicht so mit den Antworten.
„Ich sag dir was, wir machen sie mal auf und schauen, was rein kommt. Schließen kann man sie immer noch. Ich bin neugierig, was das soll.“
Also ging ich auf die Tür zu, öffnete sie und schaute durch den Rahmen hindurch über die Ebene.
„Wir behalten das mal im Auge, mein Freund.“
Und dann zogen wir wieder unserer Wege und taten weiter die Dinge, die wir immer tun. Wir waren frei.

Und als wir einige Tage später wieder über die Ebene galoppierten, hielt Much direkt auf die Tür zu und wir sahen beide schon von Weitem, dass sich da etwas getan hatte. Diesmal drosselte Much seine Geschwindigkeit etwas eleganter und ersparte mir eine harte Bruchlandung.
Wir kamen einige Meter vor der Tür zum stehen und schauten etwas verdutzt auf das, was vor der Tür stand. Wir wussten instinktiv, was das war: ein Klavier. Naja, genauer gesagt, ein Flügel. Die Tür dahinter war geschlossen.
Ich runzelte die Stirn und Much drehte mir den Kopf zu und rollte mit den Augen, als wollte er sagen, irgendwer von uns beiden spinnt doch hier.
„Meine Idee war’s wirklich nicht.“ Ich hob mit erhobenen Schultern die Hände in die Luft. Beim Anblick des Flügels erfüllte mich aber ein warmes Gefühl. Ich war das nicht, aber ich fühlte, es soll alles so sein. Es war irgendwie aufregend. Eine Tür und ein Flügel auf unserer Ebene. Die Idee war nicht von uns, aber sie war auf ihre Art kreativ, als wolle jemand sagen, hey hier bin ich, seht mich. Und wir sahen beide tatsächlich hin: da waren eine Tür und ein Flügel. Ich stieg ab und ging auf den Flügel zu. Vor dem Flügel stand ein Holzstuhl. Ich setzte mich darauf, klappte die Abdeckung hoch und tippte andächtig auf eine der Tasten, legte meine Finger darauf und ließ sie über die Tastatur gleiten, die Klänge erhoben sich in die Ebene. Much hörte zu.
„Schön, nicht wahr?“, sagte ich und drehte mich zur Tür um.
„Wollen wir sie wieder öffnen und hereinlassen, was immer in unsere Welt kommen möchte? Ich denke, es ist einen Versuch wehrt. Mir gefällt, was ich sehe und was ich höre.“
Much schnaubte und nickte zustimmend. Ich stand auf und öffnete die Tür, um hereinzulassen, was auch immer, in diese Welt kommen wollte. Hinter der offenen Tür lag wieder die Ebene, sie erschien so endlos weit und voller Möglichkeiten. Much und ich sausten wieder davon.

Das Lagerfeuer war schon lange erloschen und wir waren eingedöst, als sich die ersten Vogelstimmen des Morgens erhoben. Und zwischen den Vogelstimmen erklag eine leise Melodie, ganz sanft, als wolle sie die Vögel begleiten. Much zuckte hoch, schnaubte und stand auf, als wolle er besser sehen.
„Hey, pass doch auf.“ Ich war es nicht gewohnt so wachgerüttelt zu werden. Doch auch mich hatte die Melodie schon längst berührt und ich stand auf und blickte neben Much über die Ebene.
„Was denkst du?“, fragte ich ihn. „Schauen wir nach?“
Much wieherte leise zur Bestätigung und ich kletterte auf seinen Rücken und schon eilte er den Pfad in die Ebene hinab. Diesmal schleuderte es die Steinchen regelrecht zur Seite weg und wir waren viel schneller unterwegs als der Wind, der uns nicht einzuholen vermochte, so neugierig waren wir. Die Melodie leitete uns zu der Stelle, wo die Tür stand und vor der Tür der Flügel. Und schon von der Ferne sahen wir, dass jemand an diesem Flügel saß und diese Melodie spielte. Spannung lag in der Luft, breitet sich in uns aus. Wir waren nicht allein, jemand war hierher gekommen. Ich zersprang fast vor Aufregung, fast wollte ich vor diesem Gefühl flüchten, weil ich es nicht aushielt.
Doch Much trabte an den Flügel heran, nah genug, dass wir beide sehen konnten, wer uns hier besuchte und uns den Tag mit dieser Melodie bereicherte.
Am Flügel saß ein Mann und als wir vor ihm stehen blieben und ihm zuhörten, da hob er seinen Kopf und lächelte.
Much blieb ganz still. Er lauschte andächtig. Und ich, ich lächelte zurück. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Ebene. Die Melodie begleitete den Beginn des Tages auf sanfte, fröhliche Weise. Alles blieb im Fluss mit dieser Welt. Ein Mann spielte den Flügel. Insgeheim haben wir das natürlich längst gewusst.

Much und ich standen also da und hörten der Melodie zu. Wir waren beide wie gebannt, als gäbe es in diesem Moment nichts anderes. Und der Mann spielte aus tiefstem Herzen. Es war so einfach ihn zu hören. Die Sonne kletterte hoch in den Himmel und wir hatten alles um uns herum vergessen, als der Mann wieder aufsah. Die Melodie verstummte und er sah nur kurz zu uns hinüber. Er wirkte fröhlich und auch ein wenig erleichtert, als hätte jemand eine Last von ihm genommen und dann stand er einfach auf, ging zu der Tür, öffnete diese und ging hindurch. Die Tür fiel hinter ihm zu und Much und ich waren für einen Moment wie versteinert.
„Wo ist er denn jetzt hingegangen?“
Much setzte sich in Bewegung und trabte um die Tür herum, aber von dem Mann fehlte jeder Spur. Ich sprang von Muchs Rücken und öffnete die Tür. Ich ging hindurch, aber der Mann war spurlos verschwunden.
Wir waren beide etwas ratlos, ob wir jetzt etwas tun sollten. Aber wir wussten es ja eigentlich. Es gab hier nichts zu tun. Außer einer Sache vielleicht: ich öffnete die Tür erneut. Er sollte wissen, dass er immer wieder kommen konnte. Wir würden zuhören.
Die folgende Nacht verbrachten wir am Strand unter dem Sternenhimmel. Ich lag im Sand mit dem Rücken gegen Much gelehnt und sah den Sternschnuppen zu. Noch immer hörte ich diese Melodie, bis ich langsam einschlief.

Much und ich lebten wieder in den Tag hinein, mit einer kleinen Veränderung vielleicht, wenn wir durch die Ebene jagten, machten wir immer einen Halt an der Tür, um sicher zu gehen, dass sie noch offen war. Dem Wind konnte man hier ja schließlich nie trauen.
Und wie wir dann so zeitlos im Wald verweilten, ich konnte es mal wieder nicht lassen den Sternenstaub im Wald zu verpulvern, um uns an den ganzen bunten Schmetterlingen zu erfreuen, da erklang sie wieder ... diese Melodie. Muchs Kopf ruckte nach oben und mein Herz schlug augenblicklich schneller, so schön war dieses Lied.
Ich schwang mich auf seinen Rücken und wir ließen die Schmetterlinge verwirrt davon flattern, als wir durch sie hindurch preschten. Klar, wir waren mal wieder schneller als der Wind, weil wir es vor Aufregung gar nicht anders aushalten konnten.
Da standen wir also wieder wie angewurzelt, als die Sonne langsam aufging und wir lauschten seinem Lied. Er spielte voller Hingabe, man meinte, er wäre ganz in sich versunken, aber manchmal schaute er auf und hatte dieses Blitzen in den Augen. Er wollte sicher gehen, dass wir auch zuhörten und er lächelte so ansteckend, wenn er uns staunen sah.
Aus Neugier stieg ich ab und ging auf ihn zu, ich wollte sehen, wie seine Finger sich über die Tastatur bewegten. Als er merkte, dass ich näher kam, wurde sein Spiel langsamer. Er schaute fragend auf und wirkte auch ein wenig unsicher. Er beobachtete mich, als ich an den Flügel heran trat und ich legte meine Hand auf das Holz. Much trottete hinter mir her, hielt aber einen kleinen Sicherheitsabstand, als wolle er den Moment nicht stören. Ich lächelte, während ich ihm beim Spielen zu sah und der Mann blickte auf, er erwiderte das Lächeln, seine Augen strahlten ... sie hatten die Farbe einer späten Sommerwiese mit dunklen, braunen Sprenkeln darin.
Er hörte auf zu spielen und stand auf. Ich trat einen Schritt zurück, um uns mehr Raum zu geben, doch ich prallte nur gegen Much, der immer noch hinter mit stand und sich keinen Zentimeter wegbewegte.
„Du musst keine Angst haben“, sagte der Mann mit leiser, sanfter Stimme.
Ich fühlte in mein tiefstes Inneres, da war keine Angst, nur eine angenehme Vorahnung.
„Hab ich auch nicht.“
Much stupste mir in den Rücken, sodass ich vorwärts stolperte. Der Mann lachte. So standen wir also da und sahen uns an. Der Mann hob seine rechte Hand ganz sachte, so dass ihre Handfläche zu mir zeigte. Ich wusste nicht so ganz, wie ich diese Geste erwidern sollte, also ging ich einen Schritt auf ihn zu und hob ihm meine Hand entgegen. Unsere Fingerspitzen berührten sich ganz. Es war wie Elektrizität und so sollte es auch sein. Er hob seine andere Hand und ich tat es ihm gleich. Unsere Handflächen berührten sich und wir sahen uns nur an ... ganz ohne Worte. Seine Finger glitten zwischen meine und so spürten wir uns gegenseitig.
„Ich würde dir gerne etwas zeigen ...“, sagte er. „Ich will wissen, ob es in Ordnung ist.“
„Was auch immer du willst.“
„Bist du sicher?“
Ich nickte und drehte mich kurz zu Much um, aber dieser sah uns nur an. So sollte es sein.
„Ganz sicher“, antwortet ich.
Er ließ eine Hand los und zog mich mit sich in Richtung Tür. Er öffnete sie und dahinter erschien ein Gang.
„Komm mit in meine Welt, nur für einen Moment.“
Ich nickte und wir traten durch die Tür hindurch in den Gang. Der Gang war in einem sanften gelb-orange gestrichen, die Türen hatten weiße Rahmen.
„Ich will sie für dich öffnen“, sagte er. Und er öffnete eine Tür. Dahinter erschienen ein Haus und ein Garten. Eine Frau saß an einem Tisch und las ein Buch, zwei Kinder spielten im Garten, dazwischen sprang ein Hund herum. Es war eine glückliche Familie, wenn man sie beobachtete. So wie es eigentlich auch sein sollte. Er hatte eine glückliche Familie verdient.
„Nichts ist, wie es hier scheint“, sagte er nur und drückte meine Hand etwas fester. „Ich habe sie verloren und es tat sehr weh.“
„Ich weiß, wir alle haben verloren. Wir alle fühlen den Schmerz. Es ist ok den Schmerz loszulassen. Du musst nicht leiden, lass los. Du kannst das tun, zu jedem Zeitpunkt, wann immer du willst.“
„Ich weiß, aber es war schwer. Manchmal fühle ich diese Schwere noch immer in mir.“
„Ich verstehe das.“
Er schloss die Tür und wir gingen zur nächsten. Als er sie öffnete, zog er mich hindurch auf einen Bürgersteig. Autos brausten an uns vorbei, jemand hupte genervt, als er an uns vorbei sauste. Ich zuckte und der Mann legte schützend seinen Arm um mich.
„Ich lebe in der Stadt, es ist laut und hektisch hier.“
„Das kann ich sehen.“ Ich fühlte dennoch seine innere Ruhe.
„Ich kann damit leben, ich habe damit zu leben gelernt.“
„Aber du musst hier nicht sein, du weißt das. Du kannst jederzeit gehen“, sagte ich. „Du hast immer die Wahl. Du triffst die Entscheidungen ... jeden Tag auf’s Neue.“
„Ich weiß“, antwortete er. „Aber vielleicht weiß ich es noch nicht besser. Vielleicht fehlte bisher ein Grund zu gehen?“
„Du wirst es fühlen, wenn es soweit ist. Du wirst gehen, wenn der Moment eingetroffen ist. Und du kannst jederzeit gehen, du kannst jederzeit kommen. Die Tür steht schon lange offen.“
„Danke“, sagte er und sah mich glücklich an. „Lass uns weitergehen. Noch eine Tür ... es ist eine schwere Tür. Für mich ist sie sehr schwer.“
„Ich öffne sie gerne mit dir zusammen.“
Und wir gingen zu einer weiteren Tür. Sie unterschied sich von außen nicht von den anderen, aber sie machte ihm sichtlich Mühe beim Öffnen. Ich griff mit zu, fühlte die Schwere, als wäre sie aus massivem Eichenholz. Gemeinsam zogen wir diese Tür auf. Dahinter war es ziemlich dunkel.
Er zögerte hindurch zu gehen und ich hielt ihn bei der Hand und zog ihn mit mir durch diese Tür hindurch in einen dunklen Raum.
Wir standen in völliger Finsternis und Stille und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah ich einen Grabstein.
„Ich will da nicht hinsehen“, sagte er. Der Druck seiner Hand wurde stärker. Er hatte Angst vor dem, was sich hier im Raum befand.
„Musst du auch nicht. Ich sehe für dich hin. Es gibt auch keinen Grund für dich genauer hinzuschauen. Hier ist nichts Ungewöhnliches. Nichts hier drin ist real. Es ist nur die Dunkelheit, die dir Angst macht bzw. das, was du denkst, darin zu sein.“ Ich zog den Sternenstaub aus meiner Tasche und warf ihn in die Luft. Die Schmetterlinge begannen augenblicklich ihren kitschigen Tanz zu tanzen.
„Schau hin, nur ganz kurz“, sagte ich. „Es gibt hier nichts Schlimmes. Du kannst aus allem etwas Positives machen. Wir sind, was wir sind. Verstehen müssen wir das nicht.“
Er öffnete die Augen und ich zog ihn näher an mich heran. Er berührte ungläubig einen der Schmetterlinge, die durch die Dunkelheit tanzten. Er sah für den Moment auch nichts anderes.
„Ich habe nicht gewusst, dass es auch schön sein kann.“
„Es ist, was es ist, du wirst es noch entdecken und es wird gut sein“, sagte ich und führte ihn aus diesem Raum. Ich schloss die Tür hinter ihm.
„Es gibt Türen, die musst du nicht öffnen. Nie in deinem Leben musst du durch sie hindurch gehen, auch wenn andere dir sagen, dass es so sein muss, weil es so ist, obwohl sie keinen blassen Schimmer haben, was tatsächlich ist. Diese Tür kannst du mit ruhigem Gewissen geschlossen lassen. Vertrau mir. Lass sie einfach zu. Der Raum dahinter spielt in deinem Leben keine Rolle mehr. Es gibt keine Dunkelheit, wie du sie dir vorstellst.“
Und ich zog ihn mit zurück in meine Welt, dort wo die Sonne schien, die Vögel sangen und dort wo Much war. Dort wo alles so sein durfte, wie es war.
„Du kannst hierher kommen, wenn du das möchtest“, sagte ich zu ihm.
„Ist hier Platz für mich?“
„Natürlich, du kannst hier sein, wer auch immer du magst und so lange du das sein magst. Du hast Musik hierher gebracht, bring mit, was auch immer du brauchst, um frei zu sein.“
„Aber ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Wie kann ich dann frei sein?“
„Es spielt keine Rolle, wer du bist. Du darfst einfach der sein, der du im Jetzt bist.“
Er sah mich bei diesen Worten fragend an und schaute dann zu Much.
„Was hat es mit dem Pferd auf sich?“
„Es ist mein Gefährte, mein Krafttier, ein Ausdruck meines inneren Selbst. Es steht für meine Inneren Werte. Er ist „Mehr“ und zu zweit ist es immer einfacher „Mehr“ zu sein. Er ist meine innere Freiheit.
„Was ist meine innere Freiheit?“ Er runzelte fragend die Stirn.
Ich lächelte. „Das weißt du doch schon längst und ich denke, du willst das auch sein, so lange, wie du es eben sein willst. Und du darfst es auch sein. Ich weiß, dass du davon träumst.“
„Ist das möglich?“, fragte er nur.
„Ja. Du musst nur selbst Ja sagen.

Alles ist möglich, auch für ihn und er traute sich eins zu sein mit seinem Falken. Der Flug in die Freiheit erfüllte ihn und machte ihn komplett.
Und der Falke begleitete Much und mich beim Überqueren der Ebene, wann immer er wollte und er rief dabei in den Himmel hinein. Wir waren eins mit dem Wind. Jeder war für sich frei und doch waren wir alle zusammen.
Und hier könnte diese Geschichte eigentlich zu Ende sein, denn was gab es mehr als gemeinsam frei zu sein, komplett zu sein ... es gab Träume, die immer weiter gingen und so durfte auch dieser Traum ein Stück weiter geschrieben werden. Denn wir schreiben alle die Geschichte unseres Lebens weiter. Wir dürfen sein, was wir wollen.

Much und ich hatten den Falken bereits einige Tage nicht mehr gesehen. Und ich wollte mir schon Sorgen machen, fragte mich, ob ihm etwas zugestoßen war, wohl wissend, dass dies nicht möglich sein konnte.
Much und ich kamen gerade aus dem Wald und blickten den Strand entlang, da stand doch dort tatsächlich ein weißes Pferd. Much schnaubte irritiert und wir blieben stehen. Das war mal was, dachte ich mir.
Der Mann saß neben dem Pferd im Sand und schaute auf das Meer hinaus. Er musste uns im Augenwinkel gesehen haben und winkte uns entgegen. Much trottete los und ich sprang ab, als wir die beiden erreichten.
Der Mann stand auf und umarmte mich. Ich fühlte seine Wärme und schloss meine Augen.
„Was hat sich verändert?“, flüsterte ich in sein Ohr.
„Ich weiß nun, dass ich wie ihr, einfach nur bin. Und eigentlich habe ich es die ganze Zeit lang gewusst. Danke, dass du mich hast sein lassen, wie ich sein wollte, ohne mich zu verurteilen.“
„Du kannst immer so sein, wie du sein willst, dass weißt du hoffentlich?“
„Ich weiß!“ Er lachte und löste die Umarmung.
„Warum jetzt das Pferd?“, fragte ich verwundert.
„Ich will dieser Welt etwas „Mehr“ geben“, antwortete er und lächelte. Seine Augen strahlten wieder.
Ich verstand. „Und an was hast du noch so gedacht?“
„Berge ...“
Ich runzelte die Stirn. „Berge?“
„Ja, und Jahreszeiten. Ich will einen Winter, mit ganz viel Schnee.“
„Hey, das klingt aber nach schlechtem Wetter.“ Es schüttelte mich bei dem Gedanken an die Kälte.
„Dann mache ich es uns warm. Ich baue uns ein Haus und es wird einen Kamin geben, mit einem warmen Feuer. Das Holz wird nach Harz riechen und es wird Knistern, wenn es verbrennt.“
„Du hast dir das aber schon sehr genau ausgemalt. Kann man dort auch einen Schneemann bauen?“
„Eine ganze Armee von Schneemännern, bis wir keine Lust mehr haben.“ Er ergriff meine Hand.
„Dann zeig mir doch diese Berge“, sagte ich.
„Dann gehen wir diesen Weg zusammen?“
„Ja, weil es zusammen leichter ist. Geh du voran. Du bist jetzt an der Reihe.“
 
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Hallo Mes,

Deine Geschichte hat mir sehr gefallen. Sie ist mehr als nur eine Erzählung. Getragen wird sie von Fantasie, Kunst und Weisheit.
Der Wind beim Ritt über die Ebene, der Waldboden, der nach feuchter Erde roch, die Vögel mit ihren unzähligen Gesängen, ich konnte es förmlich miterleben und war erfreut über die Achtsamkeit, mit der Du diese Situationen geschildert hast.
Dann streust Du Sternenstaub und wechselst in die Fantasie, ins Land der Träume. Bei den Schilderungen der Tür in der Ebene musste ich unweigerlich an ein Gemälde von Dalí denken. Und aus diesem Land der Fantasie dringen dann ganz klare Wahrheiten zu uns: "Du triffst die Entscheidungen, jeden Tag aufs Neue", "Wir sind, was wir sind. Verstehen müssen wir das nicht", "Jeder war für sich frei und doch waren wir alle zusammen".
Diese Aussagen haben mir sehr gefallen. Sie künden von der Harmonie aller Dinge und der wahren Freiheit.
Es war eine sehr schöne Gute-Nacht-Geschichte. Vielen Dank.

Beste Grüße
Frank-Bao


Frank Bao Carter (26.06.2015)

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