188


5 Seiten

Dummheit

Nachdenkliches · Experimentelles
Eddie Edinburgh saß auf eine sehr männliche Art in der alten Scheune und putzte ein Paar Stiefel. Sein Bruder Mate England schaute aus dem Fenster in der Küche seines Gutes und runzelte verwundert die Stirn. Die Scheunentore standen seit gestern Abend offen und seitdem saß auch sein jüngerer Bruder Eddie dort draußen und rubbelte an den alten Lederstiefeln ihres verstorbenen Vaters herum.
Mate schüttelte den Kopf und nahm seine irische Wachsjacke vom Hacken, um Eddie einen Besuch abzustatten. Wenn Eddie nicht diesen kindlichen Ausdruck von Unschuldigkeit in seinen Augen hätte, dann wäre er wohl schon vor einigen Wochen von Mate rausgeworfen worden. Mate hielt seinen Bruder für einen zurückgebliebenen Trottel.
Er spazierte über den Hof und setzte sich neben seinen Bruder, der ihn nicht zu bemerken schien.
„Ährm“, räusperte sich Mate.
Eddie blickte auf, ohne dabei die kreisenden Bewegungen seiner rechten Hand auf dem Leder zu stoppen. „Was ist los, Mate?"
„Was machst du hier eigentlich?“
Eddie blies sich sein rotes, viel zu langes Haar aus dem Gesicht und polierte weiter.
„Ich bring die alten Stiefel auf Hochglanz.“
„Ja, das sehe ich.“
„Wieso fragst du dann?“
„Du sitzt hier schon die ganze Nacht und tust nichts anderes. Ich mach mir Sorgen um dich.“
Eddie kicherte ein wenig hysterisch.
„Denkst du, ich bin nicht ganz beieinander?“
Mate zuckte mit den Schultern.
„Manchmal glaube ich schon, dass sich so einige Charakterzüge unseres alten Herrn bei dir bemerkbar machen. Also sag schon, was soll das dumme Geschrubbe?“
„Hast du dir den Titel der Geschichte noch nicht angesehen?“, fragte Eddie ihn.
„Hmm? Nein - noch nicht. Sollte ich?“
„Ja, denn es könnte noch wichtig werden.“
Mate kratzte sich am Kopf und stand auf. „Okay ...“
Noch während er um die Scheune ging, blickte er im Gehen auf Eddie zurück. Dieser zwinkerte ihm aufmunternd zu. Es war das Geheimnis aller Geheimnisse, das hinter ihrer Scheune lag, und das kein Leser je ergründen würde. (Außer dem Captain der Enterprise versteht sich.)

Nach einer Weile kam Mate zurück und setzte sich wieder neben Eddie.
„Der Name der Geschichte ist Dummheit. Du putzt also die Schuhe, weil du dumm bist?“
„Ja, so könnte man das interpretieren. Es geht hier auf jeden Fall darum, dass jemand etwas Dummes tut. Also eine Geschichte über Dummheit. Das ist wichtig - das solltest du dir merken.“
„Okay, aber wer ist dann am Ende der Dumme? Sowas muss man ja erahnen können, oder?“, wollte Mate wissen.
„Darauf kommen wir noch. Es soll ja spannend bleiben.“
Er reichte Mate den anderen Stiefel.
„Komm ... hilf mir ein bisschen.“
Mate nahm den anderen Stiefel, einen alten Putzlappen und begann vorsichtig das Wachs aufzutragen.
„Sind das amerikanische Cowboystiefel?“
„Ich denke schon“, meinte Eddie. „Sei jetzt still. Ich muss mich konzentrieren.“

Beide saßen eine Weile in der Scheune. Die Sonne stand hoch am Himmel, wanderte dann vorüber und ging am Abend hinter dem Haus unter. Einige Stunden später tat es ihr der Mond gleich, bis der neue Tag anbrach und die beiden Brüder immer noch in der Scheune saßen.
„Ich finde die Geschichte sollte Langeweile und nicht Dummheit heißen“, sagte Mate.
„Du hast Recht.“ Eddie hörte auf zu polieren und drehte sich fragend um.
„Was wir brauchen ist eine überraschende Wendung ... sowas nach James Frey - verstehst du?“
„James Frey? Nie gehört. Wer ist das?“
Eddies Stimme war jetzt tief und hastig.
„Das ist der Mann, der beobachtet hat, wie du unseren Vater im Schlaf erstickt hast!!!!!“
Mate sprang erschrocken auf.
„Woher weist du das?“ Er griff instinktiv nach einer Heugabel.
„Na, wenn das jetzt keine Überraschung ist?“ Eddie lachte vergnügt.
Mates Hände zitterten, und er versuchte die Kontrolle über sich zu behalten. „Du lügst!“
Eddie zog einige Fotos aus seiner Tasche, die ihm eine mysteriöse Gottheit zugesteckt hatte, und hielt sie wie einen auseinander gefalteten Fächer nach oben.
„So? Tu ich das?“ Er warf die Bilder vor Mate auf den Boden. „Wer ist jetzt der Dumme?“
Ungläubig kniete Mate nieder und blickte auf die Fotos, die ihn bei der Tat entlarvten.
„Aber – aber wie kann das möglich sein?“ Er spürte das Adrenalin durch seinen Körper schießen und ein eisiger Schauer jagte seinen Rücken hinunter. Er durchlebte eine wahre Flut der Empathien mit den Lesern.
Als er aufblickte, fielen ihm die Bilder aus der Hand; seine Kinnlade klappte herunter - um seinen Unglauben noch mehr zu betonen, als sein kleiner, dummer, behinderter Bruder Eddie ihn mit einer Waffe bedrohte. Er hatte sogar an den Schalldämpfer gedacht.
„Das – das wagst du nicht ...“
„Wollen wir wetten?“ Eddie zwinkerte ihm zu. „Mein ganzes Leben hast du auf mir herum getrampelt, mich „Behindi“ genannt, nur weil ich schwächer als du war und ich nicht so gut lesen konnte - immer etwas länger gebraucht habe. Und am Ende hast du alles geerbt und ich nur ein paar Stiefel. Ist das fair?“
Mate hatte es die Sprache verschlagen. Sein Mund war ganz ausgetrocknet. Er konnte nichts weiter tun, als seinem Bruder weiter zuzuhören.
„Und weißt du, was noch schlimmer ist Bruderherz? Während du deinen Namen behalten durftest, musste meiner geändert werden, damit die Leser mich nicht mit einer billigen Tunte verwechseln." Eddie schaute den Betaleser mit einem verkrampften Gesichtsausdruck an.
„Ich denke, es ist Zeit für eine bahnbrechende Charakterwendung an dieser Stelle“, setzte Eddie fort, „denkst du nicht auch - Bruder? Die Leser wollen ja wissen, wie die Geschichte ausgeht. Sie wissen ja jetzt, wer der Dumme ist.“
Eddie legte den Kopf in den Nacken und lachte wie ein wahres Monster.
„Muuuahahahahahaha.“
Mate gefror das Blut in den Adern.
Dann drückte Eddie ab. Die Kugel löste sich wie in Zeitlupe aus der Waffe. Sie kam auf Mate zu. Gaaaaaanz laaaaaangsam flog sie um eine Ecke, machte einen Looping und verharrte kurz auf der Stelle. Mate hatte den Eindruck, als hätte der Autor nicht nur Spaß an ausgefallenen Spezialeffekten, sondern auch die Idee überinterpretiert, dass das Leben am Ende immer wie ein Film an einem vorbeizog. Bevor er sich beschweren konnte, schlug die Kugel ein und bohrte sich durch seinen Kopf.
Als Mate nach hinten kippte, war sein Gesicht eine einzige Fratze des Erstaunens. Roter Staub wurde aufgewirbelt, als sein Körper aufschlug und regungslos liegen blieb.
Eddies Lachen verstummte. Er wischte die Pistole an seinem kanadischen Baumfällerhemd ab und verließ fröhlich pfeifend die Scheune.
Glücklich schaute er auf das Farmhaus, setzte die Ray Ban auf und blickte entspannt zur Sonne hinauf.
„Heute war zwar ein guter Tag zu sterben, aber kein guter Tag für ein offenes Ende, was?“
Die Sonne zwinkerte zustimmend.
Eddie machte mit seiner rechten Hand eine auf die Sonne zielende Bewegung.
„Genauso seh ich das auch, Baby – genauso.“

Eine Woche später hielt ein Streifenwagen vor dem Farmhaus von Eddie Edinburgh Goodending. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ein Polizeibeamter stieg aus und hielt einen Zettel in der Hand. Er war sich seiner minderwärtigen Existenz kaum bewusst und ging geradewegs auf das Farmhaus zu, um an die Tür zu klopfen. Als niemand öffnete und er auch keinen Laut von drinnen hörte, drehte er sich um und wäre fast gegangen, als er Eddie in der Scheune sitzen sah. Ohne zu zögern, ging er zu ihm hinüber.
„Guten Tag, Mr. Goodending. Ich bin hier wegen der Unterschrift für ihren Notar.“ Er reichte Eddie das Papier. „Tut mir übrigens sehr Leid ... das mit ihrem Bruder.“
Eddie hörte auf die Stiefel zu polieren und nahm das Papier entgegen.
„Ja, es ist schade um ihn, er war so gescheit. Aber Unfälle mit Mähdreschern passieren auf dem Land nun mal", antwortete Eddie und schaute bekümmert drein.
,Muss hässlich ausgesehen haben’, durfte der Polizist denken und blickte auf den alten Mähdrescher hinter Eddie. Ihm wurde innerlich sehr unwohl bei dem Gedanken.
„Wie geht es Dr. Idunnoseeit?“, fragte Eddie und suchte nach einem Kuli in seiner Tasche.
„Oh, er lässt sich entschuldigen, dass er nicht persönlich vorbeikommen konnte.“ Der Polizist reichte Eddie einen seiner Kugelschreiber.“
„Oh – danke.“ Eddie unterschrieb die Papiere und gab sie dem Polizisten zurück.
„Damit sind sie ja jetzt Alleinerbe. Muss traurig sein, so ohne Verwandte. Ihre Mutter ist ja auch schon früh gestorben.“
Eddie nickte und musste innerlich lächeln. „Ist mit mir immer spazieren gegangen ... und dann am Ende die Klippe herunter gestürzt."
„Sie haben echt schon viel durchgemacht. Was werden sie denn nun mit dem Anwesen machen? Bewirtschaften?“
„Nein, ich werde es wohl verkaufen. Zu viele Erinnerungen.“ Er blickte auf das Haus. „Ich wollte schon immer mal nach Neuseeland - verstehen sie?“
„Neuseeland? Soll sehr schön sein. Kann sich ja nicht jeder leisten.“ Der Polizist blickte sehr gezwungen auf die Uhr. „Ich wünsch ihnen dann noch einen schönen Tag, Mr. Goodending.“
Sie gaben sich zum Abschied die Hand.
„Ich ihnen auch, Lt. Jerkins.“
Eddie Edinburgh Goodending wartete, bis das Brummen des Polizeiwagens in der Ferne verstummte, dann zog er sich die Cowboystiefel seines Vaters an und ging mit einem Gefühl der Zufriedenheit - wie er es noch nie in seinem Leben empfunden hatte - in das Farmhaus, um seine Koffer zu packen.
(Eddies erste Ehefrau, Lassie London McWellington, starb vier Jahre später an einer Überdosis Rattengift, als sie ihn beim Sex einen Spielverderber nannte. Die Polizei verhaftete ihren Vorgesetzten Sir Christchurch, nachdem Eddie ihn der Autorin der Geschichte als chronisch eifersüchtig beschrieb. Sie glaubte ihm natürlich.)

The End

... und für diejenigen, die glauben ohne die Auflösung des Geheimnisses hinter der Scheune nicht leben zu können:
- Da saß ein Papagei, den die australischen Aborigines Mes Calinum nannten. Mates Vater hatte den Vogel von einem Urlaub mitgebracht. Mate war dem Glauben dieses Volkes so sehr verfallen, dass er den Papageien für ein Orakel hielt und jedes Wort für bare Münze nahm, welches der dumme Vogel ihm vorgesagt hatte. Seht ihr, wie dumm Mate war?
Eddie fand übrigens, dass das Viech gegrillt und geröstet sehr delikat war. Für ihn sabbelte es nur wirres Zeug. ;)

Copyright by Mes Calinum, Juni 2003
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Sehr schöner Schreibstil und wunderbar, überraschende Story. Der "Betaleser" und der "Captain der Enterprise" gefielen mir am besten.

Freiheit (24.07.2004)

Danke. *g*

Mes Calinum (22.02.2004)

Klasse! Ich hab Tränen gelacht! *gg*

Metevelis (19.02.2004)

Ich geb dir'n Fünfer und wedel mit der weißen Fahne. Du hast den Satz des neuen Jahrtausends geprägt: "Heute war zwar ein guter Tag zu sterben, aber kein guter Tag für ein offenes Ende, was?" Danke schön!
Gruß
Andre


Andre (18.08.2003)

Dr I dunno see it! Der Name gefiel mir am besten. Ich glaube übrigens, dass die liebe Mes zum guten Schluss den LESER als den Dummen da stehen lassen wollte! ;-)
Ausgefallene Idee und die ist auch noch gut umgesetzt.
Ich hoffe, meine Leute aus den Geschichten kommen nicht auf die Idee, das nachzumachen. Wenn ich mir so vorstelle, wie die Rappelkiste hier im Viertel rumkurvt...
*lol*


Stefan Steinmetz (03.07.2003)

PS.: Eddie hieß vorher Laddie Scotland. Das klang zu sehr nach Lady, und da Läddie es auch nicht tat, musste halt ein Eddie her.

Mes Calinum (01.07.2003)

Lacht, ja ich kann's einfach nicht lassen. Ohne ein bisschen Wirrnis würde es mir einfach das Herz brechen. *fett grins*

Mes Calinum (01.07.2003)

*GRÖHL*
Da haben Deine Figuren also kapiert, was ein Autor ihnen antun kann *g*
Das mit Eddies Namen und dem Betaleser ist geil geworden - finde ich als der Betaleser - aber ob den auch die andern kapieren?
Das erweiterte Ende mit dem Papagei ist mal wieder typisch Mes Calinum.
Etwas Wirrnis muss einfach sein, hmm?


Drachenlord (01.07.2003)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Über die Mumien  
Sternenstaub  
Am Strand  
Life Energy  
Rosenduft (60 Minuten ...)  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De