69


11 Seiten

Vollmond

Romane/Serien · Schauriges
© Majissa
Der Vollmond hat eine besondere Wirkung auf Mensch und Tier. Während er dem einen befiehlt, sich wie eine Schlange zu fühlen und durch hohe Gräser zu kriechen, veranlasst er den andern, sich seiner Kleidung zu entledigen und nackt auf Dachfirsten zu tanzen. Unter dem Einfluss des Mondes verwandelt sich die harmlose Hausschildkröte in eine reißende Bestie und der grobschlächtige Ehemann in einen romantischen Barden.

Die Mondsüchtigen schämen sich ihrer Sucht und nehmen Abwehrstellung ein.

„Hey, was hattest du denn gestern Nacht auf unserem Garagendach zu suchen?“
„Wer? Ich?“
„Nun tu nicht so! Du warst nackt bis auf diesen roten Sombrero.“
„Was? Ich hab‘ keinen roten Sombrero.“
„Doch, hast du. Das alberne Ding aus deinem letzten Urlaub! Außerdem hab‘ ich dich an deinen Arschbacken erkannt. Du kneifst sie doch immer zusammen. Auch in Hosen. Auseinander und zusammen, wie ‘ne Ziehharmonika. Blöde Angewohnheit, was?“
„Ach, lass‘ mich doch in Ruhe!“

Bei zunehmendem Dreiviertelmond verkriecht sich der Arschbackenkneifer in seiner Garage, schließt den roten Sombrero weg und kettet sich an einen stabilen Stuhl. Dort wartet er auf die Ankunft Selenes, der griechischen Mondgöttin, die ihm befiehlt, die Fesseln zu lösen und für eine Nacht das Paarungsverhalten des Laubfrosches nachzuahmen, was den Süchtigen zwangsläufig in das dichte Geäst der Bäume zwingt. Dort wartet er mit froschigem Blick auf die geeignete Frau, um sie aus der Deckung heraus hinterrücks anzuspringen und zu begatten, wobei er sich mit heftigem Schwanzwedeln am weiblichen Rücken festklammert, bis die Paarung vollzogen ist. Wer das aufopfernde Balz- und Kopulationsverhalten der Reptilien kennt, wird sich vorstellen können, wie lästig solch ein Überfall sein kann.

Das inbrünstig ausgestoßene Geständnis „Ich leide an Lunalismus!“, wird kein Richter je zu Protokoll nehmen. Ein Bluttest und der am Tatort aufgefundene rote Sombrero lassen keine Zweifel an der Vaterschaft des Täters.

Das, was die Wissenschaft vorübergehendes zwanghaftes Verhalten nennt, ist für Selene, die Mondgöttin, ein Spiel, ein munterer Zeitvertreib, der sie für die langweilige Arbeit entschädigt, die sie mit der Kontrolle über die Gezeiten hat.

Auch Alexis leidet an Lunalismus. Er gibt es nicht zu und verbietet sich selbst den Glauben an Selene, was ihn nicht davon abhält, bei Vollmond die seltsamsten Dinge zu tun. Alexis verbringt seine Abende in der Fischtaverne, die sein Sohn Antonis betreibt. Stundenlang hockt er auf einem kleinen Holzstuhl und glotzt gebannt in den Fernseher, bis er zusammensackt und einschläft, während die Familie um ihn herum bis spät in die Nacht über Touristen, Tomaten und Geld debattiert. Touristen, Tomaten und Geld sind die Hauptthemen in Antonis‘ Taverne. Dreht sich das Gespräch ausnahmsweise mal um Gurken und Gewächshäuser, entbrennt früher oder später ein heftiger Streit zwischen den alten Weibern, die mit ihrem schrillen Gezeter zwar den Fernseher übertönen, aber nicht in Alexis‘ Träume vorzudringen vermögen.

Die alte Maria, Alexis‘ Mutter, hockt immer etwas abseits von den Streitenden in ihrem Stühlchen vor dem Kamin. Stumm und reglos verfolgt sie alles, was in der Taverne vor sich geht. Obwohl sie noch nicht Witwe ist, trägt sie seit Jahren schwarz. Nur im Hochsommer, wenn die Temperaturen die 40-Grad-Grenze überschreiten, streift sie sich ihr rosafarbenes Nachthemd über und legt sich zusammen mit Opa auf das alte Eisenbett, das ab Mitte August vor der Taverne aufgestellt wird. Im August kommen viele Gäste nach Kastri in Antonis‘ Fischtaverne, nur um einen Blick auf das seltsame Paar zu werfen.

Maria ist tapfer. Offene und schwärende Wunden bedecken ihre Beine und doch beklagt sie sich nicht, wenn Stavros, ihr Urenkel sie mit Stockschlägen auf das rohe Fleisch traktiert. Vorfälle dieser Art bleiben entweder gänzlich unbemerkt oder veranlassen Stavros‘ Eltern zu stolzen Ausrufen: „Schaut nur, was für ein Temperament das Kind hat!“

Maria bewegt sich geräuschlos. Wenn sie das Bett verlässt, sitzt sie stets in der dunkelsten Ecke der Taverne, das schwarze Kopftuch tief ins Gesicht gezogen. Maria verschmilzt mit der Dunkelheit, damit das Kind sie nicht finden kann. Hat sie damit Erfolg, widmet Stavros sich wichtigeren Dingen. Gern sperrt er kleinere Kinder in die Tiefkühltruhe, die draußen vor der Taverne steht. Wenn ihm das schwächer werdende Klopfen aus dem Innern der Truhe langweilig wird, stellt er sich zusammen mit Opa an den Fuß des kleinen Hügels, der hinter der Taverne liegt. Von dort aus katapultieren sie gemeinsam kleine Welpen den Hügel hinauf. Manchmal binden sie einem besonders lebhaften Hündchen einen schweren Anker um den Hals und beobachten, wie es mit der Last zurechtkommt. Ist Opa noch munter genug, zeigt er seinem Urenkel bereitwillig, wie lange ein Kätzchen es ohne Luft unter Wasser aushält. Stavros selbst meidet das Meer. Er ist fett, unbeweglich und hockt lieber am Familientisch, um sich mit Fisch und Kartoffeln vollzustopfen.

In Antonis‘ Taverne findet sich keine lächelnde in ihre Strickarbeit vertiefte Oma im Schaukelstuhl. Auch gibt es keinen weißhaarigen Opa im antiken Sessel, der seinen pausbäckigen vor einem behaglichen Kaminfeuer versammelten Enkeln aus Moby Dick vorliest. Lediglich einen hundeschwingenden Opa und eine zu Tode verängstigte Oma hat die einzige Fischtaverne in Kastri zu bieten.

Abends, wenn eine große unsichtbare Hand den Mond wie einen gelben Lampion über dem Libyschen Meer in den Himmel hängt und die Zikaden wie auf ein Stichwort hin gleichzeitig in ihrem Gesang innehalten, steht Antonis draußen am Grill und brät die Fische, die er in der Nacht zuvor gefangen hat. Geschäftig rennt er mit dem schiefen Lächeln, das er von Alexis geerbt hat, zwischen Küche und Gästen hin und her, während sein Vater tief und fest auf seinem Stuhl schläft.

Bei Vollmond ist Alexis‘ Körper wie elektrisiert und seine Sinne um ein Vielfaches geschärft. So auch in jener Nacht, als Selene ihn mit ihrem süßen Gesang heimsucht und auch auf sein Bitten hin nicht von ihm ablassen will.

”Was willst du diesmal?”, murmelt Alexis und hält sich die Ohren zu.
”Bring mir einen Geißbock dar!”, singt die Mondgöttin.
”Du kannst mich mal!” Alexis dreht sich im Bett um.
”Bring mir einen Geißbock dar oder ich sehe mich gezwungen, dich wie einen Hahn krähen zu lassen“, setzt Selene ihr Lied fort, lächelt und entschwindet.
”Mit wem unterhältst du dich schon wieder?”, fragt Sofia, das rechte Auge wie eine Verhörlampe auf ihren Mann gerichtet, während das linke geschlossen bleibt.
”Schlaf weiter, Weib, ich habe nur geträumt”, antwortet Alexis und richtet sich im Bett auf.

Da sitzt er und horcht fünf Minuten in die Dunkelheit. Als alles ruhig bleibt, legt er sich wieder nieder und seufzt zufrieden in die Stille hinein. Der unbändige Drang, zu krähen, kommt etwa eine Viertelstunde später und scheint seinen Ursprung irgendwo zwischen Darm und Magen zu haben. So leise es geht, aber unter heftigem Kopfnicken, verlässt Alexis das Ehebett, presst sich die Hand vor den Mund und hüpft mit seinem Lieblingsmesser in die Nacht hinaus. Niemand hört den Geißbock schreien.

Alexis ist entschlossen, sich des geopferten Tiers zu entledigen, hieft es auf den Rücksitz seines Autos und fährt ein Stück die Serpentinen hoch. Er parkt den Wagen unmittelbar vor der kleinen Schlucht direkt neben Frau Glücks blauem Haus. Dort zieht er den Geißbock aus dem Auto, nimmt ihn bei den Vorderhufen und wuchtet ihn sich auf den Rücken.

Mit seinen 55 Jahren ist Alexis immer noch attraktiv. Sein Leben, das er hauptsächlich auf dem Meer beim Fischfang zubrachte, hat ihn nicht gerade stärker, aber zäher gemacht. Sein Gang ist leicht und nahezu tänzelnd, wenn er einmal nicht schwere Lasten hebt oder am Meer vor einer Wanne mit frisch gefangenem Fisch hockt, den er mit geschickten Handbewegungen sorgfältig ausnimmt und reinigt.

In dieser Vollmondnacht und unter dem Gewicht des Kadavers auf seinem Rücken wird aus dem Tänzeln starkes Schwanken. Unter erstickten Flüchen erreicht Alexis den Rand der Schlucht und begibt sich schwer atmend in gebückte Haltung. So ruht er sich eine Weile aus und hofft, dass ihn kein Mensch entdeckt.

Es ist eine Sache, ein quietschfideles Zicklein für das orthodoxe Osterfest an der Leine hinter sich herzuführen; eine andere ist es, einen toten Bock auf dem Körper herumzutragen, noch dazu in der Hocke. In Süden Kretas gibt ein Mann mit einem Geißbock auf dem Rücken Anlaß zu peinlichen Spekulationen, die unbedingt zu vermeiden sind.

Um die Strafbarkeit der Aktion indes macht sich Alexis keine Sorgen, da er den Geißbock als biologischen Abfall und sich selbst als das Opfer zwanghafter Handlung ansieht.

Alexis hat Glück. Die Nacht ist ruhig. Die einzigen Zeugen sind sein Auto und der Mond, dessen Lippen ja bekanntlich versiegelt sind. Tief geht er in die Knie, formt sein Rückgrat zu einem Bumerang und schleudert den Geißbock mit einer pfeilschnell angedeuteten Rolle vorwärts von seinen Schultern geradewegs in die Schlucht hinab. Auf das Geräusch knickender Äste folgt der dumpfe Aufprall, der Alexis zu einem zufriedenen ”étsi!” (so!) veranlasst. Er wischt sich die Hände an seinen Jeans ab und tänzelt zum Auto zurück. Zufrieden öffnete er eine Flasche Heineken, die er im Fußraum deponiert hat und trinkt sie mit wenigen Schlucken leer. Anschließend pfeffert er sie zu dem Bock in die Schlucht. Der hartnäckige Kräh- und Nickdrang hat erheblich nachgelassen und schon auf der Heimfahrt denkt er nicht mehr an die süßen Einflüsterungen, die ihn so spät in der Nacht aus dem Bett getrieben haben. Später, als er sich ins Haus zurückschleicht und auf Zehenspitzen zu seiner Bettseite huscht, wacht Sofia auf, rümpft die Nase und sagt:

”Du riechst eigenartig fremd”.
„So?“, brummt Alexis.
Sofia knipst die Nachttischlampe an, um ihren Mann bei Licht zu betrachten.
„Heilige Muttergottes! Du siehst aus, als wärst du unter einen Fünftonner geraten!”
Alexis stöhnt resigniert, zuckt die Schultern und löscht das Licht.
Sofia ist hellwach und tastet erneut nach dem Lichtschalter.
”Lüg mich nicht an! Ich kann bis hierher ihr Parfüm riechen. Welches Flittchen war es diesmal?”, klagt Sofia und trollt sich beleidigt aus dem Bett.
„Mir lief ein Lämmchen vor’s Auto, Weib.“
Sofia stemmt die Hände in die Hüften.
„Ein Lämmchen lief ihm vors Auto! Hört hört! Hatte das Lämmchen denn ein hübsches Kleidchen mit nichts darunter an?
Alexis wird zornig. „Ich hasse es, wenn du in der dritten Person von mir sprichst, so als wär‘ ich gar nicht da.
„Wenn es nach mir ginge, wärst du auch gar nicht mehr da“, keift Sofia und verlässt wütend das Schlafzimmer.

Alexis liegt mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in der Dunkelheit. Soll seine Frau doch glauben, was sie will. Sie kann von Glück reden, dass er sie nicht zu Tode gepickt hat. Für ihn ist die leidige Angelegenheit beendet. Selene hat, was sie will und bis zum nächsten Vollmond liegt ein ruhiger Monat auf dem Fernsehstuhl vor ihm. Was aber, wenn sie beim nächsten Mal ein Menschenopfer verlangt? Oder, was noch schlimmer wäre, ihm befiehlt, das Rauchen und Trinken aufzugeben. Alexis wälzt sich unruhig im Bett herum. Erst als er sich fest vornimmt, mit einem Arzt über seine Zwänge zu sprechen, schläft er endlich ein. Das leise Gezeter seiner Ehefrau aus der Küche begleitet ihn bis in seine Träume.

Bereits am nächsten Tag erhebt sich Verwesungsgeruch vom Ort des Geschehens, orientiert sich am oberen Rand der Schlucht und lässt sich mit der nächsten Windbö bis auf Frau Glücks Grundstück tragen. Am Rand des Gemüsebeetes hält er kurz inne.

Frau Glück ist mit feinen Sinnen ausgestattet. Ihr Gehör ist überempfindlich. Erst kürzlich gab sie mir mit spitzen Fingern ihr Geburtstagsgeschenk, Bachs „Missa brevis“, zurück.

„Was ist los? Gefällt es dir nicht?“, fragte ich, als sie die CD wie eine heiße Kartoffel in meine Hände fallen ließ.
Frau Glück hob abwehrend die Hände. „Entschuldige, Liebes, aber dieses Flötenspiel - ein Mordanschlag!“
Ich war etwas beleidigt. „Was!?“
„Na hör mal! Ich war tagelang taub. Aber mach dir nichts draus! Die Schmerzen lassen schon nach.“

Mit ihrem Geruchssinn verhält es sich ähnlich. Oft bleibt sie vor leeren Tischen stehen, sticht ein paar Mal mit der Nase in die Luft und ruft angewidert:

„Pah! Hier riecht es nach altem Männerschweiß! Gurken-Costas hat hier gesessen. Und gleich neben ihm Nektarius, dieser versoffene Schäfer. Zwar nicht lange, aber sicher ein gutes halbes Stündchen. Dem Geruch nach zu urteilen saß seine Herde mit am Tisch.“

Der Verwesungsgeruch am Rand des Gemüsebeets passt den nächsten Luftwirbel ab, versenkt sich in ihm und marschiert von dort aus geradewegs in die Nasenlöcher von Frau Glück, die augenblicklich von ihrer großen bequemen Hängematte aufspringt und laut zu fluchen beginnt.

”Verdammt noch mal, was ist das für ein Gestank?!”, ruft sie und stapft empört durch den Garten. Wie immer trägt sie ein kurzes Tangokleidchen und als einzigen Schmuck ihr blaues Sturmfeuerzeug, das an einer langen Kette um ihren Hals baumelt. Wenn es ginge, würde Frau Glück auch schlafend rauchen.
Sie untersucht die Küche, den Abfallsack, der draußen am robusten Stamm eines Olivenbaums angebracht ist, und schließlich noch die Hundehütte ihres verwöhnten, aber freundlichen Mischlingsrüden, dem die Dorfbewohner den Namen Léllo (Lachen) gegeben haben. Doch nirgends kann sie die Quelle des Gestankes ausmachen. Sie beschließt, Ruhe zu bewahren und den nächsten Tag abzuwarten.

Der nächste Tag kommt und mit ihm ein noch schlimmerer Gestank, der nicht nur Fliegen, sondern auch jede Menge Ratten anlockt, die Léllo gleich einsammelt und stolz neben den gemütlichen Liegestuhl auf die Terrasse wirft. Dort kläfft er die Tiere wütend an, bevor er sie mit einem einzigen Biss ins Genick tötet. Die Rattenkadaver hält Frau Glück mit spitzen Fingern am Schwanz fest und wirft sie angewidert in den blauen Müllsack.

”Ich ekel mich, ich kann das nicht mehr!”, höre ich sie schon von weitem jammern, als ich den ausgetrampelten Pfad betrete, der sich durch einen Olivenhain bis zum blauen Haus schlängelt. Auf meinem Weg begegnen mir etliche Kätzchen aus Frau Glücks Alphabet. Die kaffeebraune Alpha sitzt wie immer etwas arrogant in einem großen Grasbüschel und der fröhliche schwarze Gamma purzelt mir von einem Olivenbaum direkt auf die Schuhe, um sich ein Stück weit mit tragen zu lassen. Frau Glücks Alphabet ist erstaunlich zutraulich. Kurz vor der Terrasse springt mir Léllo freudig mit einer Ratte im Maul entgegen.
„Hier, deine Einkäufe“, sage ich und überreiche Frau Glück eine Plastiktüte, in der sie gleich hektisch zu kramen beginnt.
„Hast du sie bekommen?“
„Ja, beim Baustoffhändler. Er hat mich ausgelacht.“
„Lass‘ ihn nur. Ihm wird das Lachen schon vergehen, wenn er erfährt, dass seine feiste Frau jeden Tag ins Kosmetikstudio fährt. Ich frag mich sowieso, was sie da mit ihr machen. Sie hat Blutergüsse im Gesicht.“
Frau Glück fischt die Staubmaske aus der Tüte und setzt sie sich auf den Mund.
„Es werden jeden Tag mehr, weißt du“, dröhnt es dumpf unter dem weißen Zellstoff hervor. „Mir reichen schon die Kakerlaken, die sich in meinem Toilettenschränkchen verkriechen. Aber Ratten! Es knackt so entsetzlich, wenn Léllo sie ins Genick beißt; ich träume schon davon.”

Auch Petros, der Nachbar, ist von der Rattenplage betroffen.
”Wir müssen etwas unternehmen!”, sagt er eines Tages, als er herüber kommt und mit verschränkten Armen vor Frau Glücks Terrasse stehenbleibt.
”Wir müssen herausfinden, woher der Gestank rührt und dann alles weitere veranlassen”, schlägt er vor.
Frau Glück ist erstaunt. Petros bewegt sich sonst nur, um Geld abzuzählen. Sie ergreift die Gelegenheit beim Schopf.
”Ich sag dir was, Petros, ich glaube, der Geruch kommt von der Schlucht da drüben. Ich kraxel da aber nicht rein. Du weißt, dass ich halb blind bin und leicht falle.“
„Dann geh‘ ich eben allein“, sagt Petros und verschwindet.
„Es ist ein halb verwester Geißbock“, ruft er Stunden später aus seinem Küchenfenster.
„Ach? Und was veranlassen wir jetzt?“, schreit Frau Glück, die gerade einen neuen Müllsack um die Olive drapiert.
„Nichts weiter.“ Petros klingt beschäftigt. Es entsteht eine lange Schweigepause, bis er gleichgültig fortfährt.
”Solange wir nicht wissen, wem er gehört hat, können wir nichts tun.“
„Scheiss Griechen!“, tönt es dumpf unter der Staubmaske.

Frau Glück schneidet das Thema ”Toter Geißbock” auch in Antonis‘ Taverne an. Lautstark ereifert sie sich über ihr Unglück.
”Das war meiner”, brummt Alexis, der wie immer an vollmondfreien Abenden auf seinem Lieblingsstuhl hängt und gebannt auf den Fernseher starrt.
Frau Glück bleiben die nächsten Worte im Halse stecken. Denn Alexis ist ihr Liebling.
”Er hat Charakter und ein gutes Herz”, sagt sie immer.
”Er ist nicht zimperlich und macht einen gegerbten Eindruck. Er ist mein alter Pirat!” Alle im Dorf bis auf Sofia wissen, dass Alexis oft bei Frau Glück vorbeischaut, um sich dort bis zum Abwinken voll laufen zu lassen. Er ist der einzige, der es schafft, auf der kurzen Strecke von ihrem Haus bis zu seinem Auto drei Dosen Bier zu leeren. Auf nur 100 Metern ist das selbst für einen Kreter schwierig.

Frau Glück ist verwirrt. Ihren Piraten kann sie nicht beschimpfen. Also richtet sie ihre Wut gegen den Geißbock, der die Stirn hatte, vor seiner Zeit zu sterben. Sie beschimpft auch die städtischen Veterinärämter, die nie rechtzeitig zur Stelle sind und schließlich macht sie sich über die regierende Partei und ihren Vorsitzenden her, der es versäumt hatte, beim letzten politischen Kongress ein Gesetz über die ordnungsgemäße und schnelle Entsorgung verstorbenen Nutzviehs anzuregen.

”Da verschleudert er die EU-Gelder zur Brandbekämpfung und Wirtschaftswachstum, jagt von einem Empfang zum andern und hier verendet ein dummer Geißbock, dessen Besitzer keine andere Wahl hat, als ihn neben mein Haus zu werfen!”, ruft sie wutentbrannt Richtung Meer und trommelt mit den Fäusten auf ihre Stuhllehne.
”Aber wenn ich mir seine winzige Frau mit ihren verkniffenen Augen ansehe, weiß ich schon, wem wir das zu verdanken haben”, fährt sie fort und beginnt, Raki zu trinken.
Frau Glück verträgt keinen Raki.
”Jawohl! Verkniffene Schlitze!”, hört man sie murmeln, als zwei kräftige Burschen sie spät in der Nacht den Berg hinauf nach Hause tragen.

Zwei Tage später wird der Verwesungsgeruch unerträglich. Selbst die Ratten verschwinden und machen Fliegenschwärmen Platz, die sich auf die kraftlose Frau in ihrer geschmackvollen, kleinen Liege stürzen. Bewaffnet mit roten Fliegenklatschen in Faustform schlägt sie mal kraftlos auf den Boden, mal auf die hölzerne Pergola ein.
”Es reicht”, murmelt sie schwach und schaut mich ratlos hinter ihrer großen Lesebrille an.
Neben ihr liegt ein aufgeschlagenes Büchlein. „Lieben Sie Brahms“ von Francoise Sagan, ihrer Lieblingsschriftstellerin. Auf dem Buchdeckel kleben zermatschte Fliegenkörper, die den Titel auf „Lieben Sie .rahm.“ reduziert haben.
”Nicht nur, dass es stinkt, nein, jetzt kommen noch diese fliegenden Sopranistinnen, die mir mit ihren hohen Frequenzen das Gehör zerstören. Wenn du etwas trinken möchtest, bedien‘ dich. Folge den Sängerinnen in die Küche!”
Ich verberge ein Lächeln.
”Durch den Geruch darfst du dich übrigens nicht stören lassen, in einem guten halben Jahr wird er verschwunden sein!”
„Warum stellst du ihn nicht endlich zur Rede?“, frage ich.
Frau Glück windet sich. „Ach nein! Er hatte sicher seine Gründe.“
„Er soll den Schaden wieder gut machen. Überleg‘ es dir. Wir können gleich losgehen.“

Wenig später stehen wir vor Alexis, der wie ein Toter über seinem Stuhl hängt und auf den Fernseher starrt.
Frau Glück rüttelt ihn freundlich und sagt im bestimmten Ton:
”Alexis, du musst den Geißbock oder das, was von ihm übrig ist, wieder aus der Schlucht holen. Verbrenn‘ ihn meinetwegen, aber schaff‘ ihn fort.”
Eine Zeitlang geschieht gar nichts. Alexis glotzt gleichmütig auf den Bildschirm. Irgendwann räuspert er sich, drückt sich das rechte Nasenloch zu, schnupft geräuschvoll auf den Küchenboden und brummt: ”Nein!”

”Er ist eben ein alter Pirat!”, erklärt mir Frau Glück, als wir kurz darauf am Meer sitzen und speisen.
”Er ist verdammter Ignorant”, sage ich und betrachte den Piraten, der im Innern der Taverne auf seinem Stuhl zusammengesunken ist und schnarcht.

Mittlerweile hat Sortiris, der Maurer, großes Mitleid entwickelt. Er kennt Frau Glück seit Jahren und kann sie nicht leiden sehen. Schweigend hat er Alexis‘ gleichgültige Reaktion zur Kenntnis genommen und wenig später einen heldenhaften Plan gefasst.

Schon am nächsten Morgen braust er auf seinem kleinen Motorroller die Serpentinen rauf und stattet Frau Glück einen Besuch ab.
”Ich habe das Problem beseitigt!”, ruft er bereits von weiten, als er sich auf dem Trampelpfad nähert.
”Oh, du hast den Geißbock weggeschafft!”, ruft Frau Glück erfreut und will Sortiris um den Hals fallen.
”Nein!”, antwortet er glücklich.
”Ich habe Gift gesprüht. Ich benutze es auch im Gewächshaus. Es ist bombensicher. Die Fliegen sind tot und alles andere Viehzeug auch.”
”Nein, Sortiris!”, ruft Frau Glück und rennt aufgeregt hin und her.
„Du willst mir doch nicht sagen, dass du diese furchtbare Chemiekeule in der Gegend versprüht hast? Es wird nicht nur die Fliegen töten, sondern auch meine Katzen und was mache ich bloß, wenn Léllo in die Schlucht läuft?”
Frau Glück beginnt zu weinen, Sortiris kratzt sich verdutzt den Kopf und Léllo bellt solidarisch.

Am Abend treten die ersten Todesfälle auf. Frau Glück findet neben mehreren toten Ratten auch einige Exemplare ihres Alphabets.
”Oh, Alpha, hat es dich auch erwischt!”, jammert sie und hebt das kaffeebraune Kätzchen auf, das selbst im Tode noch vornehm ausschaut.
Epsilon windet sich einige Tage später in Todeskrämpfen. Als der freche Gamma seinen letzten Atemzug tut, ist es mit Frau Glücks Geduld vorbei. Wutschnaubend rennt sie zu Alexis, der am Meer vor einer Wanne mit Fisch hockt und Selbstgespräche führt.
„Alexis!“
„Hm?“, brummt der Pirat. Eine filterlose Karelia hängt ihm im Mundwinkel.
”Warum, verdammt noch mal, hast du den Geißbock in die Schlucht geworfen? Jetzt sterben meine Katzen und ich habe Mühe und Not, Léllo im Haus zu halten!”
Der Pirat nimmt stur seine Fische aus.
„Wenn du mir nicht antwortest, brauchst du dich nie mehr bei mir blicken zu lassen!“
Frau Glück ist den Tränen nah. Sie packt Alexis bei den Schultern und rüttelt ihn. Der Pirat gibt ein heiseres Grunzen von sich, fährt aber in seiner Arbeit fort.
„Selene ist schuld,“ murmelt er wenig später, ohne aufzusehen und schlitzt einen weiteren Fischbauch auf. „Sie zwang mich dazu.“ Ein Aschehäufchen fällt in die Wanne.
„Skatá! (Scheiße!)“, flucht Alexis und schnippt die Zigarette ins Meer.
„Selene? Du bist mondsüchtig?“
„Hm“, brummt der Pirat, während er mit einem Messer die glitzernden Innereien aus dem Fisch herausschält.
„Es ist mehr als albern mir jetzt mit einer Göttin zu kommen! Wieso sollte ich dir das glauben?“, ruft Frau Glück und wendet sich erzürnt zum Gehen.
„Warte! Möchtest du heute Nacht mit mir zum Fischen hinausfahren? Wir haben Vollmond und ich werde kein Auge zumachen können.“
Frau Glück hält überrascht inne. Noch nie hat Alexis sie mit hinaus aufs Meer genommen. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf das blaue, sanft im Hafen schaukelnde Boot, an dessen Bug in frischer weißer Farbe der Schriftzug „Eftichía (Glück)“ leuchtet.
„Du hast es nach mir benannt? Wo ist der alte Name hin?“
„Fort“, brummt der Pirat.
Vor Verlegenheit beginnt Frau Glück zu stammeln. „Aber...aber warum nur?“
„Das war Selene! Im vorigen Monat.“

Ich habe aufgehört, die Tage zu zählen, die verstrichen, seit ich das blaue Haus neben der Schlucht bezog. Die silbrigen Zweige der Ölbäume, die sich nun unter der schweren Last der schwarzen Früchte herab neigen, verraten, dass der Winter sich dem Ende zuneigt und die Olivenernte kurz bevor steht. Die Ratten und Fliegen sind längst verschwunden. Doch noch immer hält Léllo Ausschau nach Frau Glück. In vielen Nächten verlässt er seine Hundehütte und rennt die Serpentinen hinunter zum Hafen. Dort sitzt er bewegungslos bis zum frühen Morgen, den Blick aufmerksam auf das Meer gerichtet. Die Griechen lassen ihn. „Solange der Hund schaut, ist Hoffnung“, sagen sie. Der Holzstuhl vor dem Fernseher in der Taverne ist leer und die Gespräche an den Abenden drehen sich um die Vollmondnacht, in der Alexis mit Frau Glück zum Fischen hinausfuhr. Lange Zeit verrieten die tanzenden Lichter der Positionsleuchten den Standort des Bootes. Als Selene bei der „Eftichía“ auftauchte und auf dem Meer ihr Lied sang, entbrannte in Antonis‘ Taverne gerade ein Streit über Gurken und Gewächshäuser. Nur die alte Maria draußen auf ihrem Eisenbett bemerkte das schwächer werdende Glimmen der Positionsleuchten, richtete sich auf und blickte der „Eftichía“ nach, bis sie am Horizont verschwunden war.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Hi Majissa!
Du hast wirklich eine besondere Art von Humor. Zusammen mit der griechischen Kulisse und einem guten Schreibstil ist dir da ein wirklicher Leckerbissen aus der Feder geschlüpft. Ich danke dir für den Lesegenuss.


 (24.07.2003)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Bis letztes Jahr dann!  
Patiencen  
Käsetage  
Lieber Herr Suhrkamm  
Calanie und QueQue  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De