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13 Seiten

Weise Worte eines Kuscheltieres

Romane/Serien · Nachdenkliches
„Und wirst du heute endlich gehen?“, fragte der schwarze Stoffpanther, der auf dem Bücherregal lag und sah Joe aus seinen großen, braunen Glasaugen flehend an.
„Blöde Kuh“, knurrte Joe und blickte aus dem Fenster ohne den Worten seines Freundes größere Bedeutung zu schenken.
„Aber Joe …“, setzte der Panther erneut an, doch Joe stürmte bereits aus dem Zimmer, um das zu tun, was er so ziemlich jeden Tag tat: Die Nachbarskuh von seinem Grundstück verscheuchen.
Seine Schritte hallten über den Hof, und er griff geschickt im Rennen nach der Heuforke, mit der er dann schreiend auf die Kuh zulief, die erschrocken den Kopf hob und den Bauern verwirrt anblickte.
„Dich krieg ich noch, du Hackbraten!“
Das Tier machte eine unsichere Bewegung in die entgegengesetzte Richtung, als wäre es sich nicht sicher, was der Bauer vorhatte. Joe kam schlitternd vor der Kuh zum Stehen und beide starrten sich eine Weile verschwörerisch an.
„Har, har!“, schrie Joe schließlich und schwang die Heugabel bedrohlich dicht am Hintern des Tieres vorbei.
Die Kuh wackelte ängstlich mit den Ohren und entschied sich dann doch lieber dafür reißaus zu nehmen.
Einige Touristen, die an der Kawakaputa Bay die letzten warmen Sonnenstrahlen des Herbstes genossen, drehten sich erstaunt um, und verfolgten das laute Spektakel mit neugierigen Blicken, bis die beiden hinter dem nächsten Hügel verschwunden waren.
Das was das Leben von Joe Austin - Kühe züchten, Kühe verkaufen und Kühe von seinem Grundstück jagen. Wenn der eine oder andere Nachbar nicht hin und wieder einige Worte mit dem jungen Farmer wechseln würde, könnte man meinen, dass Joe selbst eine Kuh war. Zumindest verbrachte er weitaus mehr Zeit mit seinen Vierbeinern, als mit vergleichbaren Wesen seiner Art - und dem anderen Geschlecht ging er vollständig aus dem Weg.
Der Grund dafür saß wohl noch immer tief und war ganz sicher keine irische Sturheit. Vor acht Jahren waren Joes Frau und Tochter bei einem Autounfall an der irischen Küste ums Leben gekommen. Joe hatte den Wagen gefahren, aber jeder bis auf Joe wusste, dass er nichts gegen den betrunkenen Lastwagenfahrer hätte ausrichten können, der so plötzlich zur Seite ausgeschert war. Joe war nicht angeschnallte gewesen, und bevor der Wagen die Klippe hinab ins Meer gestürzt war, hatte es ihn hinaus auf die Fahrbahn geschleudert. Und damit war alles, was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte, zerstört worden.
Joe verbrachte einige Zeit in einer psychiatrischen Klinik, bis ihn die Ärzte davon überzeugen konnten, ein neues Leben zu beginnen. Er nahm diesen Rat sehr ernst und verließ Irland. Als Sohn eines Amerikaners und einer Engländerin, fühlte er sich ohnehin zwischen den Kulturen hin und her gerissen, und hätte er nicht Mara geheiratet, dann wüsste nur Gott allein, wo er jetzt gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte er statt der Farm von Maras Eltern, die seiner eigenen übernommen. Ja, es war ganz klar: Joe war zum Bauern geboren worden. Und weil er von BSE, Scrapie und MKS nichts mehr hören wollte, flüchtete er in den letzten Winkel der Welt – er kaufte sich ein kleines Farmhaus, das keine 100 Meter über dem Kawakaputa Point lag, eingebettet zwischen sanften, grünen neuseeländischen Hügeln und mit Blick auf Steward Island. Hier züchtete er seine eigenen neuseeländischen Kühe und fristete ein sehr bescheidenes Dasein. Was Liebe war, hatte er verdrängt - aus Angst sein Herz an jemanden zu verschenken, der erneut aus seinem Leben gerissen werden könnte, wie die beiden Menschen, die er in seinem Leben am meisten geliebt hatte. Daher hatte er wenig für andere Menschen übrig und sie spürten diese Gefühlskälte, die von ihm ausging. Nie ging auch nur eine Regung durch sein Gesicht, wenn ihm ein Nachbar ein freundliches Lächeln schenkte.
Und ganz sicher hätten die Ärzte Joe niemals entlassen, wenn sie gewusst hätten, dass sein einziger und bester Freund der schwarze Stoffpanther Max, der seiner verstorbenen Tochter Lizzy gehört hatte, werden würde. Joe selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann Max zum ersten Mal diese blöde Frage gestellt hatte: „Wann wirst du gehen?“
Eigentlich kam sie so regelmäßig jeden Tag, wie die hohlköpfige Nachbarskuh.

„Wann wirst du endlich gehen Joe?“ Das Stofftier gab die Hoffnung nicht auf, seinen Freund doch noch zum Aufbruch zu überreden, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte und geistesabwesend an einem Speights nippte.
„Wohin gehen?“, kam die Antwort etwas genervt.
„Na dort hinaus … zu ihm. Und ihm endlich die Frage stellen.“
„Zu wem?“
„Zu dem Wal natürlich.“ Max seufzte. Es war jedes Mal dieselbe sinnlose Diskussion.
„Da draußen ist kein Wal. Zu viele Felsen.“
Das Stofftier hätte sich am liebsten die Tatze vor die Stirn geklatscht, doch es konnte sich leider nicht von der Stelle rühren.
„Du weißt, dass er nicht immer dort draußen sein wird. Willst du gar nicht wissen, was er dir antworten wird?
„Für Antworten braucht es Fragen. Ich habe keine.“ Er trank das Bier mit einem Zug leer und stellte die Flasche vor sich auf den Tisch.
„Aber heute Nacht wäre es so schön. Du könntest direkt mit der Strömung hinaus fahren.“
„Und mir das Boot an den Felsen aufreißen?“ Er lachte heiser. „Klar, und wer kümmert sich um die Tiere? Man, du bist mir mal ein neunmal kluger Stofffetzen.“ Joe schüttelte den Kopf und stand auf, um seinen abendlichen Rundgang zu machen.
„Warum sollte ich mich überhaupt mit einem Wal unterhalten. Das ist genauso hirnrissig wie mit dir.“
„Manchmal enttäuscht du mich, Joe. Habe ich dir nicht schon so oft erzählt, dass er mit der anderen Welt kommunizieren kann? Dass er damals ganz in der Nähe war, als es passiert ist? Er ist nur manchmal ein bisschen stur, weil ihr Menschen nicht nett zu seiner Familie gewesen seid.“ Der kleine Panther atmete tief durch. „Du könntest sie wieder sehen, weißt du?“
Joe blieb im Türrahmen stehen und starrte den Stoffpanther abschätzend an.
„Wen?“
„Lizzy.“
Es sah so aus, als wolle er zu einer weiteren Frage ansetzten, aber dann schüttelte er den Kopf.
„Ach hör schon auf.“ Joe zog die Tür hinter sich zu und flüchtete auf die Weide.
Doch so ganz unberührt hatten ihn die Worte von Max nicht gelassen. Allerdings verstand er nicht, weshalb ein Wal ihm helfen konnte seine Tochter wieder zusehen. Er verstand nicht viel von der Welt um ihn herum, nur das, was ihn am Leben erhielt - und das war nicht viel. Hätte er im Laufe der letzten Jahre nicht diese sentimentale Loyalität gegenüber seinen Tieren entwickelt, dann hätte er das kleine Motorboot schon längst gegen die Felsen gesteuert. Auch wenn er das Meer hasste und fürchtete, aber so hätte es ihn wenigstens mit seiner Frau und Tochter vereint.

Joe saß auf der Südweide und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Das Meer der Foveaux Strait, das sich vor ihm ausbreitete, hatte im länger werdenden Licht der Sonne eine tiefblaue Farbe angenommen. Selbst am Horizont konnte er noch die weiße, schäumende Gischt erkennen, die an den Felsen von Pig Island zerrissen wurde. Das tosende Rauschen der Brandung wurde nur von den monotonen Kaugeräuschen Babalugas übertroffen, die Joe genüsslich ins Ohr schmatzte. Er schaute die Kuh für einen kurzen Moment mahnend an.
„Hüte deine Zunge“, sagte er und Babaluga wandte sich, den warnenden Tonfall wohl kennend, wieder dem Gras zu.
Joe stand auf, um den Weidezaun abzulaufen und warf einen letzten Blick hinaus auf das Meer. Er erhaschte den großen grauen Körper, der sich zwischen den Wellen erhob, gerade noch im Augenwinkel und blieb wie angewurzelt stehen. Sollte der Panther doch Recht haben?
Er sprang auf einen Felsvorsprung und starrte in die Ferne und konnte es nicht glauben: Da zog tatsächlich ein Wal in unmittelbarer Küstennähe vorüber. Und er hatte immer angenommen, dass die Meeresenge zwischen den Inseln zu flach und felsig war, mit zahlreichen unberechenbaren Strömungen, als dass sich dort Wale und Delphine wohl fühlen würden. Ihm wurde bewusst, wie wenig er doch über seine neue Heimat wusste.
Joe blickte noch lange auf die Wasseroberfläche hinaus, als der Wal schon längst verschwunden war und dachte über die Dinge nach, die Max gesagt hatte. Etwas Feuchtes berührte ihn an der Hand, und er zuckte erschrocken herum.
„Babaluga, du blöde Kuh, du.“ Er strich dem Tier kameradschaftlich über den massigen Kopf, während sie ihre Nase in seinem Holzfällerhemd vergrub und die Luft so sehr einsog, dass er sie lachend von sich weg stieß.
„Eau de Joe scheint dir ja echt gut zu gefallen.“ Er beugte sich nach vorne und blickte der Kuh in die Augen, in denen sich das letzte Licht des vergangenen Tages spiegelte.
„Weißt du, wenn du ein Mensch wärst, dann würd ich dich vielleicht sogar heiraten. Aber Mädel …“ Er tätschelte ihr zum Abschied den Hals, „… du bist nur ne Kuh.“
Dabei beließ er es und marschierte zurück zum Farmhaus, um einen netten Abend mit einer Flasche Bier vor dem Fernseher zu verbringen. Babaluga schaute ihm nach und schlug sanft mit dem Kopf, bevor sie zu den anderen zurück trottete und in der Dunkelheit verschwand.

Als Joe über den Hof ging, um den Trecker in die Scheune zu fahren, blieb sein Blick am Wohnzimmerfenster hängen, hinter dem Max saß und ihm diesen fragenden Blick zuwarf. Er wusste nicht, ob er von dem Wal erzählen sollte. Der Gedanke an dieses mächtige Tier dort draußen, erfüllte ihn mit einer merkwürdigen Sehnsucht. Ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte, das weit zurück irgendwo im hintersten Winkel seiner Seele verborgen lag. Er konnte ihr Kinderlachen ganz deutlich hören. Es war wie eine Sounddatei, die man immer wieder abspielte. Er sah sie mit Dodger, dem alten Retriever durch den Garten springen. Es war Sommer und sie spielten fangen. Die Tropfen, die der Wassersprenger in der Luft verstreute, ließen das Sonnenlicht in bunten Regenbogenfarben schimmern. Er konnte spüren, wie sich Maras Arme um ihn schlangen, sie ihren Kopf auf seine Schulter legte und sie Lizzy und Dodger gemeinsam beim Spielen zusahen. Er roch ihr Haar, hörte ihren Atem - für einen Moment fühlte er sogar den warmen Sommerwind.
So sah das Kuscheltier Joe an diesem Abend auf dem Hof stehen; der Bauer hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Er lächelte.

„Du hast keine Zeit mehr, heute ist deine letzte Chance, Joe.“
Der Bauer starrte auf den Bildschirm und ließ sich von einer Cadbury Werbung ablenken.
„Joe? Willst du gar nicht wissen, wie es ihnen geht?“
Joe drehte sich im Sessel um. Er wünschte sich nichts sehnlicheres, als seine Tochter und seine Frau noch einmal zu sehen, sie in den Armen zu halten.
„Und er kann das wirklich arrangieren?“, wollte Joe wissen.
Max nickte.
„Was ist mit den Kühen?“
„Mach dir keine Sorgen, Joe. Alles wird besser werden, und den Kühen wird es gut gehen. Vertrau mir. Hab ich dich jemals im Stich gelassen?“
Joe seufzte. „Na gut, aber nur dieses eine Mal. Wenn dein Wal nicht auftaucht, dann werd ich nie wieder dort hinaus fahren, verstanden?“
„Ja, Joe.“ Max lächelte, als Joe ihn auf den Arm nahm und sie nach draußen gingen.

Der Vollmond war über Oraka aufgegangen und erleuchtete das Meer. Die Wasseroberfläche war ein dunkler Spiegel, so aalglatt, dass Joe es schon fast unheimlich fand. Er kannte das Meer hier unten nur als rau und unfreundlich, aber heute war es wie ein sanftes, altes Pony, das nur darauf wartete, ihn nach Hause zu tragen. Und es war nur noch abhängig von Joe ihm Vertrauen zu schenken.
Joe starrte Max an, der vor ihm im Boot saß und warf den Motor an.
„Ich glaub nicht, dass ich das tatsächlich mache. Ich muss verrückt sein.“
„Ist es so verrückt seinen Träumen und Sehnsüchten hinterher zujagen oder Antworten auf die wichtigsten Fragen im Leben finden zu wollen, Joe?“
„Manchmal möchte ich dir eine Metallkugel um die Pfote binden und dich ertränken. Du mit deinen philosophischen Ausbrüchen.“
„Joe?“
„Joe, Joe. Ich weiß, wie ich heiße.“ Er räusperte sich kurz, und als er in die großen Kulleraugen von Max blickte, tat ihm sein Gefühlsausbruch gleich wieder leid.
„Okay, nein es ist nicht verrückt seine Träume zu jagen. Aber ich wüsste nicht, wie sich das noch realisieren lässt. Und nebenbei, findest du es nicht ein klitze kleines Bisschen verrückt, dass wir uns unterhalten, und das schon seit Jahren?“ Er hob die Hand - Daumen und Zeigerfinder aufeinander gedrückt.
„Es ist eine Gabe, Joe, und die hat nicht jeder.“
„Nennt man das jetzt neuerdings so … eine Gabe haben?“ Er steuerte das Boot hinaus auf das Meer und hielt eine Weile auf Stewart Island zu, bevor er das Boot abdrehte und hinaus in die ewigen Weiten fuhr … in die Richtung, in die der Wal gezogen war. Er hielt Ausschau, doch es war keine Spur von dem Wal zu entdecken.

Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und Joe wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Kuscheltier hatte seine Stoffpfoten auf den Rand des Bootes gelegt und schaute hinaus auf das Meer. Joe rieb sich die Augen, und starrte das Stofftier ungläubig an, das den Kopf drehte und ihn lächelnd anblickte. Es musste jetzt ganz klar mit ihm zu Ende gehen, denn der Panther hatte sich noch nie bewegt. Doch die Endlosigkeit, die diese Fahrt mit sich brachte, ließ ihn bald vergessen, was er gesehen hatte.
Joe hatte schon seit Stunden das Gefühl nur im Kreis zu fahren. Er hatte keine Ahnung von Navigation, von Meeresströmungen und sonstigen Dingen. Er wusste wie man Kühe fütterte.
Ungeduldig fuhr er sich mit der Zunge über seine rauen Lippen.
„Max? Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir einen großen Fehler gemacht haben.“
Max drehte den Kopf und sah Joe an, dessen Stirn bereits ganz rot von der intensiven Sonneneinstrahlung war.
„Wieso Joe? Du bist immer so ungeduldig. Gibt dem Wal mehr Zeit. Er ist ganz in der Nähe.“
„Er sollte sich beeilen, denn ich glaube kaum, dass ich in der Lage sein werde, weiter hinaus zu fahren. Ich werde umdrehen müssen.“
„Nein Joe, bitte tu das nicht, du darfst jetzt nicht aufgeben.“
„Ich habe keinen Proviant mitgenommen, vor allem kein Trinkwasser. Wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht von Luft und Sonnenenergie leben. Ich bin ein lebender Organismus - ganz im Gegensatz zu einigen anderen Anwesenden.“
„Nur noch eine Nacht, Joe. Bitte“
„Nur unter einer Bedingung, sollte ein Boot vorbeikommen und uns anbieten mitzufahren, bevor die Nacht hereinbricht, dann fahren wir zurück zum Festland, ansonsten macht es wahrscheinlich eh keinen Unterschied, da ich nicht einmal weiß, wie wir zurück kommen.“ Er schaute in den Himmel, wo sich dicke Wolken zusammengeballt hatten und die Sonne nicht hindurch ließen. Das Meer wurde rauer und aufbrausender und wog das kleine Boot hart in den Wellen hin und her. Joe setzte Max in das Boot hinein, so dass er nicht über Bord gespült wurde. Eigentlich war das Boot untauglich für diese Art von Wetterlage auf dem südlichen Pazifik, aber das Schicksal schien eine schützende Hand über die beiden Reisenden zu halten.
Das Kuscheltier war untröstlich über die Lage. Joe krallte sich starr vor Angst in die Seiten des Bootes und vergaß selbst seinen Durst.
Als es Nacht wurde, waren beide vom Regen durchnässt, aber das Wetter hatte sich beruhigt und gab an einigen Stellen den Blick auf die Sterne des Südhimmels frei. Joe lag im Boot und wünschte sich, dass er sich wenigstens ein Buch über die Sternbilder gekauft hätte, aber er war ohnehin zu erschöpft, um zu rudern. Sein Magen knurrte und sein ausgetrockneter Hals tat weh. Hin und wieder nippte er an einer kleinen Blechschale, in der sich das Regenwasser gesammelt hatte. Aber er war intelligent genug nicht alles auf einmal aufzubrauchen.
„Es tut mir leid“, sagte Max und kuschelte sich neben ihn. „Ich war davon überzeugt, dass er kommen würde, um dir zu helfen. Sei mir nicht böse, Joe.“
„Schon gut, ich bin nicht böse auf dich.“ Er tätschelte den Kopf des Stofftieres und schloss die Augen.

Seltsame Töne rissen ihn aus seinem leichten Schlaf. Als er zu sich kam, war er für einen Augenblick verwirrt und wusste nicht, wo er war. Dann als etwas das Boot streifte und es beinahe zum Kentern brachte, fiel es ihm wieder ein.
Er richtete sich in eine sitzende Position auf und schielte auf die Wasseroberfläche hinaus. Er kannte das Lied der Wale nicht, aber den grauen Körper, der sich direkt neben ihm aus dem Wasser erhob und eine Fontäne in die Höhle blies, den erkannte er wieder.
„Hey, wach auf, Max!“ Er stieß das schlafende Stofftier an, das ebenso müde und erschöpft wie Joe aussah. Doch Max war immerhin in der Lage sofort zu bemerken, dass der Wal aufgetaucht war und drängte sich voller Freude neben Joe.
„Da ist er … da ist er! Nun frag ihn schon!“
„Aber was soll ich ihn fragen? Mir fällt nichts ein.“
„Du weißt genau, was du ihn fragen willst. Dasselbe, dass du dich jeden Abend vor dem Schlafengehen fragst.“
Joe starrte seinen Freund ungläubig an.
„Worauf wartest du Joe, nun frag ihn doch endlich.“ Der Panther hätte ihm am liebsten einen kräftigen Stoß mit dem Ellbogen in die Seite verpasst, ihm fehlte dazu aber die Kraft.
Joe blickte nun auf den Wal, der das Boot in einem respektvollen Abstand umkreiste. Er hielt die Hand in das Wasser, um auf sich aufmerksam zu machen.
„Wenn du mir wirklich eine Antwort geben könntest, dass wäre seht nett von dir. Dann ginge es mir vielleicht besser.“
„Joooeee“, brummelte das Kuscheltier ungeduldig. „Er hat nicht ewig Zeit.“
„Ist ja schon gut. Okay.“ Joe räusperte sich. „Werde ich, … werde ich sie jemals wieder sehen, um ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, und das ich sie immer geliebt habe – immer lieben werde?“
Der Wal tauchte vor Joe ab unter dem Boot hindurch. Joe drehte sich um und rutschte zur anderen Seite, um bessere sehen zu können, und der Panther tat es ihm gleich. Aber der Wal tauchte nicht auf, egal wie angestrengt beide schauten und warteten. Nach einiger Zeit trafen sich die Blicke der beiden Freunde - in beiden spiegelte sich Enttäuschung wieder.

Sie schwiegen lange. Joe hatte sich hingelegt und ließ die gleißende Morgensonne auf seine Haut brennen. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, die letzten Wasserreste waren aufgebraucht. Und obwohl die Sonne einen kleinen Anhaltspunkt auf die Himmelsrichtungen gab, fühlte Joe sich nicht in der Lage zu rudern. Er war erschöpft und müde. Der Durst trieb ihn schließlich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Und so schaukelte das kleine Boot sanft zwischen den Wellen. In ihm lag ein erwachsener Mann von 38 Jahren, der seinen Kopf in das blasser gewordene weiche Fell eines Stoffpanthers gedrückt hatte, der über ihn wachte und in Gedanken den Wal beschwörte, der sie beide im Stich gelassen hatte.
Als eine weitere Nacht hereinbrach, zogen Nebelschwaden heran und verschluckten das Boot in ihren Schleiern. Joe begann zu zittern und drückte den Stoffpanther näher an seinen Körper. Er hörte eine Kinderstimme, die nach ihm rief. Er dachte zuerst, dass er träumte, doch dann rüttelte jemand an seiner Schulter.
„Daddy? Bist du das? Daddy, wach auf!“
Joe rappelte sich etwas benommen auf und registrierte das kleine Mädchen, das vor ihm im Boot kniete.
„Liz?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen, als er den Schemen wahrnahm. Seine Augen weiteten sich in Unglauben.
„Oh Daddy!“ Das Mädchen fiel ihm um den Hals, drückte ihn und der vertraute der Duft ihrer Haare stieg in seine Nase.
Joe strich ihr sanft durch die Haare und klammerte sie an sich. Er war davon überzeugt nur zu träumen und wünschte sich, dass dieser Traum nie zu Ende gehen würde.
Aber das Mädchen löste sich aus seiner Umarmung und wischte ihm die Tränen aus dem Gesicht.
„Daddy, was machst du hier?“
Er wusste nicht, was er auf die Frage antworten sollte, sondern schluckte nur hart und strich ihr sanft über den Arm.
„Ihr fehlt mir so sehr.“
„Ich weiß, Daddy.“ Sie sah ihn aus ihren großen blauen Augen an. „Mummy und ich vermissen dich auch. Sie sagt, es geht ihr gut. Sie hat mich geschickt, um dir eine Nachricht zu bringen.“
„Eine Nachricht?“ Joe zog sie zu sich, sodass sie auf seinem Schoß saß und ihren dünnen Arm um seine Schultern legen konnte.
„Sie will, dass es dir wieder gut geht und dass du glücklich bist. Du sollst nicht immer so schrecklich traurig sein, wenn du an uns denkst. Es war nicht deine Schuld Daddy.“
„Aber ich kann euch nicht vergessen.“
„Das musst du auch nicht. Mummy möchte nur, dass du den Menschen um dich herum eine Chance gibst. Du sollst nicht mehr alleine sein.“
„Kann ich mit dir gehen?“, wollte Joe wissen. Das Mädchen schaute ihn traurig an.
„Nein, das geht nicht. Es gibt noch Dinge, die du im Leben lernen musst. Menschen, denen du helfen kannst. Das ist es wert zu leben, hat Mummy gesagt.“ Sie sah Max, der unter Joes Arm hervorschielte, lächelte und griff nach dem Stofftier.
„Du hast Max mitgebracht!“
„Es war sozusagen seine Idee hierher zu kommen“, sagte Joe und reichte seiner Tochter ihr Stofftier. Sie gab dem Panther einen Kuss auf die Nase und drückte ihn an sich.
„Darf ich ihn mitnehmen?“, fragte sie.
Joe überlegte einen Moment und sah wie glücklich sie mit dem Stofftier wirkte - ein Anblick, der sein Leben wert war - den er nie vergessen werden würde. Er nickte.
„Nimm ihn mit, dann stellt mir endlich keiner mehr diese vielen Fragen.“
„Das ist Lieb von dir Daddy. Ich muss jetzt gehen.“
„Schon?“ Er griff automatisch nach ihr, um sie näher an sich zu ziehen, doch sie löste sich aus seiner Umarmung.
„Wirst du versuchen, was Mummy sagt – glücklich sein und den Menschen helfen?“
„Wenn das so einfach wäre“, seufzte er und sah seine Tochter wehmütig an. „Ich wünschte mir, dass alles wäre nie geschehen.“
„Dinge geschehen nun einmal.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und sah ihn an. „Mummy hat dich lieb und wird dich nie vergessen.“ Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn.
Joe schloss die Augen und als er nach vorne griff, um seine Tochter ein letztes Mal zu umarmen, da war sie bereits verschwunden.
„Denk daran dem Wal deine letzte Frage zu stellen“, hörte er ihre Stimme irgendwo in der Ferne verhallen.
Er öffnete erschrocken die Augen und blicke sich um. Um ihn herum, war nur der Nebel und das sanfte Schwappen der Wellen gegen das Boot erfüllte die Stille. Lizzy war nicht mehr da und Max auch nicht. Joe war allein.
Diese Erkenntnis setzte sich fast panisch in ihm fest, und er spürte jetzt die klamme Kälte, die die Feuchtigkeit des Nebels mit sich brachte, und die sich in seiner Kleidung festgesetzt hatte und ihn erzittern ließ. Die Panik wurde von einer großen Traurigkeit begleitet, die sich schwer auf Joes Gemüt legte. So saß er da, in dem kleinen Ruderboot, und starrte in den dichten Nebel, bis er ihn wieder hörte.
Die Laute waren tief und erschienen Joe von noch größerem Schmerz erfüllt zu sein, als der, den er in sich trug. Er tauchte die Ruder in das Wasser und folgte dem Laut. Der Nebel begann sich langsam zu lichten und im Schein des Mondes sah er den gewaltigen Körper des Wales nahe an einer Boje im Wasser treiben. Joe steuerte das Boot an das Tier heran und beugte sich über, um besser sehen zu können.
„Was ist los mit dir? Bist du krank?“, fragte er das Tier und hoffte, es würde ihm antworten. Der Wal begann sich zu bewegen und Joe sah, wie er die große Schwanzflosse aus dem Wasser hob, und sein kleines Boot um nur wenige Zentimeter verfehlte.
„Hey, immer langsam!“ Es brauchte nicht viel Licht, um zu erkennen, dass der Wal sich in einem alten Fischernetz verfangen hatte, das halb zerfranst um die Boje hing und sich in den Rücken des Wals geschnitten hatte.
„Du musst ihm helfen, Daddy“, drang eine Stimme irgendwo aus seinem tiefen Herzen zu ihm.
Joe öffnete den rostigen Werkzeugkasten, der unter der kleinen Sitzbank verankert war und nahm das alte Fischermesser heraus. Er betrachtete die abgenutzte Klinge, die in seinen zitternden Händen lag und schaute dann auf den Wal.
„Nimm mein Leben, Wal oder gibt mir wenigstens die Fähigkeit wieder zu lieben.“ Mit diesen Worten sprang Joe ins Wasser und krallte sich in das Seil des Netzes, um den Wal zu erlösen. Das eiskalte Wasser des südlichen Meeres ließ ihn fast aufschreien.
Das Tier begann sich in Schmerzen zu winden, aber Joe ließ nicht los, sondern befreite den Wal von seinem Gefängnis. Der mächtige Leib setzte sich sofort in Bewegung. Erneut hob sich die Schwanzflosse, doch diesmal unmittelbar über Joe.

„Dr. Aroha? Sie sollten sich das ansehen.“ Andrew Broderick drückte Therese Aroha das Fernglas in die Hand. Die Meeresbiologin blickte durch das Fernglas und hob die Augenbrauen.
„Ein Ruderboot?“
„Sieht ganz danach aus.“
Sie runzelte die Stirn. „Was macht ein Ruderboot hier draußen? Da sitzt doch noch jemand drin.“
„Vielleicht ist es abgetrieben worden?“
Dr. Aroha senkte das Fernglas und sah ihren Assistenten skeptisch an.
„Worauf warten sie noch, Andrew?“
Die Otago Starstream wurde langsam auf das kleine Ruderboot zugelenkt. Seit einer Woche war das Schiff im südlichen Meer unterwegs, um unter der Leitung von Dr. Therese Aroha die Wanderwege einer Gruppe von Sperm Walen vor der neuseeländischen Küste zu studieren.
Neugierig stand die Forscherin an der Reling, als ihr Schiff das kleine Ruderboot erreicht hatte. Ihre Neugier schlug in Besorgnis um, als sie den Insassen des Bootes erblickte.
Er sah nicht auf, als das Boot ihn erreichte, sein Blick war stur auf das Meer gerichtet und sein Gesicht mit Blut verschmiert. Sein schwarzes Haar war mit Grind verkrustet und klebte an seiner Stirn. In der Hand hielt er noch immer das Messer, mit dem er den Wal befreit hatte, der ihn beinahe getötet hätte. Joe wusste nicht, wieso er noch am Leben war.
„Ist mit ihnen alles in Ordnung?“ Die Frage erschien Therese eigentlich völlig überflüssig, denn sie konnte sehen, dass der Mann verletzt war.
Joe zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen und wandte seinen Blick dem Schiff zu, das direkt neben ihm vor Anker gegangen war. Es war die einzige Reaktion, zu der er im Moment in der Lage war.
Die Crew der Otago Starstream nahm Joe an Bord und versorgte ihn, während sie Kurs auf den Hafen von Bluff nahmen, der zwei Tagesreisen entfernt war.

Joe stand in dieser ersten Nacht in eine Decke gehüllt an der Reling und starrte auf das von dem Boot aufgewühlte Wasser. Der Wind erschien ihm beinahe unrealistisch warm, obwohl er eine leichte Gänsehaut auf seiner Haut erzeugte. Er fühlte sich wie in einem Traum und fragte sich, ob das was er erlebt hatte wirklich geschehen war. Er hatte es versäumt eine Frage zu stellen, der er selbst viele Jahre lang verdrängt hatte – ob er wieder würde lieben können. Er wusste es nicht. Er fühlte sich zum ersten Mal erleichtert in seinem Leben – erleichtert und leer.
Ein leises Räuspern erklang hinter ihm, und er drehte sich erstaunt um.
„Ich dachte mir ihnen würde das hier vielleicht gut tun.“ Therese hielt Joe eine dampfende Tasse entgegen, die er ein wenig skeptisch ansah.
„Es ist heißer Pfefferminztee“
„Danke.“ Er griff nach der Tasse und blickte zurück auf das Meer. Er war es nicht wirklich gewohnt, von Menschen umsorgt zu werden und schon gar nicht mit ihnen Small Talk zu betreiben.
„In den letzten Jahren habe ich oft geglaubt, dass das Meer nur Leben nimmt“, begann Therese, die sich durch die leichte Melancholie, die von diesem Mann ausging, angesteckt und auf eine seltsame Art verbunden fühlte. „Ist das nicht seltsam für jemanden mit meinem Beruf?“ Sie lachte leise über diese Ironie.
„Wie kommen sie darauf?“ Joe war verblüfft, wie leicht ihm die Frage von den Lippen glitt.
„Mein Mann kam in diesen Gewässern vor einigen Jahren in einem Sturm ums Leben.“
„Das tut mir leid.“
„Seitdem habe ich immer geglaubt, dass das Meer nur Leben nimmt. Aber heute hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich falsch lag, denn es hat ihr Leben verschont.“
„Es ist nicht das Meer, das Leben nimmt“, antwortete Joe, „es ist das Leben selbst, das darüber entscheidet.“
„Sie haben selbst jemanden verloren, den sie lieben“, stellte sie fest.
Joe nickte und sah sie an. Es war das erste Mal seit langem, dass ihm ein aufrichtiges Lächeln geschenkt wurde, in dem kein Mitleid versteckt war, sondern Verständnis.
Und Joe lächelte zurück.
 
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Kommentare  

Vielen Dank! Es freut mich sehr, dass dir die Geschichte gut gefallen hat. :)

Mes Calinum (31.03.2007)

Hallo, sehr spannend und schön geschrieben. Gefällt mir gut. Gruß Sabine

Sabine Müller (31.03.2007)

Hi Lies!
Danke für den Kommentar! :)
Die Story war in ihrer Rohfassung etwas löchrig gewesen, aber das war zum Glück noch vor der Veröffentlichung. Umso länger die Dinger werden, umso mehr Arbeit muss man immer wieder reinstecken.


Mes Calinum (04.12.2003)

Hi Mes

ich habe ja den Vorlauf zu dieser Geschichte nicht mitbekommen, kenne also die Überarbeitungsphasen nicht.
Für mich ist diese Geschichte daher aus einem Guss.
Sie hat weder logische, noch andere Brüche und...sie verführt dazu, einmal begonnen, durchzulesen, auch wenn man ansonsten lieber Kurzgeschichten mag anstatt Erzählungen, wie es ja 13 Seiten dann doch sind.

Kurzweilig, spannend und...Tristesse endet in leisem Hoffnungsschimmer, das ist ausgezeichnet getroffen.

5 Punkte

Gruss Lies


Lies (04.12.2003)

auch von mir 5 Punkte für deine traurige, aber doch hoffnungsvolle Story.
Gruß,
Heidi StN


Heidi StN (04.12.2003)

Tausend Dank! *g*
Habe noch ein wenig daran herumpoliert. Hoffe, sie glänzt jetzt ein wenig mehr. :)


Mes Calinum (04.12.2003)

Na also! Ich wusste doch, das du es besser kannst *g*
Du hast die Story echt aufgewertet und die logischen Brüche beseitigt. jetzt kommt es besser rüber. Einzig an zwei Stellen könntest du noch mehr rausholen.
1.: In den Stellen
Zitat:

Hätte er im Laufe der letzten Jahre nicht diese sentimentale Loyalität gegenüber seinen Tieren entwickelt, dann hätte er das kleine Motorboot schon längst gegen die Felsen gesteuert.

Und Zitat:

Er kannte das Meer hier unten nur als rau und unfreundlich, aber heute war es wie ein sanftes, altes Pony, das nur darauf wartete, ihn nach Hause zu tragen.
Joe starrte Max an, der vor ihm im Boot saß und warf den Motor an.

Könntest du noch einbauen, das Joe das Meer nun eigentlich hasst und fürchtet, da seine Familie ja ertrunken ist. Dadurch wäre noch etwas mehr innerer kampf von Joe zu spüren, wenn er da raus fährt.

Und in der Stelle
Zitat:
Ihm wurde bewusst, wie wenig er doch über seine Heimat wusste.

Da könntest du noch ein "neue Heimat" draus machen, denn NZ ist ja seine Wahlheimat.

Ansonsten sehr viel besser geworden und 4,5 Punkte wert. Also runden wir mal auf 5 auf ;-)


Drachenlord (04.12.2003)

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