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Die wundersame Wandlung des Andre G.

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
© Andre
Man schrieb den 21. Dezember des Jahres 2003. Ich war gerade in die Küche gegangen, um den Kessel für einen Kaffee aufzusetzen. Mein Blick blieb am Küchenregal hängen:
Sauber aneinander gereiht standen da fünf Tüten Chipsfrisch, stapelten sich etwa 10 Tafeln Nougatschokolade, sowie fünf Kernbeissernougatstangen. Ich liebte Nougatstangen, Nougatschokolade, Chipsfrisch... Früher standen dort andere Dinge, etwa drei Flaschen Averna, zwei Flaschen Sekt, in der Vorratskammer ein Kasten Weizenbier. Das war vorbei. Wie kam es dazu?

Es war am Jahresende 1998. Ich wusste nicht, wie ich es ins Auto geschafft hatte. Als erstes registrierete ich einen alten Nissan, der immer näher kam, besser, ich kam ihm immer näher. Der Weg bis zum Bremspedal war weit, unendlich weit. Ich erreichte es noch, doch es war zu spät. Ich tickte dezent auf die Stoßstange der alten Karre. Nach einem kurzen Moment der Besinnung stieg ich aus. Nur nicht nervös werden, dachte ich, achte darauf, dass du im Gegenwind stehst, damit der Sack deine Fahne nicht riecht. Vor mir stand ein Typ Ende 20. Die Abwicklung des Unfalls war schnell erledigt. Dann interessierte sich der Typ für das Auslaufen meines Kühlerwassers und er wollte unbedingt einen Blick unter die Haube werfen. Da war es geschehen: Er roch meine Fahne und rief die Bullen. 2,01 Promille waren das Ergebnis, obwohl ich den letzten Ouzo morgens um halb drei getrunken hatte, und es jetzt bereits weit nach acht Uhr war.

Der Lappen war weg und ich besuchte, dank meines früheren Nachbarn eine Führerscheingruppe, soff nicht mehr und bestand direkt beim ersten Anlauf die MPU. Ich schaffte es sogar, die Sauferei auch nach der Wiedererlangung meines Lappens sein zu lassen. Damit begannen meine Probleme erst recht: Hatte ich vorher so eine Art Wattebausch um mich herum, sorgte jetzt mein Klarblick für noch mehr Turbulenzen: Ich erkannte den Sumpf in dem ich steckte: Ein Job in einem Grossraumbüro, in das jeder seine Probleme mitbrachte, in dem nur auf Schwächen einzelner gewartet wurde, um dann auf ihm herumhacken zu können. Ich weiß nicht mehr, wie viel Kinder ich mitgeboren hatte, wie oft ich mit den Kleinen sitzen geblieben war, wie viel Eltern ich unter die Erde gebracht hatte, schwanger wurde, Freund oder Freundin wechselte... Ich erkannte auf einmal das Muster und konnte sogar Verständnis für die Fehler anderer aufbringen, wenn ich es auch nicht äußerte. Es war ein Muster, das mich bereits mehr als dreißig Jahre begleitete. Ich harrte aus. Und machte mit. Und machte Fehler. Ich steckte ein und teilte aus. Ich kritisierte und tat doch nichts. Veränderung? Nein, danke!

Wie weit muss ein festgefahrener Mensch eigentlich im Dreck versinken, um sich zu verändern? Lieber das frustrierende Bekannte, als das schöne Unbekannte. Es ist so leicht, einfach im Sumpf zu verharren, herumzujammern, denn man findet ja genügend Mitheuler.

Ich musste noch weiter in die Versenkung: Nach über einem Jahrzehnt im Großraumbüro wechselte ich zu einem sehr guten Freund ins Unternehmen. Waren Neid und Missgunst in der alten Firma dezent versteckt, schlugen sie mir jetzt unverhohlen ins Gesicht. Ich war in einem Scheißladen gelandet, dessen Hauptvokabular aus „fauler Sack“ und „dumme Schlampe“ bestand. Mein sehr guter Freund hielt mir täglich Vorträge, wie ich zu arbeiten hatte, ein Kerl, der von Arbeitsorganisation soviel verstand wie ich vom Wechseln der Zylinderkopfdichtung. Der Druck wurde größer und größer, Sprüche wie „Fressen und Gefressenwerden“ wurden mir entgegengeschleudert. Nach einem halben Jahr war ich fertig und zog die Konsequenzen: Ich kündigte.

Die drei Monate ohne Arbeitslosengeld konnte ich wegstecken. Ich schaute in die Zeitung, kaufte ein Bewerbungsbuch und überarbeitete Lebenslauf und Anschreiben bis zu zwanzigmal. Egal wo und wie ich mich bewarb, ich wurde abgelehnt. Und zum ersten Mal in meinem Leben registrierte ich, dass es nichts mit meiner Qualifikation zu tun hatte. Es gab in meiner Kragenweite keine Jobs. Das Glöckchen der Erniedrigung setzte zu seinem letzten Läuten an, und es nannte sich „Bedürftigkeitsfeststellung“, ein Formular des Arbeitsamtes, genauer der Antrag auf Arbeitslosenhilfe. Über Nacht reifte ein Gedanke heran: Ich gründe eine Ich-AG. Ich werde Saxophonlehrer. Ich wusste, dass die Warteliste in der Musikschule immens lang war. Der Bedarf war da, der finanzielle Einsatz nicht groß. Und Musik war das einzige in meinem Leben, dass niemand beeinflussen, niemand kritisieren konnte. Es war ein Ausdrucksmittel, das man nicht einfach in eine Schublade stecken konnte.

Ich fraß mich durch Verordnungen des Finanzamtes, meldete mich bei der Künstlersozialkasse an, zahlte Krankenversicherung und bekam meine ersten Schüler. Ich machte Werbung und erhielt Zusagen. Ganz zart wuchs in mir das Pflänzchen der Zuversicht. Dann hatte der Gedanke endlich die Oberhand gewonnen: Aus Zuversicht war Gewissheit geworden: Knapp 39 Jahre hatte ich mein Leben auf Umwegen verbracht. Jetzt bekam ich Resonanz durch meine Schüler, ich spürte Verantwortung und konnte meine Entscheidungen allein treffen. Ich war vorsichtig und wurde trotzdem erfolgreicher. Wie sagte noch mein Kursleiter in der Anti-Sauf-Truppe? Wenn man sein Leben nicht ändert, wird man wahrscheinlich wieder anfangen zu saufen. Ich setzte mir ein Ziel von fünf Schülern in den ersten Monaten und erreichte acht. Ich hatte keine Angst vor Herausforderungen mehr.

Es gibt Zeiten, in denen muss man sich einfach überwinden. Die einst korrodierte Schraube im Blech hatte sich mit einem Rostlöser befreit und drehte sich nun wundersam im dazu passenden Gewinde.

Der Kessel pfiff. Ich goss das heiße Wasser auf das Instantpulver, rührte um und schaltete das Skispringen von Engelberg an der Glotze ein. Am Montag würde ich noch vier Nachholstunden halten. Ich freute mich drauf.
 
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Kommentare  

Dazu wird der Singlepointer keine Gelegenheit mehr kriegen, auch von mir 5 Punkte, denn ich liebe Erfolgsstories.

Gruss Lies


Lies (22.12.2003)

Schön.
Schön echt.
Schade, dass nicht ein bisschen Weihnachten drin vorkommt, es hätte gepasst.
Man merkt: die besten Geschichten schreibt das Leben. Vielleicht nicht die spannendsten oder die ergeifendsten, aber die besten!
Fünf von mir, bevor der Singlepointer wieder mit Singlepoint runterzieht.


Stefan Steinmetz (21.12.2003)

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