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2 Seiten

Schatten

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© tommes
"Quo Vadis, Schattenmann?"
Natürlich bekomme ich keine Antwort, kein Wunder - stellte ich die Frage ja auch nur im Geiste - ich beobachte ihn nun schon seit 15 Minuten - seit ich in diesen Bus gestiegen bin.
Er sitzt dort am Fenster, drei Reihen vor meinem Stehplatz im Mittelgang und bewegt sich nicht: eine grosse, hagere Gestalt in Schwarz mit einem breitkrempigen schwarzen Hut tief auf dem Kopf sitzend - ein Hut, wie sie vor vielleicht siebzig Jahren getragen wurden. Den Kopf tief zwischen die dürren Schultern gebeugt, ohne jede Regung vollzieht er seine Reise - wohin gehst du, Schattenmann?
Ich schaue mich im Bus um und sehe zappelnde, laut gestikulierende Schulkinder kurz vor der Pupertät mit diesem "ich will eure Aufmerksamkeit"-Blick in den ruhelosen Augen, ich sehe fette Mütter, scheinbar aus allen Teilen dieser Welt in diesen Bus geströmt, um sich hier ein kurzes Stelldichein der Kulturen zu geben, dann ein paar Meter weiter einige Männer in blauen, verdreckten Latzhosen, müde von ihrem stupiden Arbeitstag vor sich hinstarrend, nach Bier und Schweiss stinkend und dennoch einen Blick des Triumphes und der Vorfreude auf ihr Zuhause in den Augen, ich sehe zwei alte Frauen, ihre Handtaschen umkrallend auf dem Schoß, die sich ab und zu einander zuflüstern...eine tägliche Welt voll menschlichem Leben - und ich sehe ihn, diesen uralten Schattenmann, manchmal dreht er langsam seinen Kopf ein winziges Stück in Richtung Fenster, aber die Spiegelung dort lässt nichts von seinen Augen erkennen, nur die knochige Nase und die Wangen sind dort zu erahnen.
Was hat dieser Mann alles durchlebt? Er strahlt soviel graue Dunkelheit, soviel Zeitalter aus, dass ich fast hypnotisiert meinen Blick nur mit Willensanstrengung von seinem Hinterkopf lösen kann - er muss beide Weltkriege mitgemacht haben, er könnte sogar Bismarck als Kind noch zugejubelt haben...
Wo gehst du hin, Schattenmann, und woher kommst du?
Gehörst du zu jenen Schatten, die mitansehen mussten, wie ihre Kinder, ihre Frauen nach einem letzten Kuss, einem letzten verzweifelten Ruf deines Namens in den Steinkammern von Treblinka verschwanden, deren Leben dort für alle Zeiten und ohne Abschied von der Welt nehmen zu dürfen einfach ausgelöscht wurde?
Ist das der Grund für deine Dunkelheit? Weil die Asche von Millionen einst glücklicher Seelen Tag und Nacht ohne Beisein deines Gottes aus den rauchenden Schloten von Majdanek auf dich herniederregnete?
Oder gehörst du zu jenen anderen Schatten, jenen einstigen Menschen, die das Menschsein in jener Zeit ablegten, sich in schwarze geifernde Wesen verwandelten, die mitleidslos und voll des Gleichmuts all das vernichteten, was uns ausmacht, die das wahrhaft Böse jubelnd in sich hineinliessen, sich vor ihren Demagogen in den Staub warfen, die ihre eigene menschliche Seele nicht verkauften, sondern in den Dreck schleuderten, um sich und die Welt in den Untergang hineinzusehnen?

Spürst du es jetzt, Schattenmann? Spürst du, wie sie auf dich warten? all die Millionen durch Zyklon-B auf grauenhafte Art Erstickten, die Erschossenen, die Erhängten? Warten sie auf dich, Schattenmann? Ist das der Grund? Jahrzehntelang führtest du ein Leben inmitten einer Welt, die du nicht verdientest, immer in der Angst, plötzlich auf der Strasse von einem Überlebenden wiedererkannt zu werden - oder kennst du nicht einmal diese Angst, Schattenmann? Sie kommen zu dir in deinen Träumen, nicht wahr - wir beide wissen es - die Dunkelheit um dich herum - das sind sie, nicht wahr? 
Nur ein Weilchen noch, Schattenmann...und dann werden die Güterzüge der Reichsbahn, vollgestopft mit zuckenden und stöhnenden Leibern in deinem persönlichen nächtlichen Bahnhof einfahren, aber du wirst dort nicht mit schwarzer Uniform und Peitsche am Bahnsteig stehen, du wirst dort vor Angst zitternd auf dem schmutzigen Erdboden liegen und ihre Hände werden dich anfassen, sie werden dich aufheben, in ihren Waggon zerren und du wirst teilhaben an ihrer Reise in die Dunkelheit!
Ohne es bemerkt zu haben, stehe ich plötzlich direkt neben seinem Platz, beuge mich zu ihm hinunter und will etwas sagen, will ihn fragen, den Schattenmann...so viele Fragen, aber ich bringe kein Wort aus dem Mund - er sieht zum Fenster hinaus und plötzlich, nur für einen kurzen Moment dreht er seinen Kopf langsam zu mir herum und sieht mir direkt in die Augen.

Der Bus hält rumpelnd an, die Türen öffnen sich zischend und ich stolpere benommen hinaus in den Tag. 
 
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Kommentare  

Sodala, ich glaub ich weiss jetzt was ich sagen will. Ich beschreibe nur mal eben kurz meine Gedankengaenge:
1) Wieso denkt der Typ im Bus sofort an Treblinka und Majdanek? Wieso kann der alte Mann nicht einfach nur ein alter Mann sein? Das geht mir zu weit. Das ist zu viel Spekulation.
2) Die Geschichte steht unter Nachdenkliches. Denk nach!
3) Vielleicht geht es gar nicht in erster Linie gar nicht unbedingt um die NS Zeit, um die KZ. Vielleicht geht es ja noch um etwas anderes?
4) Wer macht sich eigentlich noch Gedanken darum wie es den Menschen im Bus oder der UBahn oder sonstwo so geht? Wo sie herkommen, wo sie hin verschwinden. Man sieht sie nie wieder und man vermisst sie nicht. Aber man verpasst eine Menge. Lebensgeschichte um Lebensgeschichte. Vielleicht war der alte Mann KZ Uberlebender, vielleicht auch nicht. Doch egal was er in seinem Leben erlebt hat, es wuerde vermutlich extrem interessant sein es zu wissen. Doch es interessiert sich ja keiner fuer sie Menschen um sich herum!

5) Fantastische Geschichte und genau richtig in der heutigen Welt wo wir hauptsaechlich aneinander vorbeileben!


Regina (08.02.2004)

hallo regina,

vielen dank für deinen kommentar, egal wie er auch ausfallen wird.
"quo vadis" heisst soviel wie "wohin gehst du".

noch ein schönes wochenende


tommes (31.01.2004)

Ich weiss noch nicht, was ich schreiben soll. Ich muss noch darueber nachdenken. Ich denke aber es wird was positives sein.
Auf jeden Fall ist die Geschichte in der Rubirk Nachdenkliches absolut richtig.

Nur eine frage noch, was heisst Quo Vadis?


Regina (29.01.2004)

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