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6 Seiten

Schwarz

Trauriges · Kurzgeschichten
© Nairy
Seine Lederjacke hing über der Stuhllehne und er ergriff sie im Vorbeigehen. Sie saß noch immer perfekt und diese Tatsache ließ ihn lächeln – jedes Mal wenn er das schwarze Leder über seine Arme zog und das Gewicht der Jacke auf dem Körper spürte. Er ging hinaus, zog die Tür hinter sich zu und ließ seinen Blick zum Mond hinaufgleiten. Sein Freund war blasser als sonst, versteckte sich meist hinter den Wolken, aber das war ok.

Er ging durch die Straßen, seine Schritte waren das Einzige, was die Stille durchbrach. Den Weg zur Arbeit kannte er im Schlaf und mehr als einmal war er ihn auch halb schlafend gewankt. Die Menschen, denen er dabei begegnete, waren ihm vertraut. Es gab nicht viele Personen, die in den frühen Morgenstunden die Straßen entlang liefen. Vor allem nicht in diesem Viertel. Und ganz besonders nicht in der Nähe des Friedhofes.

Warum die meisten Menschen Angst vor Friedhöfen hegten, hatte er nie ganz begriffen. Er mochte die federleichte Ruhe. Und manchmal kam es ihm so vor, als würde die Weisheit so vieler Lebenserfahrungen dicht über dem Boden wabern, wie Nebel und ihm war als würde er ein wenig davon aufnehmen. Jedes Mal wenn er über die Gräber schritt.

Der Laden lag im Dunkeln. Er schloss auf und während er sich an einem Granitblock vorbeitastete, um den Lichtschalter zu erreichen, sog er tief den Duft seines Zuhauses ein. Er fand den Schalter und die plötzliche Helligkeit tat fast weh. Mehrere Blöcke unterschiedlichster Gesteinsarten standen verstreut im Raum. Einige waren fast fertig, bei anderen fehlten die Gravuren oder sie waren noch nicht vollständig abgeschliffen. Manche waren vollkommen unberührt.

Er wusste zwar ganz genau, wann welcher Stein fertig sein musste, arbeitete aber nicht systematisch und kleinkariert alles einer Reihenfolge oder bestimmten Regeln folgend ab. Menschen, die das taten, waren ihm unheimlich. Genau wie solche, die Lesezeichen benutzten.

Er setzte Wasser auf und belächelte still die Tatsache, dass Tee nicht wirklich zu seinem äußeren Erscheinungsbild passte. Und das war gut.

Seine Lederjacke, die pechschwarzen, langen Haare, die breiten Schultern, das arrogant angehobene Kinn und ein süffisantes Grinsen, welches allzu oft seinen Mund umspielte, gab den Menschen fast schon beim ersten Anblick den Glauben, sie könnten ihn durchschauen. Oder sie hätten es bereits getan. Sie kannte diesen Typ Mensch. Ihre Ignoranz, die sich wie ein Tuch über ihren Kopf legte und ihnen die Sicht nahm, gab ihm den Schutz, den er wollte.

Er goss sich Tee ein, trank einen Schluck und genoss den heißen Earl Grey. Seine Jacke hängte er an den Haken, nahm seine Werkzeuge zur Hand und setze sich vor einen der Steine. Weißer Marmor mit goldener Inschrift. „Du fehlst uns!“ war nicht besonders originell, aber vielleicht war „Dorothea“ es auch nicht gewesen.

Er dachte an die letzte Nächte. Das Mädchen Emily hatte mit ihren Haaren gespielt, ihre Schönheit hatte ihn gefesselt. Es war nicht die offensichtliche, oberflächliche Grazie der meisten Modepüppchen, sondern ein warmes Licht, das aus ihren Augen leuchtete und ihren Mund bestrahlte, die Pausbäckchen erröten ließ und ihre wunderschönen Wimpern besonders betonte.

Er würde sie nicht wiedersehen.

Er ließ nicht zu, ließ niemals zu, dass die Magie sich als Illusion entpuppte. Er hatte nie wissen wollen, wie es dem Zauberer gelang, die bunten Tücher aus dem Hut zu ziehen, und er verdammte jeden Erklärungsversuch. Er mochte die Einsamkeit aus eben diesem Grund. Er konnte Magie entdecken und sich in ihr suhlen und niemand war da, der sie ihm nahm – durch graue Erklärungen, die sich wie Staub über alles Mysteriöse legten.

Und der Zauber des Kennenlernens, der des ersten Gespräches, des ersten Kusses und ersten Ficks waren geballte Magie. Erlebte man dies alles in einer einzigen Nacht, war die Intensität der Gefühle überwältigend. Das Erlebnis war zu perfekt um es noch verbessern zu können.

Er dachte an Emily, sehnte sich nach ihre, wollte mit ihr reden, sie berühren, wusste aber gleichzeitig, dass er es nicht konnte. Ließ er sich darauf ein, würde er Fehler entdecken, denn irgendwann fanden die Maden jeden Apfel.

Nichts war vollkommen perfekt außer dem Moment.

Und seinen Steinen.

Aber auch sie waren es nicht, denn Zeit knabbert sich auch durch Marmor. Nur brauchte sie erheblich länger. Ein Menschenleben reichte nicht aus und deshalb kümmerte es ihn nicht.

Solange er lebte, wären seine Steine existent und bewachten Menschen, die es nicht mehr waren. Fleischbrocken, an denen nicht nur die Zeit fraß.

Er lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk. Langsam glitt er mit den Händen über den kühlen Block, fuhr mit den Fingerkuppen die einzelnen Buchstaben nach. „Du fehlst uns!“

Ob Emily ihn auch vermisste? Er war sich fast sicher. Nein, berichtigte er sich in Gedanken, wahrscheinlich nicht ihn sondern Ramon.

Sie hatte es ihm leicht gemacht. Ihr dunkles Make-up und die schwarz gefärbten Haare sollten sie tough erscheinen lassen, taten es aber nicht. Sie umgaben sie eher mit einer Aura von Trauer und Verletzlichkeit. Ihre großen Augen unterstrichen dies und der Schmuck schien aus silbernen Tränen gegossen.

Bei denen, die sich am meisten wehrten, war es am einfachsten.

Doch auch wenn diese Menschen keine Herausforderung darstellten, mochte er sie. Er liebte es zuzusehen, wie die Leidenschaft aus jeder Pore ihrer Haut quoll und alles, was er tun musste, war ihr eine Richtung zu geben.

Manchmal brauchte er sie und ihre Formbarkeit. Und nicht selten spielte er mit ihnen, formte die Menschen wie Knetmasse. Immer in dem Bewusstsein, dass er es konnte, dass er sie modellieren konnte und sie dabei nicht zerbrechen würden.

An manchen Tagen wollte er das.

An anderen nicht.

Manchmal wollte er zerbrechen und seine Zärtlichkeiten waren fast brutal.

Nicht weil er jene Menschen zwang. Er zerbrach sie.

Oder nein, er zerbrach nicht sie, sondern nur ihre Masken, die aber so sehr zu einem Teil von ihnen geworden waren, dass die Befreiung schmerzhafter war als der Tod. Und er hatte den Eindruck, dass es nicht viel gab, was beides unterschied. In jenen Momenten war er nicht Ramon. Vielleicht war er es nie vollständig.

In Augenblicken, in denen seine streichelnden Finger und seine hungrigen Lippen Panzer zerbersten ließen, war er anders. Vielleicht Gott. Vielleicht auch der Teufel. Unbarmherzig und ehrlich. Und manchmal fragte er sich, ob das nicht Synonyme waren. Wahrheit war grausam. Und jemandem die Augen zu öffnen ein Akt äußerster Aggressivität.

In diesen Momenten war er Darius. Der Mächtige. Und er spielte mit seiner Macht, benutzte sie, so wie er auch die Menschen benutzte, denen er begegnete. Die Wahrheit war sein Schwert und oft genug stieß er aus reinem Machthunger zu.

Er sah auf. Die Schwärze der Nacht war einem dämmrigen Tageslicht gewichen. In der Ferne zogen sich Wolken zu einem Regenguss, vielleicht auch einem Gewitter zusammen. Er betrachtete den fertigen Stein.

Sein Hocker rutschte holpernd über den Boden, als er aufstand. Er nahm ihn und ging zum nächsten Stein. Diesmal war es ein Naturstein. Die Inschrift beschränkte sich auf ein Kreuz und den Namen. Es war fraglich, ob sich die Menschen noch lange an „Ottmar“ erinnern würden.

Er begann die Kanten abzuschleifen, während er in der Ferne einen ersten Donner vernahm und widmete sich wieder seinen Gedanken.

Eigentlich war er froh, dass es niemanden in seinem Leben gab, um den er irgendwann trauern würde. Die Menschen, die seine Nächte erfüllten, vergaß er schnell. Er wusste nicht, was mit ihnen geschah, wollte es auch nicht wissen. Der Augenblick und die Magie, die in ihm lag, waren das wofür er lebte. Es war eine schwarze Magie. Aber trotzdem, oder gerade deshalb, mächtig. Gewaltiger, als alles, was er kannte.

Und befriedigend. Denn die Frage, ob er Gott war oder der Teufel konnte er auch aus den Augen der Menschen lesen., denen er als Darius oder Ramon gegenüber trat.

Die Glocke klingelte. Er blickte auf und bemerkte, dass die Gewitterwolken immer näher kamen. Er erstarrte. Hinter einem alten Hausmütterchen, das ihn aus müden Augen anblickte, schob sich eine junge Frau mit schwarzen Haaren in den Laden.

Sie war es. Emily.

Sie hatte sich verändert seit der letzten Nacht. Nicht durch ihr sommerleichtes Make-up, die nun klebrig roten Lippen und das beblümte Kleid. Es schien vielmehr als wäre sie ein anderer Mensch geworden. Sie hatte ihr Kinn vorgeschoben. Die Augen blickten klar und trotzig. Ihre Mundwinkel zuckten.

„Guten Tag!“ ließ die Alte vernehmen. „Hallo!“ schloss sich Emily an. Es klang fast unhöflich.

„Herzliches Beileid!“ Seine Stimme war fest aber leise. Die Hinterbliebenen schienen das zu mögen. Er war sich nicht sicher, ob dies mit der Tatsache zusammenhing, dass sie sich nahe dem Friedhof befanden oder ob es wirklich mit dem Verstorbenen zu tun hatte.

„Danke!“

Die alte Frau wandte sich ab, schlurfte durch den Laden und betrachtete die Steine und Inschriften, als befände sie sich in einem Supermarkt. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen. Ihr Blick schweifte über die Steine. ‚Na?’ fragte er sie in Gedanken, ,Was nehmen wir? Äpfel oder Birnen?’ Ein Lachen gluckste in ihm und er hatte Mühe es zu unterdrücken.

Es gelang ihm nicht vollständig. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen und er benötigte seine gesamte Willenskraft, um die Mundwinkel wieder herab zu drücken.

Er konzentrierte sich auf Emily.

Sie starrte ihn an. Aber ihr Blick schien direkt durch ihn hindurch zu gehen. Bisher hatte er kein Zeichen des Erkennens bemerkt.
Und eigentlich rechnete er auch nicht damit. Hier im Laden war er nicht Ramon. Auch nicht Darius, aber das war unerheblich. Sie hatte Darius nie kennen gelernt. Hier war er nur er selbst. Und er konnte nicht einmal genau definieren, wer das war. Was „er selbst“ in Wirklichkeit hieß.

Er betrachtete sie. Nicht zu offensichtlich. Vorsichtig. Sie gefiel ihm. Immer noch. Allerdings schienen „immer noch“ die falschen Worte zu sein, denn er bemerkte plötzlich, dass sich sein Interesse an ihr verändert hatte. Er wollte nicht mehr wecken, was in ihr war. Das hatte er vor ein paar Stunden erfolgreich getan.

Wieder musst er seine Mundwinkel hinunterzwingen. Diesmal war es kein Spott, der ihn fast lächeln ließ, sondern der Gedanke an die letzte Nacht.

Sie starrte noch immer. Und schien ihn nicht zu sehen.

Er hatte plötzlich das Bedürfnis seine Hand an ihr Kinn zu heben und sie zu zwingen ihn anzusehen. Ihn zu erkennen. Und ihn so anzusehen, wie sie es vor ein paar Stunden getan hatte. Er wollte das faszinierte Funkeln in ihre Augen zurückzaubern und den erstaunten Ausdruck auf ihr Gesicht.

Seine Hand bewegte sich leicht und er schrak auf. Hastig drehte er sich fort, ging auf das Großmütterchen zu, welches weiter ihre Kreise zog.. Zu schnell. Er zwang sich zur Ruhe.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Hatte nur er das Zittern in seiner Stimme gehört? Er hoffte es. Er räusperte sich.

„Ach nein.“ piepste sie. „Oder, ... „ sie stockte, „ was ist denn das Günstigste?“ Betreten schaute sie zu Boden.

Sie tat ihm leid. Denn er hatte Menschen wie sie oft genug kennen gelernt. Vermutlich war es ihr Mann, der gestorben war, und das Geld, von dem noch nie genug vorhanden gewesen war, reichte nun noch nicht einmal für ein Grab mit Stein.

„Der günstigste Stein kostet ca 1400 Euro.“ Er fügte keine Erklärungen an, beschrieb weder die Inschrift noch die Eigenschaften der einzelnen Gesteinsarten, wie er es bei allen anderen Kunden getan hätte. Sie war nicht hier, um wirklich einen Stein zu kaufen, sie war hier, um zu realisieren, dass sie es nicht tun würde. Er wollte es ihr nicht schwerer machen, indem er so tat, als wäre dies ein Kundengespräch.

„Hmm.“ Sie nickte, schlurfte zur Tür. „Komm, Rina!“sagte sie, nun gefestigter und hielt Emily die Tür auf.

Er sah ihnen hinterher. Seine Füße waren scheinbar mit dem Boden verschmolzen, denn erkonnte sie nicht heben. Rina? Eigentlich konnte er gar nichts bewegen. Rina. Er konnte, verdammt noch mal, noch nicht einmal klar denken.

Rina?!?

Sie hatte einen falschen Namen benutzt.

Das bedeutete fast zwangsläufig, dass sie ihm auch einen falschen Nachnamen genannte hatte.
Er würde sie nicht wiedersehen.

Er drehte sich um, fokussierte seine Gedanken auf den Wasserkocher und setzte wieder Teewasser auf. Alles war in Ordnung.

Dass sie ihm nicht ihren richtigen Namen genannt hatte, war ihm gleichgültig, denn er würde sie nicht wiedersehen. Das war eine Tatsache, ein falscher Name änderte die Spielregeln nicht. Er lebte für die Magie, würde niemals zulassen, dass sie im Nichts verschwand. Diesen Kampf gab er nicht auf.

Er hob müde den Kopf, drehte sich um und lehnte sich an die Theke. Während er den Wolken zusah, die langsam den Himmel verdunkelten, ertappte er sich dabei, wie er seinen Blick über die Gräber schweifen ließ und nach Blumen suchte.

Er beherrschte die Magie und spielte mit der Macht, die sie ihm gab.

Manchmal schien es, als habe er die Kontrolle verloren. Und manchmal fürchtete er insgeheim, die Magie würde ihn kontrollieren.

Manchmal fühlte sich der Kampf nicht wie ein Kampf an. Sondern wie ein Opferritual.

Und manchmal, ganz selten nur, fragte er sich, ob das Opfer nicht zu groß war.


25.06.2004
 
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Kommentare  

ich finde darius großartig, er ist ein toller charackter und du hast ihn echt toll geschrieben, den bezug zur magie find ich einfach toll...es ist richtig nachvollziehbar wie er denkt :)
echt toll...und rot wird bestimmt auch super


shiva (21.07.2004)

Danke dir! *freu*
Ja, es gibt noch eine Fortsetzung, zumindest sowas in der Art. Die Geschichte selbst ist ja eigentlich auch eine "Fortsetung" von "Grau". Der nächste Teil wird "Rot" heißen.


Nairy (13.07.2004)

Tolle Geschichte, schön geschrieben, aber ich hoff mal es gibt noch ne Fortsetzung von dem Ding, ein richtiges Ende hatts nämlich nicht!

Eden (12.07.2004)

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