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4 Seiten

Grau

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
© Nairy
Er sieht sich um in seiner kleinen Welt und weiß, dass er nicht bleiben kann. Er will, aber er kann nicht. Sie schränkt ihn ein und der Schmerz wird schlimmer mit jedem Tag, an dem er hier lebt, sich selbst einsperrt. Sich selbst aussperrt wäre vielleicht die richtigere Bezeichnung und er versucht das zu sehen, was hier Freiheit ist.

Sein könnte.

Aber nicht ist.

Ein Blick aus dem Fenster zeigt ihm graue Straßen. Außerhalb. Grauer Regen, graue Häuser, graue Menschen mit grauer Haut.

Die doch so viele Schattierungen hat.

Graue Freiheit.

Gibt es so etwas?

Vielleicht ist dies alles tausend Mal besser als diese bunte Welt, das bunte Zimmer mit den Fotografien seiner Kinder, die er über alles liebt. Und seiner Frau, die ihm viel bedeutet.

Er hat sich immer gefragt, warum Liebe überall so hochgehalten wird. Wie ein Plakat, auf dem in vom Regen verwischter Farbe ein Zeichen erkennbar ist. Ein Herz. Es ist immer ein Herz. Und immer ist es rot. Das Plakat wird von grauen Menschen getragen, die denken, sie wären weniger grau, weil sie sich mit etwas schmücken und es gottgleich anbeten. Er hat immer gewusst, dass sie einer Illusion erliegen, denn Liebe ist nicht weniger grau, als die Menschen selbst. Wie können sie dem Irrglauben erliegen, dass etwas, das aus ihnen kommt, nicht so monoton sein könnte, wie sie es sind.

Seine Frau ist nicht monoton. Sie ist bunt. Nicht durch ihre Liebe, die den gleichen farblosen Schleier hat, wie alle anderen Gefühle, sondern weil sie sich mit bunten Dingen umgibt. Auch sie erliegt einer Illusion, aber dadurch, dass ihre Welt bunt ist, bunt von außen, weil sie alle farbigen Dinge einfängt und in sie hineinsperrt, nimmt sie ein wenig der Farben an. Gibt sie weiter an ihn, mit der zweifelnden Hoffnung, sie prallen nicht ab an ihm. Und sie tun es auch nicht.

Doch er absorbiert sie nicht.

Sie kleben an ihm.

Sie kleistern ihn zu wie eine alte Litfasssäule und er weiß, dass er nicht mehr erkennbar ist, weil er all die Plakate mit sich herumträgt. Ohne sie abzuschütteln, aber auch ohne sie zu absorbieren.

Und er mag es.

Trotzdem ist es nicht Freiheit.

Er weiß nicht, ob er die graue Freiheit der bunten Litfasssäule vorzieht. Er mag Farben.

Doch er ist nicht er mit diesen Farben.

Das Grau macht ihm Angst. Und dennoch wird es ihn eines Tages einfangen und er weiß es. Er gibt es nicht zu und hält sich fest an den Postern, die ihn umgeben, aber letztlich weiß er, dass sie nur eine Rüstung sind. Sie schützen, aber sie lassen ihm keine Bewegungsfreiheit.

Manchmal glaubt er, sie weiß, dass er gehen wird. Nicht heute vielleicht.

Sie fürchtet das Heute, an dem es soweit sein wird. An dem ihr verzweifelter Versuch, ihn mit Farben abzufüllen, ihn süchtig zu machen, damit er an sie gekettet ist, scheitert.

Eines Tages wird er gehen. Ob sie auch die Illusion, er würde bleiben, absorbiert wie die Farben? Vielleicht erstickt sie daran. Vielleicht erbricht sie sie auch nur und mit ihr all ihre Farben und geht daran zu Grunde, dass sie nun wieder mausgrau ist.

Er ist nicht gut für sie. War es nie.

Er ist nicht gut für *irgendjemanden*.

Vielleicht für Darius.

Er wischt diesen Gedanken beiseite, konzentriert sich stattdessen auf das Flugzeug, das in der Ferne zum Landeanflug ansetzt. Und während er nicht an ihn denkt, bemerkt er dieses Ziehen im Unterleib, das nichts mit Liebe zu tun hat, sondern nur mit Sex.

Denn Liebe ist grau.

Sex ist schwarz.

Wie eine sternenlose Nacht. Er lächelt. Dies ist nur wieder ein Klischeepaar und zwar nicht einmal ein besonders gutes. Sex und Nacht. Es fehlen nur noch der Mond und die Zigarette danach.

Vielleicht sollte er riskieren eine zu rauchen, bevor sie nach Hause kommt. Aber er hat keine Lust auf ihr Gesicht, das sich sofort leicht verzieht, wenn sie den Rauch riecht, und tut, als würde er es nicht bemerken, vielleicht glaubt sie das auch, und nichts sagt, ihn nur nicht zur Begrüßung küssen will. Mit ihren weichen Lippen.

In seinem Kopf entstehen Bilder von harten Lippen. Von einem Mund, der zu einem Strich wird, kurz bevor er ihn küsst. Wild und aggressiv. Ein grauer Mund, der zu einem grauen Menschen gehörte, dessen Grau erheblich schwärzer war, als das aller anderen grauen Menschen, die er je getroffen hat.

Sie kommt heim und begrüßt ihn mit einem roten Lächeln, küsst und umarmt ihn. Er spürt wie sehr sie bebt. Ihre Weichheit passt nicht zu ihm. Sie will sich ihm aufdrängen und er fühlt, wie er wieder in ein Stück Papier gewickelt wird Und das weiche, rote Papier schmiegt sich an ihn und klebt, so dass er weiß, dass es wehtäte, wenn er versuchen würde, es abzureißen. Vielleicht zieht es ihm die Haut vom Leib. Er versucht zu atmen, schafft es nicht und der süßliche Geruch vernebelt ihm die Sinne und löst beinahe einen Brechreiz aus.

Panik kriecht in ihm hoch. Er löst sich von ihr. „Ich muss noch einmal weg, Schatz.“ murmelt er durch halbgeöffnete Lippen und verdammt sie, weil sie nicht nachfragt. Er würde es auch, wenn sie nachfragen würde, zumal er nicht wüsste, was er ihr sagen sollte, aber diese Gleichgültigkeit, die keine ist, macht ihn rasend. Warum ist sie nur immer so passiv?

Er verspürt plötzlich den Drang, ihr weh zu tun, damit ihm wenigstens einmal eine Reaktion von ihr zeigt, dass sie lebt. Seine Faust möchte in ihr Gesicht schlagen, damit sie die wässrigen Augen schließt.

Er reißt sich zusammen, dreht sich von ihr weg, um seine Schuhe anzuziehen und den Mantel überzustreifen. Geht dann aus der Tür ohne einen Blick zurückzuwerfen. Er will sie nicht anschauen. Er weiß ja, wie sie aussieht.

Auf der Straße atmet er graue Luft ein und lässt grauen Regen auf sich niederprasseln. Während er sich die erste Zigarette anzündet, fragt er sich, ob er immer noch eine Litfasssäule ist, oder ob die Plakate ein wenig verblassen, vielleicht durchsichtig werden und er selbst durchscheint. Wie sein Grauton wohl ist? Heller oder dunkler als der aller anderen Menschen. So sehr er sich auch wünscht, er wäre dunkler, wird es wohl das gleiche straßenkötergrau sein, dass ihn sich nicht von der Masse unterscheiden lässt.

Er spürt wieder dieses Ziehen im Unterleib, während er die Masse nach dem fast schwarzen Darius absucht. Und es wandert hoch bis in seinen Magen. Er spürt wie sein Herz schneller schlägt, als sich das Ziehen weiter ausdehnt, bis es auch auf seiner Kopfhaut kribbelt. Wenn er ihn nicht findet, wird er die Suche aufgeben. Endgültig.

Er schafft es nicht sich so sehr selbst zu belügen, dass er es wirklich glaubt. Nicht einmal in diesem Moment. Vermutlich wird er ihn nicht finden. Nie.

Diese Erkenntnis versetzt ihn in einen Schockzustand, der es ihm nicht erlaubt weiterzugehen. Schnell biegt er in eine Gasse ein und steht dort, mit gesenkten Kopf, heftig atmend und lehnt sich endlich an die graue Häuserwand. Schließt die Augen und wartet.

Nur worauf? Auf den Tod?

Das Sterben hat schon längst begonnen.

Er spürt, dass das Ziehen und Kribbeln in seinem Körper nicht aufgehört hat und es kommt ihm so vor, als würde es das auch nicht mehr. Niemals.

Sachte stößt er sich von der Mauer ab und geht weiter.

Ist dieses Kribbeln die Essenz des Lebens? Der Gedanke drängt sich auf, denn es ist das intensivste Gefühl, das er je hatte. Aber was ist es?

Liebe kann es nicht sein. Liebe ist nicht schwarz.

Sie ist rot.
 
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