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Die Goldküste

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Sommer/Urlaub/Reise
»Jetzt kommt das Schönste von allem«, prophezeite Jojo ihr. »Ich zeige dir das Paradies persönlich!«
An der Küste Ghanas, bei Busua, stiegen sie aus dem Auto. Halb benommen ging Cora auf den Strand zu und war sprachlos. Es sah wie eine Filmkulisse aus: Das klare, türkisfarbene Wasser, die riesigen Palmen, der helle, feine Strand und die vereinzelten Felsen. Direkt vor ihnen lag eine winzige Insel.
»Traumhaft!« meinte Cora. Sie zog sich die Schuhe aus und lief bis ans Wasser. Ein Blick darauf gab ihr ein Gefühl von grenzenloser Freiheit und eine Ahnung von Unendlichkeit. Jojo folgte ihr. Wie wohltuend es war, das kühle Wasser an den Füßen zu spüren und durch den Sand zu laufen. Herrlich, wie sich das Licht im Wasser spiegelte. Cora war, als schiene die Sonne in Ghana heller, als anderswo.
»Wenn meine Mutter dieses wunderschöne Land nur hätte kennen lernen können - ich bin mir sicher, sie hätte es geliebt!«
»Wenn sie noch lebte, wären wir uns nicht begegnet.« Jetzt lächelte Jojo. »Du wirst dich hier wohl fühlen. Ghana ist reich an unentdeckten Schätzen!«
»Natürlich ist es schön. Beinahe zu schön!« meinte sie. »Man kommt sich plötzlich so unbedeutend vor. Ganz gleich, was man macht: Wozu denn eigentlich?«
»Gerade das ist so herrlich: Es ist vollkommen egal, was du tust - es kommt nur darauf an, wie und zu welchem Zweck du es tust.«
»Aber: Warum muss der Mensch durch all diese Hochs und Tiefs?«
»Wenn wir das wüssten...« Jojo schaute ihr tief in die Augen. »Wir sind nun einmal auf unser Menschsein und damit auf die menschliche Wahrnehmung beschränkt. Nur Gott allein hat die Kraft, den Tod zu besiegen. Bei uns sagt man: Der Schöpfer ließ die Erde werden. Als sie entstand, erfüllte er sie mit Leben. Mit dem Leben schuf er den Tod, der ihn umbrachte. Nachdem er gestorben war, kam wieder das Leben in ihn und er erwachte. Danach lebte er ewig.«
»Ewig ist eine lange Zeit...«
»Wir können das nicht - sterben und erwachen«, fuhr Jojo nachdenklich fort. »Aber innerhalb unserer Grenzen ist einiges möglich! Der Mensch wird ein Leben lang lernen und wachsen. Persönlichkeit ist ein Kunstwerk der Geduld.« Beeindruckt von seinen Worten schaute Cora ihn an. »Lass die Seele baumeln. Das Leben ergibt sich ganz von selbst.«
Wie vertraut er ihr mit einem Male war. Cora verspürte in sich eine Verbundenheit, wie zu einem Bruder, den sie nie hatte.
Sie setzten sich unter die Palme und schauten aufs Meer. »Das viele Wasser berauscht mich. Ich möchte es am liebsten beherrschen«, meinte Jojo nach einer Weile. »Ich komme mir vor wie Obtala.«
»Wer ist das?«
»Bei den Yoruba ist er der Schutzpatron der körperlich und geistig Benachteiligten.«
»Yoruba?«
»Eine weitere Stammesgruppe. Ihre Schöpfungsgeschichte hat Gemeinsamkeiten mit der Bibel.«
»Erzähl!«
»Also gut«, begann er. »Vor langer Zeit gab es nur den Himmel, wo der Allmächtige, mit allen Göttern glücklich und zufrieden nahe beim Baobob-Baum lebte. Dort gab es alles, was sie brauchten. Nur der Gott Obtala war unzufrieden. Oft saß er nachdenklich am Baum und starrte nach unten, wo nur Wasser zu sehen war. Er hatte das Verlangen, seine göttlichen Kräfte zu nutzen und eine Welt zu schaffen, in der Leben entstehen konnte.«
»So, wie du jetzt das Meer beherrschen willst?« fragte Cora.
»Ja. Nur leider bin ich kein Gott.« Er lehnte sich gegen den Baum. »So sammelte Obtala allen Sand, den er im Himmel finden konnte und füllte ihn in ein Schneckengehäuse. Danach nahm er Palmennüsse, Mais und andere Samen und packte sie in seine Schultertasche. Außerdem wurde ihm ein Ei anvertraut, ein heiliges Gefäß, welches die verschiedenen Temperamente der Götter in sich barg. Dieses wickelte er vorsichtig in sein Gewand und band es sich um. Dann kletterte Obtala an einer langen Goldkette herab. Nach sieben Tagen erreichte er das Ende der Kette und streute den Sand auf das Wasser. Er vermehrte sich und Land entstand.“
»Die Erde«, vermutete Cora und lehnte sich ebenfalls gegen die Palme, so dass sich ihre Schultern berührten. Es war angenehm.
»Genau«, flüsterte Jojo. »Es war vollkommen still, nur Obtalas Herzschlag war zu hören.« Er hielt inne, dann fragte er sie: »Hörst du meinen Herzschlag?«
»Nein, ich spüre nur meinen eigenen.«
»Dann fühlst du auch den meinen - er ist eins mit deinem!« Für einen Moment schwiegen sie ohne sich anzusehen. Strahlend erzählte Jojo weiter: »Obtala fühlte sich allein. Da wurde durch das regelmäßige Schlagen in seiner Brust die Eierschale zerbrochen und Sankofa schlüpfte - ein wunderschöner Vogel mit einem bunten Gefieder, der seinen Kopf nach hinten wand.«
Sie erinnerte sich, dass er ihr schon zuvor davon berichtet hatte. »Ist das derselbe Vogel, der einem die Angst vor der Vergangenheit nehmen soll?«
Jojo nickte. »In seiner vollkommenen Schönheit vereint er in sich das Naturell aller Götter, sämtliche männlichen und weiblichen Wesensarten. Der Vogel flog zum Boden. Obtala folgte, verteilte die Samen, und Pflanzen wuchsen heran. Dann bekam er Durst und wollte sich am kühlen Wasser eines Teiches laben. Als er darin sein Spiegelbild sah, war er davon angetan, und formte mit großer Sorgfalt aus Lehm und Staub viele Körper nach seinem Ebenbild. Davon bekam er einen noch größeren Durst. Die Palmen, die um ihn gewachsen waren, gaben ihren Saft, der in der Sonne fermentierte. Obtala trank von dem Palmwein und wurde betrunken. Er formte weitere Körper, doch diesmal unterliefen ihm Fehler: Er verdrehte Arme, verstopfte Ohren, verschloss Augen. Als er sich die Figuren später ansah, schwor er sich, nie wieder Alkohol zu sich zu nehmen. Heute ist Obtala bei den Yoruba der Hüter aller Menschen mit einer Behinderung. Doch als er sie schuf, fand er sie schön. Am Ende seiner Arbeit hauchte der Allmächtige den Körpern seinen Atem ein. Da erwachten sie zum Leben und taten, was Menschen tun.«
Sie blickten schweigend aufs Wasser. Ungebändigt tanzten ihnen die schäumenden Wellen entgegen, beruhigten sich aber zum Ufer hin und verloren sich schließlich im Sand.
Coras Augen strahlten. Das gleichmäßige Rauschen und die salzige Meeresluft ließen sie die Zeit vergessen und sie stellte sich vor, wie Obtala an einer goldenen Kette herab kletterte und unter ihm das Meer tobte. Trotzdem machte er nicht Halt. Mutig ging er den Fluten entgegen.
Jetzt ging ein stärkerer Wind, der mit Coras Haar spielte.
»Du hast gerade mein Gesicht mit deinem Haar gestreichelt«, flüsterte Jojo ihr ins Ohr.
»Das war der Wind, nicht ich!« antwortete sie lächelnd.
»Ich glaube, du hast den Wind dazu beauftragt!« Jetzt wagte er es und legte seinen Arm um ihre Schulter. Cora gefiel das, und wenn sie einen Wunsch frei gehabt hätte, wäre dieser Tag nie zu Ende gegangen.
 
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Kommentare  

Hallo, Ingo!
Vielen Dank für deinen Kommentar. DIe Geschichte von Obtala gehört tatsächlich zur Kultur der Yoruba, allerdings habe ich sie bisher noch in keiner deutschen FAssung gelesen. Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Sie ist ein "Spotlight" meines Romans "Der Sankofa-Vogel", kann aber auch wunderbar alleine stehen, finde ich. Gruß von Sigrid


 (02.08.2004)

Der religiöse Bezug sagt mir zwar nicht so zu, aber trotzdem ist die Geschichte schön. Ein romantischer Beginn einer Liebesbeziehung. Hast Du die Geschichte mit Obtala selber erfunden oder gab es diese bereits?
Mich hätte es interessiert, in wie fern der Tod Coras Mutter mit der Begegnung Jojos zusammenhängt, aber manchmal ist es reizvoller, nicht alles zu erklären!

Gruss


Ingo Gärtner (31.07.2004)

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