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2 Seiten

Zug 1

Trauriges · Kurzgeschichten
© Mandala
Müde und schwerfällig schlägt sie ihre Augen auf, blickt in das Tageslicht, das durch die schmalen Schlitze der Jalousi fällt. Jede einzelne Faser ihres matten Körpers schmerzt, die Gedanken und Erinnerungsfetzen drehen sich, wirbeln herum, blitzen in grellen Lichtern auf. Jetzt wird sie es tun, endgültig, denkt sie sich, erhebt sich, ähnlich wie eine 80jährige Greisin aus dem Bett, schleppt sich herüber ins Bad, um ihre Morgentoilette zur späten Mittagszeit zu erledigen. Als sie in ihre Sachen geschlüpft ist, ergreift sie den Schlüssel zur Wohnung und verlässt das Haus. Von außen sieht das Elternhaus ganz anders aus. Innen ist alles kahl, kühl und grau, von außen ist es ein helles und freundliches Gebäude mit einem großen Vorgarten.
Langsam, Schritt für Schritt geht sie vorwärts, in der sengenden Sommersonne. Sie malt sich schon aus, wie es sein wird, er wird heranrasen, wie jeden Tag. Doch heute wird er den jungen Körper erfassen, wird ihm mitreißen, allein durch den Sog, der dem glänzenden Weißrots Metalles voraus geht. Es würde nur einen dumpfen Aufprall geben, wenn sie sich einfach auf von dem Bahnsteig auf die Gleise vor den durchrasenden Zug werfen wird. Vermutlich wird sie gar nichts mehr davon merken, wie ihr Körper im Bruchteil einer Sekunde zerschmettert werden würde. Während sie sich diese Bilder ausmalt, erreicht sie den Bahnhof des kleinen verträumten Ortes, in dem sie schon seit ihrer Geburt lebte. Sie schaut auf die große runde Uhr, deren Weiß schon mehr an das Gelb eines alten Gebisses erinnert. Der Sekundenzeiger schnellt voran, Stück für Stück. Sie könnte fast schwören, dass sie das Klacken des Minutenzeigers hören konnte. 13:28 Uhr. In weniger als 2 Minuten wird er kommen, wird er sie mitreißen in eine andere Welt. Dann wird es vorbei sein, die Gedanken, die immer wiederkehrenden Qualen. Endlich wird sie frei sein. Das Warnsignal ertönt, die quäkende Stimme aus den Lautsprechern warnt vor dem ICE, der auf der Durchfahrt ist, man solle den Sicherheitsabstand wahren, der mit leuchtender Farbe auf dem Bahnsteig aufgemalt ist. Dann kommt er, ihr Herz schlägt schneller, ihr Atem gehetzt. Sie fühlt den Luftzug, er zieht an ihr, sie muss sich jetzt nur nach vorn fallen lassen...
Erst der Triebkopf, dann jeder einzelne der Wagons rauschen durch den Bahnhof, das Rattern ertönt in einem lauten Rauschen, unterbrochen durch das Krachen einer jeden einzelnen Achse, die über die Schweißnähte der Schienen rast.
Der junge Körper, steif, zitternd... die Augen aufgerissen, starr... die Haare verweht...
Sie dreht sich um, wie jeden Tag, und geht zurück in ihr Elternhaus.
Morgen, denkt sie sich, morgen wird es ganz bestimmt aufhören...
 
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Kommentare  

Danke.
Kritik wurde zu Herzen genommen ;)

*M*


 (08.10.2004)

Oups, ich dachte die springt. Kurz und spannend geschrieben, gut.
(Erst die Lok, dann jeder einzelne der Wagons??-Nee, der ICE ist ein Triebzug, der hat keine Lok.Der Teil in dem die ganze Elektronik und Aggregate untergebracht sind solltest du besser als -Triebkopf- bezeichnen.)
4 Punkte


NewWolz (07.10.2004)

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