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Der kleine Gott

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Schnecke. Es ist beinahe unmöglich, mir Deine Perspektive zu eigen zu machen.
Ich bemühe mich dennoch und beobachte Dich in Deiner unendlich bedächtigen Art der Fortbewegung. Du kriechst den Boden vor meinen Füßen entlang und beabsichtigst (oder denkst Du vielleicht gar nicht darüber nach?), die alte Mauer des verwilderten Gartens zu erreichen - Du hast alle Zeit der Welt dazu.
Es gibt nichts, das Dich drängen könnte, nichts, worüber Du Dir Sorgen machen müßtest.
Für Dich gibt es nur Deinen Weg, den Du seit wohl undenklichen Zeiten mit aller Dir eigenen Geduld zurückzulegen scheinst.
Dich kümmert nicht die Bedrohung, Du spürst nicht die Bedrohung, die Dir auf diesem Pflaster seit Urzeiten begegnen kann.
Du kennst nur Weg und Ziel - nichts sonst ist für Dich von Belang.

Du bewegst Dich in Deiner eigenen Welt, zu der ich keinen Zugang zu haben scheine.
Du bemerkst mich nicht einmal.

Für Dich bin ich nicht von Bedeutung, völlig ungeachtet meiner körperlichen Größe, ungeachtet auch meines Schattens, den ich im Sonnenlicht auf Dich werfe.

Du empfindest weder Furcht noch Zorn darüber, dass ich Deinen Lauf mit meinen Augen aufmerksam verfolge.
Weg und Ziel, nichts sonst findet in Deinem Bewußtsein Platz..
Aber ich bringe es auf den Punkt: nichts von all dem interessiert mich wirklich.
Ich sehe Dich, und ich sehe das Sonnenlicht auf Deinem Schneckenhaus funkeln.
Ich kann sogar, wenn ich mich etwas bemühe, die Spur sehen, die Du auf dem Asphalt hinterlassen hast.
Ich bewundere auch die Tatsache, dass Du immer noch lebst und Dein Ziel im Auge behalten kannst:
trotz all der Menschen und Fahrzeuge, die Deinen Weg gekreuzt haben müssen.

Dennoch ist nichts davon für mich von Belang.

Ich beneide Dich um die Ausschließlichkeit und Sorglosigkeit Deines Lebens.
Es kränkt mich, Deine Vollkommenheit anerkennen zu müssen.

Und obwohl Du fast das Ziel Deiner langen Reise erreicht hast, Deine Fühler fast die Mauer erspüren können, gefällt es mir, Gott zu sein für Dich.
Ich gehe weiter, ohne das Knirschen unter meinem Absatz besonders zu beachten.
Einige Tränen kann ich trotzdem nicht unterdrücken - und ich verdamme mich dafür, dass ich weine.
 
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Kommentare  

Ich frage mich zwar, wie man auf die Idee kommt, sich in eine Schnecke hineinzuversetzen, aber das ändert nichts daran, dass mir die Geschichte gefällt!

Lena N. (03.01.2005)

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