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Überfreiheit

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Der goldene Schuß erfolgte zu einer Zeit, als ich das Interesse an mir selbst verlor. Ich fühlte mich wie ein Schauspieler, der die Motivation für seine Rolle verloren hat. Oder ich war wie die Figur „Diego Nathaniel“, eingeschloßen in einem halb fertigen Roman, den ein unfähiger Autor gerade in schwerfälligem, zähem Ringen aufgab.
Ziellos zog ich stundenlang durch die Straßen New Yorks, so lange und intensiv ins Nachdenken über die Sinnlosigkeit des Lebens vertieft, dass ich mich bisweilen wie ein Gespenst fühlte. Vielleicht bin ich ja schon tot, dachte ich bei mir. Die Frage war bedeutungslos. In Wirklichkeit wusste ich die Antwort bereits, tief in meinem Inneren lag sie wohl verborgen unter endlosen Schichten grundloser Optimistik und Selbstlüge. Mens sano in corporo sano. Mein Geist war längst tot, bloß eine Frage der Zeit, wann der Körper dem Geist folgte.
Die Welt schien in ein Gespinst gehüllt zu sein, das ich nicht aufreißen konnte, und ich erstickte darin. Träge griffen meine Hände nach den seidenen Fäden – so sinnlos. Sie glitten zwischen meinen Fingern weg. Ich wollte die Wahrheit; meine eigenen Wahrheit, egal als welch trostloses Bruchstück, welch höllischer Gesamtheit auch immer sie sich wohlmöglich entpuppen würde.
Blickte ich auf die Missgeschicke, auf die Schicksaalsschläge, auf alle Erniedrigungen und Ärgernisse zurück, die ich in ihrer Gesamtheit auch oft als „Mein Leben“ bezeichnete; ich sah geradewegs auf den dunklen Schlund eines nie enden wollenden Abgrunds. Und schaute ich dann in die Zukunft, sie war gehüllt in den Rauch und den Gestank meiner Drogen und Exszesse, undurchdringlich für einen normalen Geist.
Ich hatte keinen Grund mehr. Meine Karierre als Autor war schneller vorbei, als die Trennung meiner Freundin. Lachaft mein letztes Aufbäumen zu retten, was von meinem zerschlagenen Ruf übrig war. Erbarmungslos kam die Medien herbei, wie die Geier. Sie fanden ihre Beute: Wie ein verendetes Tier lag ich am Boden, was blieb mir anderes übrig als die Flucht? Die Flucht zu den Drogen, die mir wenn auch nur für kurze Zeit einen Ausblick auf das gaben, was ich mir zutiefst ersehnte. Körperlos zu sein, lösgelöst von den Fesseln der Realität, nicht mehr gebunden an alle Pflichten und Sorgen, die reichten, um zwei Leben zu füllen. Endlich frei schweben, der Geist in den Wolken, scherzen mit Gott. Was blieb mir anderes übrig?
Kafka, Beckett, Rilke – die beredte Verzweiflung der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts waren meine einzigen Bezugsquellen, meiner Qual Form zu verleihen, herauszufinden was ich wirklich wollte. Die desolate Niedergeschlagenheit grinste mir ins Gesicht und spuckte mir immer wieder die peinliche, kindlich elemetare Frage vor die Füße, jenes einzelne Wort, das die Macht hatte alles hervorzubringen, das der Verstand ersuchte: Warum?
Warum war alles zu Bruch gegangen, wo lag der Fehler? Doch ich war schon lange zuvor an einen Punkt angelagt, an dem die Antwort auf diese Frage nun auch kein Trost mehr sein konnte. Mir nützte der Fehler gar nichts mehr, unnötig Zeit zu verschwenden,...Zeit. Man sollte vorsichtig mit Wünschen umgehen. Sie könnten in Erfüllung gehen. Ich hatte mir immer mehr Zeit gewünscht, für meine Beziehung, für meine Freunde für meine eigene Gesundheit. Und dann, quasi über Nacht, hatte ich mehr Zeit bekommen, als ich je auf meinen Schultern würde tragen können.
Ich befand mich in einer aussichtslosen Lage. Ich brauchte Trost, der über Lachen hinausging und mit meinen Alternativen sah es düster aus.
Wir leben in einer Welt der Überlastung durch die Medien und des Datensmogs, wo uns alles von allem anderen ablenkt. Aber da unsere Kultur diesem lärmenden Angriff ja zugrunde liegt, mehr noch ihr die Füße regelrecht küßt; da bietet sie uns nichts Transzedentes an. Keinen tieferen Sinn, keine lebende Hoffnung. In meinen Augen schien jede Facette der zeitgenößischen Welt zu einem teuflischen Mechanismus zu gehören, der sorgfältig durchkonstruiert war, um die Menschen davon abzuhalten, dem wirklichen Zweck ihres Daseins auf die Spur kommen zu wollen.
Ich hatte keinen Grund mehr. Die einfache Frage drängte sich auf, ein naher Verwandter des kindlichen „Warums“, das „Wieso?“. Wieso hatte ich mich noch an all die Gesetzte zu halten, die unsere Gesellschaft so wohl durchstrukturierten? Mir wurde klar, dass diese monotone materialistische Kultur, dieser von uns Menschen erfundene Kampf um Anerkennung, um Reichtum und einem hohen Platz in dem Sozialen Gefüge, dass uns allesamt ohne Ausnahme in ihren eisernen Griff hatte, „das Ende der Geschichte“ war, wie einige Schriftsteller verkündeten – da konnte ich das Leben kaum noch ertragen.
Ich hatte keinen Grund mehr. Was blieb mir anderes übrig? Auf dem Trip fühlte ich, wie ich in die sozialen und biologischen Prozesse eingebettet war, die wie die verworrenen, komplizierten Fäden eben jenens Spinnennetztes rings um mich gesponnen waren.
Ich hatte keinen Grund mehr, mich innerhalb meiner körperlichen Grenzen einzwängen zu lassen. Also beschloß ich das einzig richtige: Ich suchte nach dem größten „Kick“. Dem stärksten „Tritt“, der meine Ketten sprengen würde.
Dann hörte ich davon. Der Tod. Die ultimative Befreiung. Ich wusste schon vorher davon, natürlich war ich mir meiner Vergänglichkeit ebenso stark bewusst, wie allem anderen auch, aber nie zuvor hatte ich den Tod aus diesem Winkel betrachtet. Nicht als Erlösung, sondern als Befreiung, einem feinen aber unendlich wichtigen Unterschied.
Ein paar Stunden später hielt ich das Ticket in meinen Händen, die Fahrkarte die mir eine Passage in die Unendlichkeit ermöglichen würde. Ich nannte es „Freiheit“, andere eine Überdosis. Dennoch zögerte ich. Der Zug hatte Verspätung. Doch nach ein paar Tütchen entspannte ich mich.
„Alles einsteigen!“, rief der Schaffner.
„Alles einsteigen! Der Zug fährt in wenigen Minuten ab!“
Ich lächelte den Schaffner an, er lächelte zurück. Ich stieg ein. Die Kabinen waren sehr pompös eingerichtet. First Class! Ich setzte mich bequem hin. Mir gegenüber saß der Junkie von Nebenan. Ich hatte ihn das ein oder andere Mal im Drogenrausch singen hören.
„Sie suchen auch nach Erlösung?“, fragte er.
„Nein, nach Befreiung.“
Er nickte stumm.
Dann kam wieder der Schaffner.
„Fahrscheine, bitte!“
Ich hielt ihm die Spritze mit der Überdosis hin. Er schaute mich auffordernd an. Da verstand ich. Ich hatte vergessen, den Fahrschein zu stempeln. Ich gab mir den goldenen Schuß.
Und wenige Minuten später ratterte der Zug mit mir Richtung Freiheit. Was blieb mir anderes übrig?
 
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Kommentare  

Atemlos, Fassungslos. Bedeutungslos. So wie eigentlich alle Meinungen. Aber der Fahrschein in ein Leben ohne den Zug ins Nichts ist wohl einfach, selbst den kleinsten Dingen Bedeutung zuzusprechen. Vielleicht bedeutet dem Autoren ja ein großes Lob etwas. Das kriegst du nämlich von mir. 5 points, besser geht´s nicht.

Greez
Sara


Sara Schwaninger (11.09.2006)

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