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5 Seiten

Wenn Gummibärchen sprächen

Amüsantes/Satirisches · Kurzgeschichten
Mag es an den Vorlieben der Leserschaft liegen, mag es die fehlende Aufmerksamkeit der Autoren sein; jedenfalls muss ich feststellen, dass ich bislang mit ausgesprochener Seltenheit auf Erzählungen gestoßen bin, die sich für die Rechte der Unmündigen einsetzen.
Nein nein, mit Unmündigen meine ich keineswegs alle Wesen, denen es versagt ist, ihren persönlichen Willen frei auszuleben. Ich meine dieses Wort noch viel wörtlicher als es den Anschein hat: Ich meine in der Tat jene Wesen, deren Fehlen eines sprechfähigen Mundes gänzlich die Äußerung eines eigenen Willens verhindert. Es wurde viel geschrieben über Entrechtete, Versklavte, Diskriminierte; in langwierigen Kämpfen errangen deren Fürsprecher zumindest in häufigen Fällen mehr Rechte, Anerkennung oder Selbstbestimmung. Wer aber machte sich je zum Anwalt derer, die sich deshalb nicht selbst verteidigen können, weil sie noch nicht einmal die Möglichkeit haben, ihre berechtigten Forderungen zu äußern?
Ganz in dieser Frage vertieft, kam mir das ungewöhnliche Erlebnis meines guten Freundes Herold wie gerufen. Seine Schilderungen boten mir die Gelegenheit, bereits erwähnten Mangel an Gerechtigkeit zumindest im Ansatz zu bekämpfen und meine erzählerischen Kräfte an dieser Stelle in die Emanzipation übergangener Wesen zu investieren.

Ich will gleich mit jenem Montag-Abend beginnen, an dem mein fettleibiger Freund Herold, geschafft von der Arbeit, die Treppe zu seiner mittelgroßen Vier-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines hellgrauen Hochhauses, auf halber Strecke ungehemmt schwitzend und im ganzen Haus hörbar keuchend, erklomm. In Vorfreude auf das baldige Ende seines mühsamen Aufstiegs ließ er den Schlüsselbund bereits kurz nach Passieren des zweiten Stockwerks mit heftigem Gerassel aus der Versenkung der tiefen Hosentasche ans Tageslicht kommen. Die Hosentasche war in der Tat sehr tief. Hätte er gewollt, hätte der wohlhabende Herold darin neben seinen Schlüsseln auch seine Geldbörse, sein Fresspaket und sein Allzwecktaschenmesser gleichzeitig unterbringen können, ohne dass auch nur eines dieser Dinge zum Vorschein gekommen wäre. Aber der schwerfällige Herold wollte seinen Zweieinhalb-Zentner-Körper nicht noch dadurch zur Geltung bringen, dass er ihn zusätzlich verbreiterte, wenngleich sein Gewicht nicht weniger der goliathartigen Größe als dem voluminösen Umfang zu verdanken war. Ja, der brummelige Herold war in beide Richtungen ein mächtiges Gegenüber: für den Halbwüchsigen, der an ihm emporschaute und für den Dürren, dessen Blickwinkel für Herolds Massivität gerade ausreichte.
So trugen die armen kleinen Schuhchen den kaum dankbaren, aber sich nie beschwerenden Herold wie alle Tage die letzten Stufen zur Wohnung hinauf und brachten ihn, endlich auf der höchsten Ebene der heutigen Strecke angekommen, ohne weiteres Abmühen ins gemütliche Innere.
Natürlich hatte der gar nicht mal so dumme Herold mit der Zeit gelernt, dort zu sparen, wo es ihm sinnvoll erschien. Also machte er auf seinem Weg in Richtung Wohnzimmer einen zunächst unsinnig erscheinenden Abstecher in die Küche, öffnete den sich auf Gesichtshöhe befindenden Wandschrank und zog fluchend die einsam daliegende Plastiktüte aus ihrem Versteck, die in etwa der Fläche seiner Hand entsprach. Fluchend deshalb, weil es die verdammt nochmal letzte Packung war und er bei seiner nächsten Heimkehr in die Wohnung einen mindestens fünf Minuten dauernden Umweg über den Süßwarenladen machen musste.
Sein Ziel, das Wohnzimmer, erreichte er ohne weitere Vorkommnisse, was ihn mit der Hoffnung erfüllte, dass er auch beim Wählen des Fernsehprogramms ein gutes Händchen haben würde. Wobei Händchen eigentlich untertrieben ist. Die monströse, dunkelbraun behaarte Pranke des fülligen Herold tat sich äußerst schwer damit, zielgenau eine der für ihn so ungeeignet geschaffenen Zahlen auf der Fernbedienung zu treffen. Insofern war es in der Tat ein Glücksfall, wenn er ein Programm erwischte, das ihm nicht missfiel. Schließlich war er am Ende seiner Tagesreise angekommen und würde den restlichen Tag an diesem nun eingenommenen Platz auf dem Sofa verbringen, ebenso wie die Nacht. Das Einzige, was an diesem Tag noch in Bewegung sein sollte, war das einundzwanzig Zoll große, in bunten Farben schwelgende Fernsehbild, dessen Geschehnisse Herolds restlichen Tag gestalteten.
Welche Nummer auch immer er erwischt hatte, heute hatte sein breiter Zeigefinger ein denkbar unangenehmes Programm angestoßen: drei auf Sesseln sitzende Männer und ein Moderator. Das Bewegungsreichste an der Szene war der von Mal zu Mal unten vorbeilaufende Schriftzug „Abtreibung – Mord oder verantwortungsvolle Maßnahme?“. Schon bald hörte der uninteressierte Herold nicht mehr hin, was der Experte des Uni-Klinikums, Dr. med. Harald Leinenfrei an medizinischen Sicherheiten bei seinen Abtreibungsmaßnahmen anpries. Ebensowenig fielen ihm Hochwürden Dr. theol. Fricks Worte auf, welcher behauptete, die Abtreibung sei ein Verbrechen an Menschen, die man noch nicht sehe.
Was kümmerte das den sorglosen Herold, dessen ganze Aufmerksamkeit nun dem Plastikpäckchen auf seinem Schoß galt? Nicht dass er viel Anstrengung dazu hätte aufwenden müssen; aber der Augenblick des Aufreißens, das Erblicken der kleinen essbaren Gummistückchen in der Tüte war ein spannender Moment. Mit zwei Fingern packte er die Oberseite der goldenen Packung. Ein impulsiver Riss genügte, um eine Öffnung zu schaffen, den nutzlosen Fetzen Plastik wegzuwerfen und die Finger ins Innere des soeben gelüfteten Gefängnisses stecken zu können.
Ein Rotes packten sie zuerst, zogen es an den Beinen heraus und hielten es Auge in Auge vor Herolds Gesicht.
„So, ihr Süßen Kleinen. Jetzt werde ich euch restlos vernaschen.“ Der Mund wurde zu einer riesigen Öffnung, gelbliche Zähne mit noch gelberen Rändern machten sich bereit, den roten Kopf von seinem Rumpf abzutrennen. Gerade in diesem so genüsslichen Moment drang eine schrille Stimme an das Ohr des verwunderten Herold.
„Halt! Einen Moment noch!“
Ja, verwundert war er und nicht nur das, er riss schockiert die Augen auf und den Mund noch weiter.
„Wie war das?“
„Du hast mich doch gehört. Ich habe nur eine Frage an dich“, kam die Stimme eindeutig von dem knuddeligen Gummiköpfchen. „Es wäre nur fair, mich diese Frage formulieren zu lassen.“
Jetzt war der restlos überforderte Herold ohnehin nicht mehr in der Lage, sein Vorhaben zu Ende zu führen. Stattdessen ließ er seine Augen bald wieder auf Normalgröße schrumpfen, ohne sie aber von der seltsamen Erscheinung abzuwenden. Ebenso fand auch sein Mund wieder eine entspanntere Stellung. Der schwitzende Herold hielt das klebrige Tierchen an den Beinen fest umklammert weiter vor sein Gesicht und dabei ergab sich folgender interessante Dialog:
„Widerspricht es nicht deinen humanen Grundsätzen, mich aufzufressen?“, rückte das Gummibärchen nun mit der Frage heraus.
„Humanen Grundsätzen?“
„Sag bloß, davon weißt du nichts.“
„Ich habe keine Grundsätze aufgestellt.“
„Nein. Aber du hast sie doch. Ihr alle habt sie.“
„Was willst du eigentlich?“
„Ich fordere nur, dass man mich gerecht behandelt.“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Das ist mir schon klar. Es stört dich, dass ich überhaupt rede.“
„Nicht die Spur.“
„Warum nimmst du mich dann nicht ernst?“
„Ich nehme dich nicht ernst?“
„Du würdest keinem Menschen etwas zu Leide tun. Aber mich willst du zwischen deinen Zähnen zermalmen, ohne darüber nachzudenken.“
„Das ist etwas anderes.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Du... du bist ein Gummibärchen, verdammt.“
„Und was ist daran nun anders?“
„Du bestehst... nur aus Knochenmaterial und irgendwelchen Chemikalien.“
„Und du fast nur aus Wasser. Ist dir bewusst, dass man dich in eine Gummibärchentüte stecken könnte, wenn man alles Wasser aus dir heraussaugen würde?“
„Du bist ekelhaft.“
„Ist es nicht auch ekelhaft, Knochen mit Chemikalien zu futtern?“
„Man merkt das nicht.“
„Und jetzt? Merkst du es jetzt?“
„Ja. Und das macht mich ziemlich sauer. Du hast mir den Appetit verdorben.“
„Weil ich dich daran erinnert habe, dass du Knochen mit Chemikalien in dich hineinstopfst?“
„Nein. Weil... du weißt schon, was ich meine.“
„Da muss ich ja ein ganz schön schlechtes Gewissen haben. Es tut mir leid, wenn ich meine Ansprüche auf Humanität bei dir angemeldet habe.“
„Zu spät. Du hast es mir schon verdorben.“
„Nein, nein, nein. Lass dich bitte nicht aufhalten. Du hast noch eine ganze Packung vor dir. Ich wollte nur mal meine Meinung sagen. Ab jetzt kannst du wieder machen was du willst. Und ich werde schweigen; so wie es sich für ein Gummibärchen gehört.“
Für den Rest des Abends war es dem perplexen Herold nicht mehr möglich, sein Vorhaben fortzusetzen. Er entließ das vorlaute und jetzt wieder stumme Tierchen aus seiner Umklammerung und gesellte es zu dessen wild durcheinander liegenden Kollegen. Deren Behausung wiederum legte er unter das durchgebogene Sofa, auf dem er nun beschloss, vorzeitig seinen Schlaf anzutreten. Sicherlich war dies dadurch motiviert, dass der ohnehin schon übermüdete Herold sich von dem Schlaf erhoffte, die eben erlebte Begebenheit in Vergessenheit geraten zu lassen. Vielleicht, so dachte er und schloss dabei die Augen, würde er schon morgen früh seine seltsamen Bedenken verloren haben und sein Vorhaben weiter umsetzen können. So dachte er und schlief ein, noch ehe – und das konnte mir mein Freund freilich nicht mehr selbst erzählen, sondern ich musste es alleine herausfindern – der Morderator im Fernsehen folgenden Satz sagen konnte: „Ich hoffe, auch unsere heutige Sendung hat Ihnen, meine lieben Zuschauer, wieder deutlich gemacht, dass unsere Gesellschaft die Frage nach der Abtreibung ernst nimmt.“
 
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Kommentare  

bisschen arg hochgestochen und ausführlich und viel zu lange Sätze.

 (07.02.2007)

Hey Timo, alter Germann-ist ;-)! Coole Geschichte ist das hier, herrlich ironisch. Im Zeitalter ethisch-moralisch bedenklicher Fragen wie Abtreibung wirft ein Gummibärchen humanitäre (!!!) Vorwürfe an einen fettleibigen Menschen . Ich finde deine Geschichte zeigt gut, dass wir uns in unserer Gesellschaft viel zu sehr mit nebensächlichen Fragen beschäftigen. Das Gegenteil karikierst du sehr gut, auch wenn man zweimal nachdenken muss!

Peter K. (04.12.2006)

Ich hab die Geschichte inzwischen mehrmals gelesen, aber mit dem Bewerten tue ich mich dieses mal richtig schwer. Später vielleicht.

Bernd W. (02.10.2006)

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