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3 Seiten

Der Schutzengel

Nachdenkliches · Kurzgeschichten
Dieser Tag würde anders werden. Definitiv würde dieser Tag anders werden. "Natürlich", phlisophierte er,"liegt es in der Natur der Sache, dass jeder Tag anders ist, als der vorherige. Aber ich werde an dieser heutigen Differenz aktiv mitwirken." Aktiv mitgewirkt hatte er schon lange nicht mehr.

Nicht in seinem Beruf, denn seine Arbeitsstelle war ihm vor einem halben Jahr gekündigt worden. Nicht in seiner Beziehung, denn die hatte sich vor drei Monaten als nicht mehr durchführbar erwiesen. Immerhin, er hatte es geschafft, dieses Mal in einer solchen Situation nicht durchzudrehen. Er hatte sich völlig emotionslos eine Zeit lang "körperlich abgelenkt", seinen Schmerz, die Trauer und den Hunger nahezu mechanisch abgerieben, sich schließlich, nachdem er eine Weile in einer WG gelebt hatte, eine eigene Wohnung gesucht und angefangen, alleine zu leben.

"Noch so eine Sache", sinnierte er, "Leben tut man fast immer von alleine. Da müßte man schon aktiv Hand anlegen, um das zu ändern": Er schmunzelte bei dem Begriff "Hand anlegen" - für diese Tätigkeit hatte er inzwischen ein ganzes Lexikon von Synonymen erdacht. Ja, mit Texten und Worten kannte er sich aus. Das hatte er schließlich mal beruflich gemacht. Redakteur, Texter, Content-Manager. Er fand es immer noch erstaunlich, was die Leute bereit waren, für ein paar gute Sätze zu zahlen. ""Waren"", stellte er fest, "korrekte Zeitform". Ja, diese Zeit war für ihn vorbei. Naja, und auch seine Ersatzbeschäftigung, nach der Trennung herzzerreissende "Komm zurück"-Briefe zu schreiben, hatte sich spätestens erledigt gehabt, als seine verflossene Herzensdame diese nur noch ungeöffnet zurück schickte.

Seitdem machte er gar nichts mehr, außer zu Leben, korrekt ausgedrückt: Am Leben zu sein. Denn auch sein gesellschaftliches Agieren hatte er planmäßig nach und nach abgebaut, sytematisch die letzten Kontakte vergrault. Nein, an dieser entscheidenden Veränderung sollten sie alle nicht so aktiv teilhaben. Das Ergebnis würde sie alle wundern, schockieren - aber das wäre ihm dann ja egal. Niemand sollte ihm vorwerfen können, er habe andere mit hinein ziehen wollen. Nein,diese Sache würde er komplett alleine zu Ende bringen. "Hach, heute habe ich es aber auch wieder mit den Wortspielen" griente er, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Das passte nun so gar nicht in seinen Plan. Die Neugier trieb ihn aber doch an die Tür, er öffnete und fand eine kleine Frau vor der Tür stehen. "Guten Tag Herr..." - die knapp 70-Jährige linste nach seinen Türschild - "Bothinger. Ich komme von der Kirchengemeinde und soll bei Ihnen einmal nach dem Rechten sehen!" Sie lächelte herzlich. "Verdammt", dachte er, und es dämmerte ihm. Er hatte schon seitdem er in diese Wohnung gezogen war, vorgehabt, den Namen abzunehmen. Der war nämlich nicht seiner, sondern gehörte zu dem uralten Greis, den man mit den Füßen zuerst aus dem Appartement geschoben hatte. Seinem Vormieter.
"Oh, das ist nett, kommen Sie doch rein", hörte er sich sagen und trat einen Schritt zurück. Mit wenigen schnellen Handgriffen verstaute er das Seil und die bereit gelegten Schlaftabletten im Flurschrank.

Die Dame stellte sich als Frau Duckert und noch voll auf geistiger Höhe heraus. Er hatte kaum mit seiner Erklärung zur Namensverwechslung angesetzt, da hatte sie ihn unterbrochen und milde lächelnd erklärt, sie wisse Bescheid.
"was wollen Sie dann von mir?" platzte es aus ihm heraus. "Nun", entgegnete sie, "ich wohne seit einem Jahr über ihnen und habe sie beobachtet. Eine verwitwete Frau in meinem Alter hat nicht mehr viel zu tun und kaum noch Unterhaltung, da kommt man auf wunderliche Hobbys. Ich beobachte Leute. Sie waren eine harte Nuss, verhielten sich so gar nicht, wie man es von jungen, alleinstehenden Männern gewohnt ist.Das hat mich neugierig gemacht. Und wissen Sie, was mich zu Ihnen geführt hat? Junger Mann, sie verhalten sich, wie eine alte, verwitwete Frau, die nichts mehr mit sich anzufangen weiß. Wie wollten Sie es denn probieren? Schlaftabletten?"
"Woher...ich hatte nie vor..wie kommen Sie..." stotterte er. "Entspannen Sie sich, in meinem Alter nennt man sowas schon nicht mehr Intuition, sondern Lebenserfahrung" konterte die alte Frau.
Nach einem rund zwei Stunden langen Gespräch hatte er schließlich Kaffee aufgesetzt und ein paar Kekse aus dem Schrank geholt. Dieser Tag war anders, komplett anders. Er war seinem Schutzengel begegnet. Er sollte diesen fortan Erni (von Erna, aber das klang der resoluten Seniorin zu altbacken) nennen.



© Brennender Junge
 
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Kommentare  

hmmm... seltsam aber gut^^

darkangel (18.01.2007)

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