29


3 Seiten

Geräusche auf dem Dach (Jene, die bleiben)

Fantastisches · Kurzgeschichten
© Holmes
Der Blick über die Dächer war berauschend. Direkt vor ihrem Gesicht begann das Dunkel, nur durchbrochen von einzelnen Fenstern, die zu dieser nachtschlafenden Zeit noch beleuchtet waren. Der Mond, heute müdeweiß hinter leichten Wolken versteckt, beleuchtete die Szene nur widerwillig, man sah ihm an, dass er zurückwollte in sein Dunkel und der Lauf über den Himmel heute mehr Qual als Vergnügen war.
"Wirklich ein wunderschöner Ort. Wie hast du dieses Plätzchen gefunden?" Sie schnurrte leicht, als sie den Kopf in seine Richtung drehte. Die Augen hell und wach.
"Das war mehr Zufall denn gewollt. Eigentlich bin ich nicht gerade der Streuner, doch als wir hier gerade eingezogen waren, stand ich öfters mal vor der falschen Türe. Wir hatten vorher eine Wohnung ein Stockwerk höher, und man gewöhnt sich ja sehr schnell an die Anzahl der Stufen. Nunja, irgendwann öffnete sich diese Tür und ein Mitbewohner kam heraus, ich aber huschte im Glauben, unsere Wohnung zu betreten hinein in den Speicher. Da saß ich dann, bis ich das offene Fenster entdeckte... und voilà, hier sind wir. Aber ich dachte mir, dass es dir gefallen wird."
Er rückte ein Stückchen näher an sie heran, bis sich beinahe ihre Schnurrhaare berührten.
"Ich hoffe, ich trete dir nicht zu nahe, aber ich würde dich gerne etwas fragen. Ich habe mich gestern mit Marie unterhalten."
"Ach, dieses Geschwätzige Tier", sie lachte leise auf, "aber frag nur, was du fragen möchtest."
"Sie erzählte mir etwas über deine Familie. Über deine ältere Schwester. Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hattest."
"Sie hieß Lisa, sie war ein wundervolles Wesen, aber sie ist schon seit langer Zeit in der anderen Welt."
"Das war bestimmt schwer für dich, sie zu verlieren."
"Ja, natürlich. Meine Familie kam zu mir, da war Lisa gerade 4 Jahre alt geworden. Ich war noch eine Jungkatze von ein paar Wochen, oh, ich war ein sehr ungeschicktes Wesen. Ich weiß noch, jedesmal, wenn ich stolperte oder aus versehen etwas herunterwarf, machte Lisa mit, damit ich mich nicht schämen musste. Sie wollte lieber genauso tappsig sein, als eine Schwester haben, die sich ständig aus Scham verkroch. Wir waren uns sehr ähnlich.
An unserem ersten Tag hatte sie Geburtstag, doch war ihre Freude über das bunte Fest getrübt. Sie vermisste ein Familienmitglied namens Bastian, leider habe ich ihn nie kennen gelernt, aber er muss ein sehr nettes Wesen gehabt haben. Doch meine Zeit mit Lisa war von sehr kurzer Dauer, nur eineinhalb Jahre später verließ sie uns."
"So jung war sie...?"
"Ja, leider. Und ich wünschte, es wäre anders geschehen. Lisa wurde nur ein paar Monate nach unserer ersten Begegnung ein ganz anderer Mensch. Weißt du, sie liebte es, mit mir durch den Garten zu toben. Wir spielten "Versteck dich" und "Fang mich", tollten ausgelassen über das Gras und lagen stundenlang auf der Wiese und ließen uns die Sonne auf den Pelz scheinen. Aber plötzlich ging es ihr nicht mehr so gut, sie hatte Husten, glühte förmlich unter ihrer Decke, hielt sich in ihren Fieberträumen immer wieder an mir fest. Ich verließ ihr Bett nur, wenn ich etwas essen oder die Streukiste aufsuchen musste, ich wachte und schlief neben ihr, immer bereit, unsere Eltern zu alarmieren, sollte etwas passieren. Und eines Nachts war es dann so weit. Ich spürte, dass sich etwas änderte, sie roch anders. Du kennst diesen Geruch, den todesnahe Exemplare unserer Arten ausstrahlen, dieses Sehnen nach dem Ende? Genau dies nahm ich bei ihr war, da wurde sie gerade 5 Jahre alt.
Ich verließ ihr Lager, zum ersten Mal seit Wochen betrat ich das Zimmer unserer Eltern. Ich weckte unseren Vater, er begriff zum Glück recht schnell, dass ich ihn nicht verletzen wollte und folgte mir. In dieser Nacht sah ich Lisa zum letzten Mal. Ich bekam zwar durch unsere Eltern mit, dass sie noch lebte, doch wusste ich, dass es sich nur um einen letzten Aufschub vor dem Ende handelte. Es dauerte Wochen. Zwei, drei Monate. Immer, wenn unsere Eltern nach Hause kamen, mit stechendem Geruch umhüllt, saß ich auf der Treppe gegenüber der Eingangstür, sah ihnen zu, sah die Trauer, die Angst und vor allem den Schmerz. Sie hofften auf eine Besserung, immer wieder redeten sie über Lisas Zeit nach dieser Krise, wie sie es nannten, wie gerne hätte ich sie auf das Kommende vorbereitet, doch ich konnte es nicht. Und doch kam natürlich irgendwann der Tag, an dem sie es begriffen. Sie kamen zur Tür herein, und ich erkannte sofort, dass es geschehen war. Ihre Augen waren voller Tränen und vor allem Verzweiflung. Ich zog mich zurück, ließ ihnen Zeit, diesen Schmerz zu verarbeiten, doch die Folgen spürt man bis heute, auch wenn ich mich bemühe, für beide ein Ansprechpartner zu sein. Mutter spricht seit diesem Tag nahezu nicht mehr und Vater... er riecht nach anderen Weibchen. Ich bin froh, dass ihre Nasen nicht so gut sind wie unsere, sonst hätte Mutter es bestimmt gemerkt. Aber seit damals lebt sie sehr zurückgezogen, schreibt oder malt, aber nie sieht man sie lächeln, weder ihre Lippen noch ihre Augen. Sie ist an diesem Tag ebenfalls gestorben."
"Deswegen hängst du so an deiner Familie."
"Ich könnte sie nicht auch noch verlassen. Bastian und Lisa, das ist genug. Ich habe immer darauf Acht gegeben, mich nicht zu verletzen oder zu erkranken, ich möchte noch möglichst lange für sie da sein. Daher verzeih mir bitte, ich mache mich auf den Rückweg. Mutter ist immer sehr früh wach, und ich möchte neben ihr liegen, wenn sie die Augen öffnet. Aber ich treffe mich morgen gerne wieder mit dir, auch gerne wieder hier, vielleicht sieht der Mond dann auch etwas freundlicher aus." Sie lachte leise.
"Sehr gerne, ich warte hier auf dich. Gute Nacht, Violet." Er küsste sie sanft.
"Gute Nacht, Sebastian. Bis morgen." Sie ging behutsam entlang der Regenrinne zu dem kleinen Fenster.
"Achja, Violet, noch eine Frage... wieso trägst du eigentlich diesen Namen?"
Ihre Augen spiegelten das trübe Licht erstaunlich klar wider. "Lila war Lisas Lieblingsfarbe. Sie konnte sich nie zwischen Rot und Blau entscheiden."
"Danke. Angenehme Träume, Liebste."
"Wünsche ich dir auch.", und ihre Schwanzspitze verschwand in der Öffnung.
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Noch keine Kommentare.

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Baaras Freundin  
Ebenholz  
ground zero  
Szene I  
sorry, it was me... was I thinking out loud?  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De