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16 Seiten

Lilly (Kapitel 13)

Romane/Serien · Fantastisches
Seit weniger als einer Stunde war Adam wieder in der Klinik zurück. Nach fast zwei Tagen Dauereinsatz fand er endlich ein paar Stunden um nach Hause zu gehen um zu schlafen. Zu Hause wartete zwar auch viel Arbeit auf ihn, aber das musste eben warten. Sein Beruf duldete keinen Aufschub, ständig war er bemüht, seinen kleinen Patienten beizustehen um sie zu heilen. Es war eine wahre Berufung für ihn, er konnte gar nicht anders. Wonach er gesucht hatte, das hatte er auch gefunden: einen Job, für den man seine eigenen Bedürfnisse vollkommen zurückstellte. Das war der Hauptgrund, warum ihn seine Frau Pia vor zwei Jahren über Nacht verließ. Monatelang vorher sprach sie ihn immer wieder darauf an, wo denn ihr Privatleben bliebe. Wollte er eigentlich eigene Kinder haben, oder genügten ihm die fremden Kinder in der Klinik? Sie wusste es nicht und sah auch kaum einen Sinn darin, ihn dies zu fragen. Wie auch immer seine Antwort ausgefallen wäre, es hätte sie nur noch mehr betrübt. Bei einem Nein wusste sie wenigstens, dass sich ihr Kinderwunsch nicht mit diesem Mann erfüllen ließe und bei einem Ja konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob es sie und das Kind glücklich gemacht hätte. Schließlich würde Adam Mendelbaum weiterhin so sehr mit seiner Arbeit beschäftigt sein, dass Pia noch immer der Mann fehlte und zusätzlich dem Kind noch der Vater. Das wollte sie weder sich noch dem ungeborenem Kind zumuten. Insofern packte Pia ihre sieben Sachen und zog aus. Zunächst zu ihrer Mutter, aber das Wichtigste war, dass sie ihm so die Ernsthaftigkeit ihrer Lage bewusst machte. Immer wieder rief er bei ihr an, bekam aber nur die Mutter ans Telefon, die ihm zu verstehen gab, dass Pia unabkömmlich war. Er konnte sich gut denken, dass sie im Hintergrund darauf wartete, bis er auflegte, aber gab immer wieder nach. Bis er irgendwann gar nicht mehr anrief. Pia war sich sicher, dass er die ganze Zeit über, die ganzen fünf Jahre Ehe und die weiteren drei Jahre Bekanntschaft zuvor, nur mit seiner Arbeit liiert war, nicht aber mit ihr.
Was auch immer Pia damals vor zwei Jahren wollte, er wusste es einfach nicht. Sie verpasste ihm einen Denkzettel, in dem sie auszog, mitten in der Nacht ohne ein Sterbenswörtchen. Na klar, sie hatte mehrfach erwähnt, dass sie so nicht weitermachen konnte, wie die Ehe derzeit lief. Aber schließlich hatte er ihr doch versprochen, dass es sich bessern würde, dass es nur im Moment so war. Leider vergaß er dabei immer, dass er schon vor vielen Jahren so redete und bis zuletzt nicht damit aufhörte. Nun war sie ausgezogen, aber wollte sie ihn wieder zurück? Wollte sie, dass er zur Besinnung kam und sich ernsthaft mit seinen Prioritäten auseinander setzte? Wenn das ihre Absicht war, warum ließ sie ihm keine Chance, ihr seine Fortschritte mitzuteilen? Es war doch gut möglich, dass er sich geändert hatte und nun seine Pia wieder zurückkommen konnte, doch wie sollte sie davon erfahren, wenn man ihn bereits am Telefon abwürgte? Er konnte ja schließlich nicht die 200 Kilometer bis nach Frankfurt rauf fahren, nur um dann an der Tür genauso behandelt zu werden, wie am Telefon.
Adams Gedanken kreisten noch heute, zwei Jahre und drei Monate nach der Trennung um dieses Thema. Nicht mehr allzu oft, aber ihn überkam jedes Mal, wenn er nach einer langen Schicht nach Hause kam um sich auszuruhen, dieses seltsam vertraute Gefühl, nicht alleine zu sein. In der Anfangszeit murmelte er beim Betreten des dunklen Schlafzimmers eine einstudierte Entschuldigung, wieso er schon wieder so spät aus der Klinik kam, doch niemand war da, der knurrend darauf reagieren konnte. Er hatte kurzzeitig vergessen, dass Pia schon längst nicht mehr da war. So ähnlich erging es ihm auch in dieser Nacht, als er gegen halb zwei zu Hause ankam. Er betrat das Schlafzimmer, fröstelte aufgrund der geistigen Gegenwart seiner Ex-Frau und legte sich zu Bett. Im Gedanken entschuldigte er sich manchmal noch heute, aber nicht wegen des Zuspätkommens, sondern wegen der ganzen Unannehmlichkeiten, die sie all die Jahre seinetwegen erdulden musste. Es war ihm nun klar, was er ihr und der gemeinsamen Ehe angetan hatte. Wie einsam musste sie sich gefühlt haben, in der achtjährigen Beziehung?
Lange dachte Adam allerdings nicht über sein Leben und Pia nach, denn er war hundemüde. Das letzte woran er dachte, war seine Arbeit. Dafür lebte er nun mal und da Pia nun schon lange nicht mehr bei ihm war, blieb ihm auch nichts anderes übrig, für das er lebte. Frauen waren nicht so seine Stärke, aus irgendeinem Grund verliebte er sich zwar schnell in sie, konnte sie aber nicht lange bei sich halten. Immer wieder waren sie anfangs von ihm, dem kinderlieben Wunderheiler beeindruckt, wie er sich mit aufopfernder Hingabe den kranken Kindern widmete, wenn es aber ernst wurde, verschreckte er sie immer mehr mit der Einsamkeit, in der er die Frauen dann zurückließ. Bis auf Pia, sie blieb lange genug um zu erkennen, dass auch Adam unter der Stillstand-Ehe litt, aber irgendwie nicht aus seiner Haut konnte. Sie verstand das, wollte ihn aber ändern. Leider war sie nicht stark genug dafür und somit traf sie die schwere Entscheidung, ihr Glück mit einem anderen Mann zu suchen. Alles was Adam bis zuletzt noch mitbekommen hatte, war, dass Pia einen neuen Kerl kennen gelernt hatte, mit dem sie vor einem halben Jahr zusammen gezogen ist. Ob sie über eine Heirat redeten, wusste er nicht, war ihm aber auch egal. Er wünschte ihr nur alles Gute und dass sie bekam, wonach sie suchte, denn sauer war er nicht auf sie. Sie hatte ihn zwar sitzen lassen, aber er konnte sie verstehen. Wenn sich Adam in Pias Lage hineinversetzte, dann hätte er sich auch sitzen gelassen.
Trotz der Müdigkeit schlief Adam nur sehr schwerlich ein und wachte wenig erholt wieder auf. Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust aufzustehen, aber er zwang sich darum. Schließlich war heute der Tag, an dem die Untersuchungsergebnisse der kleinen Lilly Jenssen kamen. Ach, kleine Lilly, was dir wohl fehlen mochte?
Und schon hatte Adam wieder etwas in seinem Leben, was ihn ablenkte. In letzter Zeit wurden die Gedanken und damit auch die Selbstvorwürfe wegen Pia wieder lauter, aber seitdem die kleine Lilly in sein Leben trat, war er wieder hochkonzentriert. Es wünschte sich zwar wieder eine Frau in seinem Leben, aber nicht unbedingt eine so kleine. Bei diesem Gedanken musste er lachen. Es traf ihn aber auch immer hart. Alles wofür er sich interessierte, war die Arbeit und auch alle weiblichen Wesen, die ihn beschäftigten, traf er dadurch. Seien es nun Ärztinnen, Krankenschwestern oder wie in diesem Fall Patientinnen.
Lilly…. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dir? Was wollen deine Eltern mir verschweigen? Adam hoffte so sehr darauf, dass die Blutuntersuchungen oder die Aufnahmen des Röntgens oder der Computertomographie irgendetwas ergaben. Irgendeine Spur, der er nachgehen konnte, wie ein Ermittler. Die Medizin war aber auch manchmal wie ein Krimi. Der Patient ist das Opfer, ferner noch ein Organ in dessen Inneren. Der Täter ist erstmal unbekannt, es werden alle möglichen Erreger, Viren oder dergleichen in den Kreis der Verdächtigen eingebunden. Nach und nach wurde dieser Kreis enger, je mehr Beweise er sammelte. Diese Beweise, Untersuchungsergebnisse, Röntgenbilder oder die Symptome, führten ihn irgendwann zur Lösung des Rätsels und isolierten so den Täter. Anders als in der Tatortermittlung konnte in der Klinik das Opfer gerettet werden. Schließlich war das Opfer nur ein krankhaftes Organ und keine erdrosselte Leiche.
In Lillys Fall war gleich das ganze Mädchen das Opfer und der vermeintliche Täter überall zu suchen. Und dann waren da noch die Eltern, die Komplizen des Täters, vielleicht sogar die Täter selbst. Es blieb nur zu hoffen, dass die Unterlagen, die Adam aus dem Krankenhaus über die Eltern anforderte, einen Hinweis auf seine Theorien hatten, beziehungsweise seine Theorien bestätigten. Waren Tanja und Mark vielleicht nicht die leiblichen Eltern des Kindes, sondern vielmehr deren Entführer? Stieß Lilly, sofern dass denn auch ihr Name war, etwas Schreckliches bei diesen Leuten zu, dass sie so krampfen ließ? Irgendwie ergab diese Theorie auch keinen Sinn. Wer wäre denn so blöd gewesen und brächte ein entführtes Kind in eine Klinik? Es müsste den Leuten doch klar sein, dass man die wahren Umstände so herausbekommen konnte. Deswegen hatten sie die beiden im Zimmer gestritten. Er brachte das Kind aus Panik in die Klinik und sie war partout dagegen, um das Geheimnis zu wahren. Vielleicht wäre sie sogar soweit gegangen und hätte den Tod des Mädchens in Kauf genommen, nur um nicht ins Gefängnis zu gehen. Auf der anderen Seite jammerte das Kind auch oft nach den beiden, aber Mama und Papa hießen ja noch Millionen andere Menschen.
Adam frühstückte wie so oft nur einen Bagel mit Schinken und Käse belegt und dazu einen extra großen, doppelt gesüßten Kaffee beim Bäcker vor seiner Wohnung. Er wohnte nur wenige Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt und nahm die Strecke daher immer zu Fuß. Den Bagel aß er im Stehcafé des Bäckers und den Kaffee nahm er so mit und trank ihn auf dem Weg. Beim Rausgehen klemmte er sich hin und wieder eine Tageszeitung unter den Arm und ließ es auf die Rechnung setzen. Da man den Arzt schon gut kannte und er zu den hartnäckigen und alteingesessenen Stammkunden zählte, gewährte man ihm eine Liste, auf der seine Ausgaben vermerkt wurden. Bezahlt wurde die Rechung immer um den ersten jedes Monats herum. Das wurde deswegen eingeführt, weil Adam desöfteren beim Frühstück die Zeit vergaß und schnell weg musste. Wenn er dann noch die eine oder andere Zeitung brauchte oder den Coffee-to-go nicht bezahlte weil er zur Tür hinaushetzte, schrieb man irgendwann diese Liste. Bisher hatte auch nur er das Privileg einer solchen Liste, denn auf die pünktlichen Zahlungen konnte die kleine Bäckerei sich verlassen, wie auf das Amen in der Kirche.
Diesen Morgen lag Adam Mendelbaum aber gut in der Zeit. Gemütlich spazierte er die Straßen entlang und überquerte dann die große Kreuzung vor dem Krankenhaus. In der gleichen Gemütlichkeit legte er seine Klinik-Kleidung an und nahm in seinem Sessel in seinem Büro Platz. Dort leerte er seinen Kaffee und überflog die Schlagzeilen seiner Zeitung. Obwohl er die Zeitung nicht wirklich durchlas, war er zu vertieft in die Lektüre, als dass er die Untersuchungsergebnisse, die Aufnahmen des Kindes und die Unterlagen der Eltern nicht bemerkte, die auf seinem Schreibtisch auf ihn warteten. Mario hatte sie ihm zwei Stunden zuvor dorthin gelegt, als er seinen Frühdienst begann. Er war derjenige, der sein Auto am Hintereingang parkte, wo sich auch der Briefkasten befand. Das brachte ihm den Status des hausinternen Briefträgers ein, aber er tat es gerne.
Es war gerade neun Uhr. Als Arzt im regulären Dienst war es nicht nötig um sieben Uhr oder eher anzufangen, wie es der Frühdienst des Pflegepersonals tat. Bei der allmorgendlichen Visite gegen zehn Uhr waren seine Dienste erst gefragt, vorher konnte er sich ein wenig auf die Patienten vorbereiten. Bei Kindern war das glücklicherweise ein etwas lockererer Prozess, da hier kaum große Chefarztvisiten nötig waren. Bei einer üblichen Visite wurden mit dem Patienten und dem Pflegepersonal die Ergebnisse der letzten Untersuchung und die kommenden Maßnahmen besprochen und über Risiken der Operationen beraten. Kindern brauchte man das nicht zu erklären, da man sie entweder mit dem ganzen Ärztekauderwelsch überforderte, oder man ihnen einen Schreck einjagte. Deswegen waren die Visiten mehr eine Vitalzeichenkontrolle und Adam teilte den Kindern immer noch ein bisschen was mit, was man über die jeweilige Krankheit erfahren hatte. Aber meist nur die guten Neuigkeiten. Die ausführliche Besprechung fand dann üblicherweise erst mit den Eltern statt und ohne das Kind. Ausgenommen ältere Kinder oder Jugendliche, die schon sehr genau über ihren Zustand Bescheid wussten. Denen erläuterte Adam auch die Bedeutung der Ergebnisse, mochte die nun positiv oder negativ sein. Er hatte da erst vor wenigen Wochen ein vierzehnjähriges Mädchen wegen Krebs behandelt, deren Zustand dermaßen schlecht war, dass eine vollständige Heilung ausgeschlossen war. Sie wollte immer gleich alles wissen und hörte eifrig und tapfer zu, wenn Adam ihre Chancen auf Heilung auf Null Prozent, die Chancen auf das Erreichen eines hohen Alters auf zehn Prozent und die Chancen, die Schule zu beenden auf immerhin fünfzig Prozent errechnete. Sie selbst war stark entschlossen, eigene Kinder zu haben und im Lotto zu gewinnen, um anderen Krebs kranken Kindern die Chance auf Heilung zu verbessern oder ihnen mindestens den Rest ihres Lebens so angenehm wie möglich zu machen. Dieses Kind hatte das Herz am rechten Fleck, manch ein Erwachsener konnte sich eine dicke Scheibe von ihr abschneiden. So jemanden, der in so jungen Jahren eine dermaßen positive Einstellung zum Leben und zu den Menschen hatte, traf Adam nur sehr selten. Er schloss sie richtig ins Herz, denn sie war auch eine der wenigen Patienten gewesen, mit denen er sich über das Normale hinaus befasste. Einige Male besuchte sie ihn in seinem Büro und sie redeten und redeten. Teilweise mehr als eine Stunde. Danach fühlte er sich immer mit neuer Energie aufgetankt und irgendwie lebensmutiger. In ihr fand er eine Freundin, ganz gleich wie alt sie war. Deswegen traf es ihn wie ein Schlag, dass sie einen Tag nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus ganz plötzlich starb. Sie war soweit stabilisiert worden und brauchte erst in sechs Wochen zur nächsten Behandlung wieder kommen. Doch aus einem unerfindlichen Grund gab es Komplikationen und der Tumor, der sich in ihrem Gehirn ausbreitete, drückte auf diverse Nerven. Ihre Mutter besuchte Adam an diesem Nachmittag in seinem Büro und schilderte ihm den Hergang der Ereignisse. Zuerst wurde ihr wie immer schlecht wegen der Chemotherapie, die sie im Krankenhaus bekam. Als sie dann aber binnen vier Stunden vollkommen das Augenlicht verlor, wussten sie, dass etwas nicht stimmen konnte. Leider konnte die Mutter nicht mehr rechtzeitig reagieren, denn als sie den Entschluss fasste, ihr Kind ins Krankenhaus zu bringen, begann sie schon aus der Nase und dem Mund zu bluten und brach dann ohnmächtig zusammen. Eine viertel Stunde später war sie auf dem Parkplatz der Klinik angekommen, aber Jasmin, das Mädchen, war längst tot. Es stellte sich heraus, dass der Tumor in eine unvorhergesehene Richtung weiter wuchs, wo ihn die Chemo doch stoppen sollte. Er bahnte sich einen Weg ins Freie, übte dabei aber dermaßen Druck auf das Gehirn aus, dass es den Dienst schneller versagte, als dass man hätte reagieren können. Ein System nach dem anderen fiel aus, dabei musste die arme Jasmin unter furchtbaren Schmerzen gelitten haben. Mehrere Stunden lang war sie in diesem Zustand, bis der Tod sie endgültig erlöste. Diese Art zu sterben hatte das Mädchen nicht verdient! Adam war wie erschlagen, als er das hörte. Er nahm sich drei Tage frei in denen er keine Erholung fand. Nicht eine Träne vergaß er wegen Jasmin, so geschockt war er. Als er hörte, dass sie gestorben war und wie es geschah, war es unmöglich für ihn, noch eine weitere Silbe eines Wortes wahrzunehmen. Es war, als drückte etwas auf seinen Hörnerv, so dass er nichts mehr um sich herum hörte.
Als Adam sich mit derselben Energie auf Lillys Fall stürzte, wie er sie damals aufwandte um Jasmin ein angenehmeres Auskommen mit ihrer Krankheit zu ermöglichen, erinnerte er sich unweigerlich an die Vierzehnjährige. Er schwor sich, wenn er wieder ein Schicksal gebeuteltes Kind in Lilly gefunden hatte, würde er alles daran setzen sie zu retten. Sollten die Eltern tatsächlich dem entsprechen, was er in seinen Vorstellungen zu glauben wagte, dann war es seine Pflicht, sie aus den Klauen dieser Monster zu befreien. Doch zunächst galt es herauszufinden, ob seine Fantasien mit der Realität vereinbar waren oder nicht. Als er seine Zeitung beiseite legte und endlich die Akten erblickte, stürzte er sich sogleich voller Tatendrang in seine kleine Ermittlung.


Zunächst musste der Arzt seinen Aktenstapel sortieren. Es handelte sich zum Teil um andere Materialien, zum Teil um Akten betreffend der kleinen Lilly. Bei diesen Akten waren einmal die Untersuchungsergebnisse und die entsprechenden Aufnahmen vom CT sowie die Unterlagen von Lillys Eltern. Diese nahm er sich zuerst vor.
Die Akten zu beiden Eltern waren beide ziemlich dünn. Die schienen wohl nicht so oft im Krankenhaus gewesen zu sein, dachte Adam bei sich. Also musste er umso genauer hinsehen, damit er nicht etwas übersah, weil er nicht annahm, dass er etwas entdecken würde. Er zweifelte mal wieder an seiner Theorie. Wenn er doch nur irgendeinen Hinweis hätte, dann könnte er weiterforschen oder den Eltern speziellere Fragen stellen. Aber diese verdammt zarten Mäppchen waren gerade mal Standardunterlagen. Der Arzt, der hier eintrug, war sehr ordentlich. Nichts ließ sich irrtümlich anders deuten aufgrund einer für Mediziner unleserlichen Handschrift. Einige Passagen wurden anscheinend sogar in eine Schreibmaschine eingespannt, sodass es kaum verschiedene Interpretationen über die Notizen zuließ.
„Mark Jenssen, geboren am 4. Mai 1974,… bla bla bla“, las Adam halblaut vor, mehr in sich hinein, aber noch so laut, das jemand, der direkt neben ihm saß, ihn verstehen könnte.
Adam fand heraus, dass Mark mit acht Jahren einen komplizierten Splitterbruch seines Unterarms hatte, weil er vom Skateboard fiel. Er stürzte unglücklich auf einen Steinvorsprung einer Auffahrt und schlug schräg auf den Stein auf. Während der Drehung um die eigene Achse brach der Arm und führte so zu einer Splitterung des Knochens. Adam konnte sich gut vorstellen, wie das wehgetan haben musste, denn als kleiner Junge ist ihm etwas Vergleichbares passiert. Damals stürzte der kleine Adam von seinem Fahrrad, als er erst wenige Tage zuvor lernte, das Gleichgewicht zu halten. Er brach sich das Handgelenk und rutschte danach auf dem Asphalt herum, was ihm eine tiefe Schürfwunde an der Stirn einbrachte. Keine angenehme Sache, aber Kinderwunden heilen schnell, sagt man. Ansonsten gab Marks Akte nicht viel her. Letzter Besuch war vor mehr als elf Jahren. Damals musste er wegen einer schweren Lungenentzündung behandelt werden, die er mehrere Monate mit sich herumtrug. Wie der kleine Tommy aus Zimmer vier. Der lag auch schon eine Weile in Behandlung wegen seiner Lungenentzündung. Es begann so unscheinbar mit einer normalen Erkältung. Der Junge neigte zwar immer schon zu einer schnell fortschreitenden Erkrankung seiner Atemwege und war auf dem besten Wege, Asthmatiker zu werden, aber er gab die Hoffnung nicht auf, den Jungen gesund werden zu lassen. Doch aus einem Husten entwickelte sich eine Bronchitis, die immer schlimmer wurde und sich bereits mehrere Wochen hinzog, bis es nach einem viertel Jahr immer noch nicht ausgestanden war. Mit dem Unterschied, dass es bereits um eine Lungenentzündung und nicht mehr um simplen Husten ging. Da war schnelles Handeln erforderlich, denn durch die heftigen Hustenanfälle bis zum Gefühl der Erstickung, konnte ein Kind auch sterben, wenn es nicht behandelt wurde. Allerdings überstand Mark Jenssen seine Entzündung sehr gut und es gab auch später keine Folgeschäden.
Adam schloss missmutig die Akte des Mannes. Die seiner Frau wird kaum andere Ergebnisse liefern, entmutigte er sich selbst. Er schlug sie aber dennoch auf und bemerkte außer den üblichen Daten nichts Verräterisches. Ist als Dreijährige aus dem Hochbett gefallen und schlug mit der Stirn auf eine Kiste auf. Keine ernsten Verletzungen wie eine Gehirnerschütterung, aber dafür ein starker Schockzustand und eine kleine Narbe, die noch heute zu sehen war. Sonst keine nennenswerten Eintragungen, außer diverser ambulanter Behandlungen der üblichen Verletzungen, wie sie viele Kinder in ihrer Kindheit hatten. Tanja Jenssens letzter Besuch in einem Krankenhaus war vor neun Jahren wegen einer missglückten Schwangerschaft. Scheinbar wollten die Jenssens schon seit längerem ein Kind haben, mussten aber mit Rückschlägen kämpfen. Naja, sie hatten aber Glück und bekamen ihre Lilly. Oft genug war der Verlust eines Embryos so schmerzhaft für die werdenden Eltern, dass sie kein weiteres Kind mehr zeugen konnten, weil ihnen die Gefahr auf einen weiteren Schwangerschaftsabbruch zu groß war und es ihnen dann zu viel Kraft kosten würde, um sich davon wieder vollständig zu erholen. Mark und Tanja waren bestimmt auch am Boden zerstört, als ihnen mitgeteilt wurde, dass sie kein Kind bekommen würden. Immerhin ist Lilly laut Geburtsdatum sechs Jahre alt und vor neun Jahren verlor Tanja ihr Kind, was eine Differenz von drei Jahren bedeutete. Eine lange Zeit, aber tiefe Wunden heilen langsamer. Sie konnten froh sein, dass sie es erneut versuchten, denn Lilly war ein zauberhaftes kleines Mädchen. Ein zu kleines Mädchen, wie Adam fand. Irgendwie war sie unscheinbar für ihr Alter, hatte mehr die körperliche Entwicklung einer Vierjährigen.
Adam rieb sich die Augen. Immer der Mediziner, hörte er die Stimme seiner Ex-Frau in seinem Kopf hallen. Sie hatte Recht. Er war immer dabei, alles irgendwie medizinisch-wissenschaftlich anzusehen, er katalogisierte einfach alles und nahm nie etwas hin. Das Mädchen war eben klein, basta. Aber Adam ließ es nicht los, für ihn war eine Sechsjährige nicht einfach nur sechsundneunzig Zentimeter groß. Wäre sie gut zwanzig Zentimeter größer, würde ihm das kaum weiter auffallen. Aber so war es nun mal, es gab auch Kuriositäten. Er als Arzt musste das eigentlich wissen, denn im Krankenhaus ist man nicht selten mit gewissen Absurditäten konfrontiert. Aber alle ließen sich bisher medizinisch erklären, denn an Zauberei oder höhere Mächte glaubte er nicht.
Hier setzte Adam einen Schlussstrich! Wenn ihm ab sofort etwas Seltsames unter die Augen kam, das einfach so war, wie es nun mal war, dann akzeptierte er es. Basta! Wenn der Körper dieses Mädchens sich auf dem Stand einer Vierjährigen halten wollte, dann soll er es doch tun. In diesem Fall gab es einfach nichts was man wissenschaftlich hätte erklären können. Aber im Alter von sechs Jahren und drumherum machen Kinder doch eh einen Entwicklungssprung, oder nicht? Adam war etwas verwirrt, aber ließ sich nicht beirren. Wie oft sah er schon kleinwüchsige Menschen in der Stadt. In der Kindheit konnte ja teilweise dafür der Grundstein gelegt worden sein. Aber mit sechs konnte man ja noch wachsen.
Adam lehnte sich zurück und wollte gerade in eine Kindheitserinnerung abdriften, da kam ihm ein Gedanke. Lilly Jenssen war sechs Jahre alt. Aber die Mutter war vor neun Jahren das letzte Mal in einem Krankenhaus. Er kramte die Akte der Mutter erneut hervor und las erneut den Eintrag von vor neun Jahren. Danach betrat Tanja Jenssen scheinbar kein weiteres Mal ein Krankenhaus. Wo brachte Tanja ihr Kind zur Welt?
Zum Zeitpunkt der angeblichen Geburt Lillys befand sich Tanja nicht im Krankenhaus. In ihrer Krankenakte musste so was doch drin stehen? Es gab auch kein Vermerk, dass die Geburt zu Hause stattfand. Wenn man den Unterlagen der Frau Glauben schenken wollte, dann hatte sie nie ein Kind zur Welt gebracht! Hab ich dich! freute sich Adam. Du bist nicht Lillys Mutter, du nicht! Gestohlen habt ihr die Kleine, ihr Kindsentführer.
Doch bevor er voreilig schlussfolgerte, wollte Adam auf Nummer sicher gehen und kramte die Geburtsurkunde von Lilly heraus. Er konnte sie leider nicht finden. Nirgends gab es eine Unterlage, die die Geburt des Kindes bescheinigte. Dass es aber existierte, konnte Adam nachweisen, da es ja schließlich in Zimmer neun lag. Es gab nur zwei mögliche Erklärungen: entweder war die Akte von Lilly unvollständig und man vergaß ihm die Urkunde mitzugeben oder Lilly war nicht Lilly. Es war ebenso gut möglich, dass Lillys Urkunde absichtlich verschlampt wurde, ebenso andere wertvolle Unterlagen, die sie eindeutig identifizieren konnten, damit ihre Existenz verschleiert werden konnte.
Adam entschied sich die Mitarbeiter des Archivs anzurufen, damit die noch mal nach den fehlenden Dokumenten suchen konnten.
„Zentralarchiv Mende, schönen guten Tag“, meldete sich eine Frauenstimme.
„Dr. Mendelbaum, Kinderklinik. Ich hatte gestern angerufen, wegen den Unterlagen für Herr und Frau Jenssen…“
„Ich erinnere mich“, unterbrach die Frau, die sich bereits einen Tag zuvor mit Adam unterhalten hatte.
„Die Unterlagen scheinen nicht ganz vollständig zu sein, ich würde Sie bitten erneut alles sorgfältig zu durchforsten.“
„Tun wir gerne, aber ich glaube nicht, dass die Akten durcheinander geraten sind.“
„Es gäbe da noch eine Bitte…“ sprach Adam nach einer kurzen Atempause.
„Das wäre?“
„Schicken Sie mit bitte umgehend alle möglichen Unterlagen zu deren Tochter Lilly Jenssen, geboren am 16. September 2000. es ist wichtig, es gibt da einige Unstimmigkeiten.“
„Verstanden. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Frau Mende war ziemlich auf Zack. Obwohl die Arbeit im Archiv nicht sonderlich spannend und abwechslungsreich war, schien diese Frau alles daran zu setzen, sie doch positiv zu finden. Durch die wachsende Computerisierung war es auch einfacher geworden, Akten anzufordern oder einzusortieren. Vorher geschah alles manuell und man suchte teilweise stundenlang eine einzige Akte. Heute reichte es über eine Suchmaske einen Namen oder eine Patientennummer einzugeben und der Computer wusste automatisch die dazugehörigen Lagerinformationen. Binnen weniger Minuten spuckte ein Förderband ähnlich denen an Supermarktkassen, nur größer eine große silberne Metallkassette aus, in denen sich die Akten nach Archivierungsnummern sortiert befanden. Ab da war es einfach, die gesuchte Akte herauszusuchen, sie aus dem System als entliehen herauszubuchen und per hausinternen Kurierservice zum Mitarbeiter bringen zu lassen, der die Akte angefordert hatte. In der Regel musste man kaum länger als ein oder zwei Stunden auf die Akte warten, sofern sie noch im Archiv vorhanden war.
„Ja, Sie könnten da noch etwas für mich tun“, sprach Adam mit einer gewissen Zurückhaltung. „Sollten sie keine Unterlagen bezüglich der Geburt des Kindes finden, könnten Sie die Datenbanken dann bitte nach einer Sterbeurkunde oder Ähnlichem durchsuchen?“
Frau Mende machte ein lang gezogenes Geräusch, das Adam ihre Verwunderung über diese unübliche Bitte verriet. Sie räusperte sich dann aber und sprach: „Natürlich, Doktor. Ich werde mich persönlich darum kümmern.“
„Ich danke Ihnen“, sagte Adam dankbar und beendete das Gespräch. Nachher hatte er dann die vervollständigten Unterlagen in der Hand, bis dahin konnte er sich um die Ergebnisse der Blutuntersuchung kümmern.
Die Daten waren umfangreich, aber nicht besonders tiefgehend. Zunächst befasste sich Doktor Mendelbaum erneut mit den Aufnahmen der Computertomographie. Er sah sich den Fleck, den Freddie ihm ausgedruckt hatte eindringlich an. Ein Glück, dass wir heute eine weitere Aufnahme machen, dachte Adam, als er den weißen Fleck betrachtete, der inmitten von Lillys Gehirn war. Kleine schwarze Tupfer waren dazwischen, aber es war kein bisschen zu erkennen, was es darstellen sollte. Die Aufnahmen von Lillys Skelett brachte auch keine Ergebnisse. Der Schädel war unverletzt, also schien es auch keine äußeren Einwirkungen zu geben, die die Krämpfe von Lilly erklärten. Nur der Fleck konnte jetzt noch etwas damit zu tun haben. Wenn das nicht, was sonst hätte die Krämpfe ausgelöst? Adam legte die Aufnahmen beiseite und widmete sich den Ergebnissen der Blutuntersuchung. Gleich auf dem ersten Blick bemerkte er, dass etwas nicht richtig war. Bei der Spalte Blutgruppe gab es keinen Eintrag. Der Laborant oder die Laborantin setzte dort das Zeichen für ‚unbekannt’ hinein. Das Blut war weder vertauscht worden noch war es nicht menschlich. Vielleicht wurde die Messung nicht richtig durchgeführt; Adam nahm sich vor, gleich das Labor anzurufen. Im weiteren Bericht der Untersuchung fand man merkwürdige Veränderungen der Genstruktur. Scheinbar wurde die DNA von Lilly irgendwie transformiert, es fand so etwas wie eine Mutation statt. Vielleicht konnte man damit auch den seltsamen Fleck in Lillys Gehirn erklären.
Adam hob den Hörer des Telefons ab und wählte die Durchwahl des Labors. Die Dame des Archivs war schon so nett und hilfsbereit gewesen, ähnlich sollte es auch mit der Mitarbeiterin des Labors sein.
„Ja?“ meldete sich eine junge weibliche Stimme knapp. Adam war verwundert, denn normalerweise meldete man sich mit der Bezeichnung des Arbeitsbereichs, einem Namen oder zumindest mit einer höflichen Floskel wie ‚Kann ich Ihnen helfen?’. Doch diese Frau beließ es bei einem sehr dünnen ‚Ja’.
„Ähm, hier spricht Mendelbaum, Kinderarzt. Ich hatte heute Morgen die Untersuchungsergebnisse der Patientin Jenssen auf meinem Tisch und da gibt es ein paar Ungereimtheiten.“
Am anderen Ende der Leitung wurde etwas gestöhnt, als wäre die junge Dame ganz plötzlich von der Anfrage überfordert gewesen. „Da muss ich mal ganz kurz im Computer nachsehen.“
Adam wartete.
„Wie war der Name noch mal und die Nummer der Station?“
„Liliane Jenssen, Station 8472.“
Die namenlose Dame vom Labor wiederholte halblaut die Daten und tippte sie dabei in den Computer. „Ahja, da haben wir’s ja“, verkündete sie nach einigen Augenblicken.
Stille.
Adam wartete eigentlich darauf, dass die Frau begann ihn nach weiteren Angaben zu befragen oder einfach erkannte, was ihn seltsam vorkam und dann aufklärte. Die Frau unterdessen wartete darauf, dass man ihr instruierte, was sie nun zu tun hatte.
„Was issn nicht in Ordnung mit dem Bericht?“ wollte sie dann endlich wissen.
„Wieso ist die Blutgruppe unbekannt und was sind das für Mutationen?“
„Ähm“, machte die Frau. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wovon Adam sprach; offenbar war sie bloß die Telefonistin oder eine Assistentin der Laborantin. „Wie issn der Name des Laboranten gewesen, der das gemacht hat?“
Durch die Leitung vernahm Adam ein leises Knacken, das ihm verräterisch bekannt vorkam. Anhand der jungen Stimme und des eher unprofessionellen Vokabulars mutmaßte er bei dem Geräusch auf eine platzende Kaugummiblase. Adam ließ sich davon aber nicht irritieren und nannte ihr den Namen, den er unter der Unterschrift am Fuß des Berichts fand.
Dann wurde die Leitung unterbrochen und es ertönte eine lästige Klaviermelodie, die von einem Synthesizer künstlich interpretiert worden war.
„Quenlin?“ sprach nach wenigen Sekunden eine Frauenstimme, die einen etwas professionelleren, weil älteren Klang aufwies.
„Doktor Mendelbaum, Kinderklinik. Ich habe ein kleines Problem mit den Untersuchungsergebnissen der Patientin Liliane Jenssen. Sie haben hier bei Blutgr…“
„Ich erinnere mich an die Untersuchung, Doktor Mendelbaum“, unterbrach ihn die Laborantin.
„Ich habe den Test viermal durchgeführt, aber die Blutgruppe ließ sich nicht bestimmen. Alles was sie mir verraten hätte, fehlte, dennoch war das Blut ansonsten normal.“
„Normal? Was ist mit den Mutationen?“ wollte Adam wissen, der nicht an ein normales Blut glauben wollte.
„Das sind genau genommen keine wirklichen Mutationen. Im ersten Moment scheint es sich um eine Art viralen Infekt zu handeln, aber die Blutprobe enthielt keinerlei Antikörper. Bei einem Befall eines Virus müsste man feststellen können, dass sich etwas Fremdes im Blutkreislauf befindet. Zum Beispiel durch die Bildung von Antikörpern, aber der Körper Ihrer Patientin scheint den Vorgang, der dort passiert, nicht als eine Bedrohung für die Gesundheit anzusehen. Außerdem würde sich eine Mutation durch ein Umschreiben der DNS verraten, aber die DNS ist völlig intakt. Ich habe mich näher damit befasst um herauszufinden was es denn sein kann und ich fand Anzeichen für eine Art Schläfergen.“
„Schläfergen?“ Adam war überfordert mit diesem Begriff.
„Ja, ein Schläfergen“, meinte Frau Quenlin und machte dabei eine ausholende Geste mit ihrer Stimme, als sollte eine tiefere Erläuterung nun folgen. „Ich hatte den Eindruck, als wenn sich die DNS Ihrer Patientin durch ein Gen oder ein Chromosom von denen anderer Menschen unterscheiden. Sie hat allerdings keine der üblichen Genkrankheiten, wie Trisomie 21, die allgemein immer noch als Down-Syndrom bezeichnet wird und auch keinerlei Abnormitäten, die auf etwas ernst Krankhaftes hinweisen würden. Ich habe so was noch nie gesehen, aber es schien so, als wenn Liliane Jenssen über 24 Chromosomen verfügen würde, also eines mehr als Menschen üblicherweise haben.“
„Soll das etwa heißen, Lilly ist kein Mensch?“ fragte Adam ungläubig.
„Anhand dieser Blutgruppe würde ich sagen, dass Lilly schon ein Mensch ist, aber ein seltener und sehr außergewöhnlicher. Mir ist nicht bekannt, wie sich ein 24. Chromosom auf einen Menschen auswirkt, eigentlich halte ich es auch für unmöglich. Dennoch ist dieses Chromosom erst kürzlich zum Vorschein gekommen, vor wenigen Tagen oder Wochen, denn es ist noch nicht besonders entwickelt. Es findet dabei eine Art Umstrukturierung der gesamten Genstruktur statt, die irgendwie die DNS grundlegend verändert bzw. rearrangiert. Um es auf den Punkt zu bringen, Herr Doktor: Lillys DNS wird komplett verändert, weil ein weiteres Chromosom oder Gen zum Vorschein trat, dass sich bislang im Ruhezustand befand. Diese Veränderungen sind aber nicht schädlich, soweit ich das sagen kann, denn der Körper reagiert quasi wohlwollend darauf, als sei das vorgesehen.“
Adam musste erstmal die Neuigkeiten kurz sacken lassen. „Soll das heißen, Lillys DNS unterläuft einer kompletten Verwandlung in… was auch immer, aber es ist weder eine Krankheit noch kann es ihr schaden, weil es von Geburt an so beabsichtigt worden ist?“
„Exakt. Allerdings kann ich nicht mit Sicherheit sagen, wie es sich auf ihren Körper auswirken wird und auch nicht ob es tatsächlich risikolos ist, diese Veränderung zuzulassen, aber meine Untersuchungen ergaben, dass das Immunsystem Ihrer Patientin vollkommen intakt ist und somit dagegen ankämpfen müsste, handelte es sich um eine Krankheit oder einen Defekt. Weist sie denn noch andere Merkwürdigkeiten auf?“
„Nur einen undefinierbaren Fleck im Gehirn. Ich beabsichtige das Kind erneut in den CT zu bringen um davon eine etwas genauere Aufnahme machen zu können, aber ansonsten ist sie vollkommen gesund.“
„Halten Sie mich auf dem Laufenden? Ich würde gerne wissen, was aus dieser Sache wird, da ich, wie gesagt, noch niemals so etwas erlebt habe.“
„Natürlich und vielen Dank.“
Das Gespräch wurde beendet. Adams Verwirrung wurde zwar etwas gelöst, aber im Grunde warf es mehr Fragen auf, als es zu beantworten imstande war. Schläfergen, 24. Chromosom und DNS-Umstrukturierung! Was mochte nur im Inneren dieses Kindes vor sich gehen? Adam glaubte nicht an einen gutartigen Ausgang dieser Situation. Zu viele Dinge deuteten auf etwas Schädliches hin. Der Fleck im Gehirn mochte eine Art Tumor sein, die DNS-Veränderungen vielleicht der Auslöser. Der Körper reagierte ebenfalls darauf, in dem das Kind heftig zu krampfen begann. Nur das Immunsystem wollte nicht gemäß seiner Aufgaben arbeiten und ließ einfach geschehen was vor sich ging. Nie im Leben steckte dahinter ein Plan, niemals konnte das normal sein! Hinzu kamen die Geheimnisse der Eltern. Adam war sich mehr als vorher sicher, dass Mark und Tanja Jenssen ihn hinsichtlich ihres Zustandes entweder anlogen oder nicht alles erzählt hatten. Und dann war da noch die Akte von Tanja. Zum Zeitpunkt der Geburt war sie nicht in einem Krankenhaus und es gab auch keine Akte über Lilly, keine Geburtsurkunde, kein Anzeichen, dass dieses Kind existierte. Eine Entführung, die bis ins letzte Detail ausgetüftelt wurde, bis hin zur Vernichtung aller Unterlagen war sicher eine plausible Erklärung. Leider krankte der feine Plan des Ehepaars Jenssen an einem fehlenden Eintrag zur Geburt des Kindes und die Nachlässigkeit des Vaters, der sein Kind ins Krankenhaus brachte. Aber Adam war fest entschlossen, hier die Falle zuschnappen zu lassen, denn seinem Leben verschrieb er seinen kleinen Patienten. Er bekam in seiner langjährigen Berufserfahrung einen guten Riecher für problematische Situationen und vor allem für Kinder, die seiner Hilfe bedürften. In diesem Fall war sein ganzer Einsatz gefordert und auch diesmal würde er seinen Job gut machen. Dieses Mal würde er, wie so oft, auf sein Gefühl horchen, dass ihm unmissverständlich bedeutete:
Rette das Kind!
Lass es nicht mit den Eltern hier raus und halte sie auf, bis du weißt, was hier gespielt wird.
Rette das Kind aus den Fängen dieser so genannten Eltern.
Rette Lilly!!!
 
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Kommentare  

Vielen Dank für eure Kommentare.

Alle positiven wie negativen Anregungen habe ich gerne entgegen genommen und werde ich auch noch tun. Manche eurer Kritiken teile ich im Nachhinein sogar und werde sie in meinem Skript auch ändern.

Danke!!


Christian Sander (19.04.2008)

huch, genau gleichzeitig abgeschickt;) mein "dito" bezieht sich auf die leseratte;)

darkangel (19.04.2008)

dito! ich bin eifrig am mitlesen:D

manchmal sind mir die texte zu verschachtelt und einige ereignisse zu weitschweifig erzählt (zb pias auszug), aber der inhalt ist echt klasse!
lg darkangel


darkangel (19.04.2008)

Hallo Christian,
ich hab deine Geschichte nicht ganz gelesen, aber mir ist aufgefallen, dass im ersten Kapitel die Erzählperspektive nicht ganz klar ist. Mir erschien es jedenfalls so. Wer denkt denn da? Ansonsten ist es ganz gut lesbar, bis auf ein paar Redewendungen, die nicht ganz gelungen waren, z.B. heißt es: er zwang sich dazu, nicht darum. Auch gibt es eigentlich keine hartnäckigen Stammkunden, eher unverwüstliche oder treue, hartnäckig hat einen etwas negativen Tatsche. Später schreibst du, als du über den Tod der kleinen Tumorpatientin schreibst: ein System nach dem anderen fiel aus. Das hört sich so nach Maschine an, aber nicht nach einem sterbenden Menschen. Auch glaube ich nicht, dass sich ein Arzt drei Tage lang frei nimmt wegen dem Tod einer Patientin, auch, wenn sie ihm etwas bedeutet hat. Ein Arzt muß mit dem Tod leben und hat gelernt, ihn auszuhalten.
Weiter habe ich leider nicht gelesen. Ich hoffe, du verstehst meine Einwendungen als konstruktive Kritik.
L.G. Luzie


anonym (19.04.2008)

Sehr spannend.Gefällt mir.
L.g. Kurt die Leseratte.


anonym (19.04.2008)

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