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5 Seiten

Lilly (Kapitel 26)

Romane/Serien · Fantastisches
Gedankenverloren starrte Lilly aus dem Fenster. Baumwipfel wogten sanft im Wind hin und her und ließen den Vögeln kaum eine Chance, in Ruhe Platz zu nehmen. Sie seufzte. Die Ereignisse der letzten Tage überschlugen sich förmlich, so dass Lilly kaum eine Möglichkeit hatte, über alles nachzudenken. Immer wieder verfiel sie in eine Art von krampfartigem Zustand, bekam beängstigende Visionen und Alpträume über vergangene Geschehnisse und noch ausstehende und kam dabei ganz durcheinander. Sie spürte viel Verantwortung, die ihr auf den Schultern lastete. Die Verantwortung drückte sich meistens darin aus, dass man von ihr Antworten verlangte. Ihre Eltern gaben ihr das Schicksal in die Hände, nur sie könne wissen, wie es weitergehen soll. Doch sie wusste rein gar nichts. Immer wieder sah sie vor dem inneren Auge dieses Auto, in dem sie und ihre Eltern fuhren. Diese dritte Person konnte sie immer noch nicht erkennen, aber diese Ereignisse hatten mit der bevorstehenden Veränderung zu tun.
„Stör ich?“ Hart durchschnitten die Worte Marios die ruhige Verträumtheit von Lilly. Sie dachte gerade daran, vielleicht Antworten zu bekommen, wenn sie nur scharf nachdachte, wenn sie sich Ereignisse aus den Träumen wie Erinnerungen wachrief, aber da kam Mario und riss sie aus ihren Gedanken. Lilly fuhr hastig rum.
„Nein, ich denke nur nach“, sprach sie sanft, ja fast schon gleichgültig.
Mario kam langsam näher. Sie verneinte zwar, aber er dachte trotzdem daran, er würde sie irgendwo bei stören.
„Du denkst viel, stimmt’s?“
„Was?“
„Naja, ich meine, weil du immer so still und so ernst bist. Ich habe selten Kinder erlebt, die so… so…“
„So wie Große sind?“ unterbrach sie ihn. Lilly hatte Recht, er nickte und empfand, sie gab sich etwas wie eine Erwachsene. Aus irgendeinem Grund kam er nur deswegen so gut mit diesem Mädchen klar, weil er mit ihr reden konnte, als wäre sie so alt wie er. Dabei war sie gerade einmal sechs Jahre alt. Mario schnappte sich einen Stuhl und nahm neben ihrem Bett Platz. Er wollte ihr eine Hand reichen, da sie ihm so erschien, als könnte sie Trost gebrauchen, zog seine Hand dann aber wieder zurück.
„Du, sag mal…“ begann er nach einigen Momenten so zögerlich, als fragte er seine heimliche Liebe nach einem Date. „Diese Dinge, die im Kindergarten bei dir abgingen…“
Lilly drehte sich zu ihm um und sah ihn an, als verstünde sie nicht, worauf er hinaus wollte. Er erkannte das Signal und fuhr fort: „Hat das irgendwas damit zu tun, wieso du hier bist?“
Lilly verdreht leicht die Augen. Sie musste nachdenken, was sie sagen sollte, denn schließlich sollte sie gar nicht mit ihm darüber reden. Aber Mario war doch ein so netter Junge, der würde sie bestimmt nicht verpetzen.
„Naja, irgendwie schon. Aber ich darf nicht mit dir darüber sprechen“, sagte Lilly und schoss den zweiten Satz schnell hinterher. Danach drehte sie sich wieder weg und sah erneut den Vögeln zu, wie sie vergeblich versuchten, auf dem windschiefen Baum auszuruhen.
„Das kann ich gut verstehen, Lilly“, sprach er mit herunter hängendem Kopf. Lilly indes rührte sich nicht. Ein Vogel war hartnäckig genug und krallte sich auf dem Baum fest, als störte ihn das heftige Hin- und herschleudern nicht.
Nach einer etwas längeren Pause fügte Mario an: „Du kannst es mir ruhig erzählen, wenn du mit jemanden reden willst. Ich würde auch nichts weitersagen, wenn du davor Angst hast.“ Damit hatte er genau ins Schwarze getroffen. „Ich will dir ja bloß helfen.“ Lilly rührte sich allerdings noch immer nicht, auch wenn in ihrem Kopf die Gedanken kreisten, ob sie ihm nun etwas anvertrauen kann oder nicht. Weitere Vögel suchten nach einem sicheren Zweig zum Anlegen, doch der eine Vogel, der noch immer hartnäckig auf einem Zweig saß und sich nicht beirren ließ, blieb der einzige auf dem Baum.
Mario wurde allmählich unsicher. Hätte er am besten gar nicht erst herkommen sollen oder sollte er am Ball bleiben? Vielleicht zog sie sich jetzt nur noch mehr zurück, weil er sie so sehr mit seinen Hilfeleistungen bedrängte, oder sie würde sich erweichen lassen und ihm ihre Gefühlswelt eröffnen. In einem war er sich sicher, denn Lilly brauchte dringend Hilfe. Allerdings war die Hilfe, die sie im Krankenhaus empfing nicht die Hilfe, die sie benötigte. Irgendwie musste er es schaffen, das absolute Vertrauen des Kindes zu bekommen, denn er wollte so sehr für sie da sein. Sei es nur aus Eigennutz um sich selbst beweisen zu können, dass er doch gut mit Kindern klar kam, so würde er diesem Mädchen doch vorrangig immer noch helfen. Und das würde nicht nur ihr gut tun, sondern auch ihm und seinem Selbstwertgefühl.
Langsam drehte sich Lilly wieder im Bett um und sah Mario nun ins Gesicht. Der hartnäckige Vogel verlor den Kampf gegen die Naturgewalten und ließ sich schließlich von einem stärkeren Windstoß forttreiben.
Es war auch gut so, ansonsten wäre Mario in einigen Sekunden von alleine einfach gegangen. Er fühlte sich so unsicher in diesem Moment, wie er sich an seinem ersten Arbeitstag auf der Kinderstation fühlte, als er seinen ersten kleinen Patienten vor sich hatte. Damals sagte dieser vierjährige Junge keinen einzigen Ton, ganz egal welche Geschütze er auffuhr. Mit allerhand Spielzeug und Versprechungen, was er alles Tolles mit dem Jungen tun würde, wenn er ihm doch nur seinen Namen verriet, konnte er ihn nicht ködern. Er kam sich schon wie ein schmieriger Kindesentführer vor, der auf dem Spielplatz einem geeigneten Opfer auflauerte und dieses Kind dann mit erfundenen Hundebabys in seine Wohnung lockte. Es hatte durchaus Parallelen, doch das gesetzte Ziel war ein anderes. Methodisch unterschied er sich kaum von einem Kinderschänder, aber schließlich wollte der ein Kind zwecks Vergewaltigung zu sich locken, Mario wollte nur den Dialog etablieren. Schließlich erleichterte sich seine Arbeitssituation dadurch, würde der Junge wenigstens mal husten. Aber er saß einfach nur da und spielte Ölgötze.
„Du musst mir was versprechen, okay“, meinte Lilly heiser.
„Ja klar, alles was du willst“, erwiderte er überschwänglich.
„Du darfst niemandem sagen, was ich dir erzähle, sonst musst du tot umfallen!“
Mario hob zwei Finger und kreuzte sie auf seiner Brust in Höhe des Herzens. „Indianerehrenwort. Ich halte dicht, denn andernfalls muss ich qualvoll ins Gras beißen.“ Mario verstellte seine Stimme leicht und gab ihr somit einen dramatischen Unterton. Lilly amüsierte sich und lächelte leicht. Obwohl der Zivi so einen Spaß darum veranstaltete, wusste sie schon, dass er es durchaus ernst mit dem Versprechen meinte. Er stand dann auch gleich auf und schloss die Tür. Mit dem Stuhl rückte er dann so nahe an Lillys Bett heran, dass er sie problemlos verstand, wenn sie noch so leise flüsterte.
„Also, ich bin hier, weil mein Papa mich herbrachte.“
„Das weiß ich, das hat man uns auf einer Besprechung mitgeteilt.“
„Ja, aber ich bin hier, weil er Angst um mich hatte. Ich werde mich nämlich verändern.“
Er wölbte eine Braue. „Verändern, wie?“
„Im Kindergarten da habe ich einige Sachen gemacht, weißt du, ich konnte irgendwie was machen ohne mit den Händen dran zu gehen.“
„Du meinst, als du den Stein geworfen hast?“
„Ja.“ Lilly rückte noch etwas näher an Marios Gesicht. Es kam beiden so vor, als gründeten sie nun eine Art von Geheimbund und jeder, der von ihrer Unterhaltung erfahren sollte, müsste auf der Stelle erschossen werden.
„Ich weiß noch nicht genau wie, aber ich werde mich verändern, irgendwie werde ich anders sein, als vorher. Schon bald wird es passieren. Aber ich darf nicht hier sein, sonst muss ich sterben.“
“Sterben!?“ Er dachte, sie übertrieb jetzt komplett.
„Wenn Mama und Papa nicht bei mir sind, kann ich mich nicht verändern, aber ich muss. Denn wenn nicht, werde ich sehr krank und muss dann bestimmt sterben.“
Mario vergrub seine Hände in seinen Haaren. Es war dem Kind durchaus ernst damit, denn sie war den Tränen sehr nah. Also entschied er sich, sie ernst zu nehmen und sie nicht zu gängeln, ihm endlich die Wahrheit zu sagen, denn sie musste ja logischerweise lügen. Lilly log aber nicht, das war für ihn mehr als sicher. Auch wenn es nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprechen sollte, was sie von sich gab, so dachte sie zumindest, es wäre die Wahrheit. Solange sie das selber glaubte, unterstützte er sie mit seinen offenen Ohren und hoffte darauf, der Wahrheit näher zu kommen. Dann erst konnte er ihr richtig helfen.
„Also, verändern wirst du dich. Und wie? Ich meine, wirst du noch größer oder kleiner, kriegst du eine andere Farbe oder kannst du bald Häuser durch die Gegend werfen, anstatt Steine?“
„Keine Ahnung, aber es wird passieren!“ bestand sie auf ihrem Recht. „Das weiß ich schon ganz lange.“
„Achso. Und wann hast du davon erfahren? Haben deine Mama und dein Papa dir das gesagt?“
Das Mädchen winkte sich den Zivildienstleistenden heran und wollte ihm ihre Geschichte ins Ohr flüstern. So brisant war ihr die Angelegenheit und so wichtig der Umstand, dass das Geheimnis dringend ein solches bleiben sollte.
„Es war irgendwann im Winter. Ich war gerade drei Jahre alt und spielte in meinem Zimmer.“
„Wow, du kannst dich noch so genau dran erinnern, was du mit drei Jahren gemacht hast?“
„Das war auch was wichtiges“, sprach sie und legte dem Satz einen drängelnden Ton bei. Er wollte die Geschichte hören, also sollte er auch bitte schön den Mund halten und nicht alles nachplappern. So wie Tom und Marie aus dem Kindergarten, die jeden Satz der Erzieher nachäfften um sie so abzuschütteln. Zugegeben, eine wirksame Methode, aber Lilly ging es gehörig auf die Nerven, weil sie Dummheit nicht mochte. Jedes Mal wenn sie ein anderes Kind sah, das eine simple Anweisung eines Erwachsenen nach mehreren Erklärungsversuchen noch immer falsch verstand, würde sie am liebsten dazwischen gehen und schreien. Oder selbst die Anweisung ausführen, damit dann endlich Ruhe war.
Mario legte seinen Kopf schief und ließ Lilly an sein Ohr. Die begann sogleich zu erzählen…
 
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