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10 Seiten

Javen

Romane/Serien · Nachdenkliches
“Es sind schlimme Zeiten und es sind die Letzten.”
Wie oft hatte Javen diese Redensart schon gehört und sie nicht verstanden. Aber als sie jetzt in die kümmerlichen Flammen ihres Feuers sah, begriff sie, das es der Wahrheit entsprach.
Es waren schlimme Zeiten und es waren die Letzten…
Es war Nacht in der Wüste.
Wirkliche Nacht, nicht so wie in den Kuppelstädten.
Hier draußen war es bitterkalt. So kalt, das selbst das Feuer sie kaum wärmen konnte. Sie saß so nah daran, wie sie konnte, trotzdem schlotterte sie am ganzen Leib.
Ein krasser Gegensatz zu der unerträglichen Hitze des Tages.
Das einzig wirklich schöne waren die Sterne. Sie waren wie funkelnde Diamanten, welche wachend am Himmel schwebten. Scheinbar zum Greifen nah und doch so unendlich weit entfernt. Vielleicht war dort oben irgendwo das Paradies, von dem ihre Eltern immer gesprochen hatten.
Aber Javen glaubte das nicht.
Konnte nicht ans Paradies glauben.
Nicht nach alledem, was ihr widerfahren war.
Die Welt lag im Sterben.
War verseucht und tat keuchend die letzten Atemzüge.
Es war seltsam. Die Welt veränderte sich, aber nicht die Sterne über ihr.
Verloren blickte sie wieder in die Flammen des Feuers, die deutlich kleiner waren, als noch vor wenigen Minuten. Ihr schmutzigweißes Kleid leuchtete in einem matten Rotton, beinahe so, als würde es brennen.
Das Mädchen dachte darüber nach, wie es hatte soweit kommen können.
So, wie sie jeden Abend darüber nachdachte.
Jeden gottverdammten Abend, seit sie in dieser Wüste war…

So stand sie nun da, den Kopf gen Boden gerichtet und wartete darauf, das die Schleuse sich öffnete. Die Schleuse, die sie hinaus in die Wüste führen würde.
Hinaus ins Nichts.
Ihrem letzten Gang entgegen.
So stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte.
Javen zitterte.
Vor Angst und weil ihr fröstelte. Aber am meisten zitterte sie vor Angst.
Gestern hatte sie ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert, da war die Welt noch in Ordnung. Heute früh hatte sich alles geändert.
Javen war ein glückliches Kind gewesen, wohlbehütet aufgewachsen in der Kuppelstadt, bis sie herausgefunden hatte, das ihre Eltern sie nie geliebt hatten.
Heute früh hatten ihr es ihre Eltern gesagt. Das Geld war knapp geworden und sie könnten sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten. Einer müsste gehen…
Eine kurze Erklärung, so hart wie eine Ohrfeige.
Schlimmer als das.
Aber so war es nun mal, es gab keine andere Möglichkeit.
Ihr Vater hatte die Obersten der Stadt gerufen, ihnen erzählt Javen würde dann und wann Blut spucken und schon war das Urteil gefällt. Ob es Lügen waren interessierte Keinen. Testmöglichkeiten gab es nicht und die Gefahr einer Seuche war viel zu groß.
Nachdem die Kriege vor Jahrzehnten die Erde vergiftet hatten, gab es nur noch wenige Städte, in denen gesunde Menschen lebten. Und diese wurden hermetisch von dem Rest der Welt abgeschirmt. Jeder Anflug von Krankheit eines Menschen, war sozusagen ein Todesurteil. Man wurde verstoßen.
Hinausgeschickt…
Als sie zum Stadtrand gebracht wurde, hatte das Mädchen geweint, doch Keinen hatte das interessiert. Einzig ihr kleiner Bruder hatte Tränen in den Augen. Dafür liebte sie ihn. Würde ihn immer lieben.
Zischend öffnete sich das Tor der Schleuse.
“Rein mit dir.”, raunte einer der Obersten energisch. Javen sah ihn nicht an, trat stattdessen zitternd einige Schritte vor.
Hin zur Schleuse.
Zuerst wollte sie sagen, sie sei nicht krank, alles waren nur Lügen, doch dann besann sie sich. Es wäre sinnlos gewesen. Selbst wenn ihr irgendjemand glauben würde, hätten ihre Eltern Einspruch erhoben. Und zwei Stimmen gegen sie…
Keine Chance.
Das Mädchen mit dem glatten schwarzen Haar drehte sich ein letztes Mal um. Sah sich die riesigen Wolkenkratzer der Stadt an. Sah die gläserne Kuppel, welche die Hitze und den Sand der Wüste abhielt und ständig ein angenehmes Klima schuf. Das hier war ihre Heimat gewesen.
Bis jetzt.
Als letztes sah sie hinüber zu ihren Eltern. Regungslos standen die Beiden da und sahen mit starren Blicken an ihrer Tochter vorbei.
Sahen stur hinein ins Nichts.
Javen konnte ihre Eltern nicht verstehen, wollte einfach nicht begreifen, warum sie ihr so etwas Schreckliches antaten. Sicher, sie würden Gelb bekommen, wenn das Mädchen sich freiwillig in der Kolonie meldete, und könnten so noch einige Zeit in der Stadt leben. Aber deshalb das eigene Fleisch und Blut abschieben? So etwas würde sie selbst niemals tun können.
Aber die Zeiten hatten sich geändert.
Was früher einmal unvorstellbar und verabscheuungswürdig war, war heute Gang und Gebe und kaum der Rede wert.
Die Zeiten waren schlecht geworden.
Rochen nach Verfall und Ende.
“Tschüß”, schluchzte Javen und sah mit bebenden Lippen ihre Eltern an. Doch sie antworteten ihr nicht, nickten ihr nur unverwandt zu.
Dann betrat Javen die Schleuse und hinter ihr schloss sich das Tor. Einige Sekunden waren beide Tore geschlossen, dann öffnete sich zischend das Gegenüberliegende. Hilflos blieb sie in dem Schleusengang stehen, sah ungläubig in die flimmernde Wüste.
Sie war hell und unwirklich.
Tödlich.
Das war ihr Tot, sie spürte es tief in sich drin.
Dann trat sie hinaus…
…und fiel unsanft in den Sand. Die unerträgliche Hitze war wie ein Schlag ins Gesicht und hatte ihr das Gleichgewicht genommen. Stöhnend raffte sich das Mädchen wieder auf und drehte sich um zur Stadt. Das war das erste Mal, das sie die Kuppel von außen sah.
Ihre Eltern und die anderen waren verschwunden. Und auch ihr Bruder, und das war das schlimmste, war nicht mehr zu sehen. Sie fühlte sich, als hätte man ihr direkt ins Herz gestochen. Tränen rannen ihre Wangen hinab, hinterließen sandige Spuren auf dem Gesicht. Es dauerte nicht lange, bis das salzige Wasser verdampft war.
Und nun wurde Javen zum ersten Mal wirklich klar, das sie ihre Familie nie wieder sehen würde.
Sie war allein.
Eine Ausgestoßene.
Unwert.
Sie wollte auf die Knie sinken und einfach hier warten bis sie starb.
Einfach nur sterben.
Alles hinter sich lassen.
Diese gottverfluchte verseuchte Welt.
Was ihre Urväter hinterlassen hatten, war nichts weiter, als ein stinkendes Trümmerfeld. Der Vorhof zur Hölle.
Doch als das Mädchen fast schon jeden Willen verloren hatte, da sah sie die braunen Augen ihres Bruders vor sich. Sie musste gehen, musste es in die Kolonie schaffen, sonst würde ihm das selbe Schicksal blühen wie ihr.
Und so ging sie langsam hinein ins unsagbar helle Nichts der Wüste.
Irgendwann drehte sie sich um, die Kuppelstadt war verschwunden. In der Richtung, in der sie gelegen hatte, war nun nichts als Sand und einige verlassene Häuser. In manchen, der meist verfallenen Häuser lebten wahrscheinlich noch Wüstenleute, doch sie hatte noch Keinen gesehen. Sie schienen sich vor der Hitze zu verkriechen. Und sie taten gut daran, denn bald spürte Javen Kopfschmerzen in den Schläfen pochen.
Doch sie lief weiter.
Die Wüste war hell und heiß.
Am Tage.
Und finster und bitterkalt.
In der Nacht.
Abends trank sie etwas, aß einige Bissen und machte sich ein Lagerfeuer aus vertrockneten Ästen und Wüstenbüschen. Wasser, etwas Nahrung und ein Feuerzeug, das war alles, was man ihr mitgegeben hatte.
Wenn es dunkel wurde, legte sie ihre Schuhe in Pfeilform in die Richtung, in der ihr Ziel lag. Um am nächsten Morgen die Orientierung nicht zu verlieren.
So marschierte sie am Tage und schlief in der Nacht.
Schweiß und Frost.
Hitze und Kälte.
Licht und Dunkelheit.
Alles wiederholte sich, alles blieb gleich.
Acht Tage und acht Nächte.
Javen war am Ende ihre Kräfte angelangt, hatte alle Tränen vergossen und ihr Körper war kaum noch mehr als Haut und Knochen.
Das Mädchen war dünn geworden.
Gefährlich dünn…

Das Knistern des vergehenden Feuers, riss Javen aus ihren Gedanken. Und als die letzte Glut erlosch und nur die Sterne und der volle Mond ihr noch etwas Licht schenkten, da hatte das Mädchen Tränen in den Augen.
Das nächtliche Licht war kalt. Sie fröstelte.
Am Abend, als sie sich hier niedergelassen hatte, hatte sie in der Ferne die mauern der Kolonie sehen können. Morgen würde sie ihr Ziel erreichen.
Ein auferlegtes Ziel.
Nichts ihres.
Das Ziel ihrer Eltern. Jedoch ihr eigenes Schicksal.
Noch einige Zeit sah sie in die Sterne. Dachte sich schweigend in andere Welten, neue Sphären. Dann schlief sie ein.

Das brennen ihrer Augen und ein trockenes Übelkeitsgefühl riss Javen aus den Träumen.
Als sie aufwachte, stand die Sonne schon hoch am wolkenlosen Himmel und ihr Feuer vom Abend war nicht mehr als ein verwehtes Häufchen Asche. Bald würde es gänzlich verschwunden sein im Sand. Javen wische sich die schlimmen Träume aus den Augen. Sie stand keuchend auf. Ihre Kehle war trocken und die Lippen rissig. Ihr letztes Wasser hatte sie gestern getrunken und die Nahrungsvorräte waren auch verbraucht.
Hinten am Horizont, fast wie eine Fata Morgana, sah sie schweigend und bedrohlich die Mauern des Lagers. Javen wollte ihr Ziel nicht sehen, es nicht wahrhaben. Doch sooft sie ihren Blick auch abwendete, sobald sie wieder hinsah, lag dort schweigend die Kolonie.
Wie ein Raubtier, zum Sprung bereit.
Bedrohlich.
Wartend.
Tödlich.
Das Ende.
Das einsame Mädchen lief los.
Langsam.
Sie hatte es nicht eilig, jetzt nicht mehr. Heute noch würde sie die Kolonie erreichen, ob sie sich nun eilte, oder nicht. Es war einerlei.
Sie wusste nicht, wie lang sie schon gelaufen war, als sie das Wüstenhaus sah. Es war das Letzte vor der Kolonie und es sah bewohnt aus. Die morsche Holztür stand einen spaltweit offen, als sie daran vorbeiging. Und als hätte man sie erwartet, trat plötzlich der Bewohner aus der Tür heraus und winke ihr freundlich zu.
Es war ein Mann mittleren Alters, gekleidet in einer blauen Arbeitskombi. Seine stahlblauen Augen sahen das Mädchen neugierig an und sein Lächeln entblößte nur noch wenige gelbe Zähne. Einige Warzen schmückten seinen kahlen Kopf und trotz des erschreckenden Körpergewichts, machte er einen freundlichen Eindruck.
Und einen gesunden.
Was fast wichtiger war.
Javen winkte zurück und blieb stehen.
“Wennde noch was trinken und dich ausruhen willst, kannste reinkomm.”, rief der Mann ihr zu. “Ich bin der Letzte vor dem Krankenlager.”
Das Mädchen nickte und ging zu dem Mann. Sein Händedruck war fest und freundschaftlich und als er sie hinein bat, hielt er ihr sogar die Tür auf.
Ungewöhnlich für einen Wüstenbewohner. Die meisten von Ihnen, so hatte man sich in der Stadt erzählt, waren Wahnsinnige oder Mörder. Dieser hier schien anders zu sein. Aber wahrscheinlicher war, das die Geschichten nur Lügen gewesen waren.
So wie vieles nur Lüge war…
Als das Mädchen sich an den alten Holztisch gesetzt hatte, brachte der Mann ihr ein Glas Wasser. Das Glas war dreckig, aber das Wasser herrlich kühl und befeuchtete die rissigen Lippen und die ausgetrocknete Kehle.
“Danke.”, sagte das Mädchen und der Wüstenbewohner schenke ihr nach.
“Francis.”, stellte der Mann sich vor, als er sich ihr gegenüber an den Tisch saß.
“Javen.”, antwortete das Mädchen und trank ihr zweites Glas leer.
Das Haus war ärmlich eingerichtet, machte aber einen sauberen Eindruck. Der Tisch und die zwei Stühle, an denen sie saßen waren aus Holz. Ebenso ein morscher Schrank und das Bett an der Wand. Außerdem befand sich noch ein Kachelofen in dem ziemlich großen Zimmer, welches das einzige des Hauses war. Nur ein Schuppen befand sich noch an der gegenüberliegenden Seite des Hauses, welcher aber nur von außen erreichbar war.
Das Mädchen bemerkte einen merkwürdig süßlichen Geruch, wollte Francis aber nicht darauf ansprechen, weil sie ihren Gastgeber nicht beleidigen wollte.
“Woher hast du das Wasser?”, fragte sie schließlich.
“Die Wachleute bringens mir in regelmäßigen Abständen.”, antwortete Francis und schenke sich selbst ein Glas ein. Javen bemerkte, das er leicht zitterte. “Es sind nette Leute.”
Eine Weile schwiegen sie und das Mädchen genoss die Ruhe und die angenehme Kühle. Einige vergilbte Bilder fielen ihr auf. Sie alle zeigten eine Frau und einen kleinen Jungen. Der Mann hatte die Bilder mit Nägeln an der Wand befestigt, so das man sie von jedem Punkt aus betrachten konnte.
“Meine Frau und mein Sohn.”, sagte er und das Mädchen erschrak. Er hatte bemerkt, wie sie die Bilder angestarrt hatte.
“Ich.. ich. Es tut mir leid.”, stammelte sie, doch Francis lachte nur winkte ab.
“Mach dir nichts draus, jeder der mich besuchen kommt, guckt sich die Bilder an.”, sagte Francis und stand auf. Er ging zur Wand und strich sanft über eine der Fotografien. “Sie sind wunderschön, nich wahr?”
Javen nickte. “Ja.”
“Sie waren mein Ein und Alles.”, flüsterte der Mann und Javen hörte die Trauer in seinen Worten nur allzu gut. Dieses leichte Zittern in der Stimme, welches auch bei ihr selbst mitschwang, wenn sie sprach.
“Die Beiden sind vor langer Zeit krank geworden und in die Kolonie gegangen.”, sagte er und wischte sich eine Träne aus den Augen, als er sich wieder zu dem Mädchen umdrehte. “Ich bin der Letzte.”
“Das tut mir so leid, Francis.”, flüsterte das Mädchen und spürte wie ihre Augen feucht wurden.
Francis kam zu ihr und wischte ihr zärtlich die Tränen von der Wange. Das erschreckte sie etwas und sie zuckte zusammen, doch der Wüstenmensch schien davon keine Notiz zu nehmen.
“Muss dir nicht leid tun.”, sagte er schließlich und als er weiter sprach war seine Stimme wieder fest und einem Mann mit seinen Ausmaßen entsprechend. Er war mindestens zwei Meter groß und stieß mit seinem Kopf an manchen Stellen der Hütte beinahe gegen die Decke.
“Du bist nich krank.”, stellte er schließlich fest. “Eine von denen, die von ihren Eltern geschickt wurde?”
Das Mädchen nickte, schwieg aber. Im Moment war sie nicht in der Lage, auf diese Frage zu antworten. Zu schlimm und beißend waren die Gedanken an die Vergangenheit, welche ihr seit ein paar Tagen nur noch wie ein weit entfernter verschwommener Traum vorkamen.
“Geld is rar geworden in dieser Zeit.”, sagte Francis und Javen konnte nicht sagen, ob er noch immer mir ihr sprach oder nur zu sich selbst. “So wie vieles rar geworden is. Liebe und Mitgefühl gehören auch dazu.”
Schließlich sah er ihr fest in die Augen und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Es war ein harter Griff , der das schmächtige Mädchen beinahe zu Fall gebracht hätte. Der Mann schien seine Kräfte nicht unter Kontrolle zu haben.
“Hör mal, Mädel.”, sprach er mit fester Stimme, “Da is ein Bottich hinten im Schuppen, dort stehen auch noch leere Flaschen. Füll bitte ein paar von ihnen mit Wasser auf und bring sie her.”
Als das Mädchen nickte, löste Francis den Griff von ihr. Er ging zur Tür und öffnete sie für Javen.
“Pass auf, die Hitze draußen is tückisch.”, sagte er und nickte ihr freundlich zu.
Und der Mann hatte recht. Wieder musste Javen mit dem Gleichgewicht kämpfen, als sie in die Wüste hinaustrat. Doch sie fing sich und ging herum ums Haus und öffnete die Tür zum Schuppen. Das verrostete Metallgitter quietschte erbärmlich und als das Mädchen eintrat, stieg ihr jener süße Geruch in die Nase, den sie schon in der Hütte selbst bemerkt hatte. Nur war er jetzt um vieles penetranter und sie musste einige Male würgen. Nur mit erheblichen Schwierigkeiten konnte sie den Brechreiz unterdrücken.
Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Düsternis des Schuppens gewöhnt hatten. Sie trat einige Schritte hinein und sah sich um, konnte jedoch nirgends einen Bottich oder Flaschen sehen.
Überall standen Schaufeln, Heugabeln und andere landwirtschaftliche Geräte herum. Erst als sie genauer hinsah, fand sie den Auslöser des erbärmlichen Gestanks. In der hintersten Ecke des Schuppens lag zusammengekrümmt in Embryostellung die Leiche eines Mädchens. Sie war etwa in ihrem Alter gewesen, als sie getötet wurde. Das blonde Haar war verkrustet mit Blut und ihre geweiteten Augen starrten Javen erschrocken an. Das Mädchen war nackt und auf bestialische Art und Weise verunstaltet worden. Duzende von Schnittwunden und blauen Flecken zierten ihren dürren Körper. Die Kehle war ihr durchgeschnitten worden und an beiden Händen fehlte der Daumen.
Offensichtlich war der Wüstenbewohner doch kein so netter Kerl, wie sie bisher gedacht hatte.
Das war zuviel für Javen. Zitternd sank sie auf die Knie, würgte ein paar Male bittere Galle und übergab sich stöhnend.
“Oh, hast mein kleines Geheimnis gefunden, wie ich seh?”, es war Francis Stimme und jetzt klang sie weder freundlich noch mitfühlend. Wahnsinn schwang in seinen Worten mit…
Pure Geisteskrankheit.
“Alicia.”, flüsterte Francis kichernd. “Das Mädel, das vor dir kam.”
Panisch drehte das Mädchen sich zum dem Mann um, weg von dem vergewaltigten Körper seines Opfers. Sie war nicht in der Lage, aufzustehen, zu sehr bebte ihr Leib.
Zu viele ungeordnete Gedanken in ihr, um auch nur einen einzigen Klaren fassen zu können.
“Ich sagte doch bereits, auch Liebe und Mitgefühl sind rar geworden in dieser Zeit. Und wer bin ich schon, das ich mich den Zeiten widersetze?” Sein Sprechen ging in ein heiseres Kichern über, welches keinen Zweifel mehr über seinen Geisteszustand lies.
“Von etwas muss der Mensch ja leben, verstehst du?”, sprach er und fixierte Javen mit eisernem Blick. Sein massiger Körper kam ihr gefährlich nahe und das Mädchen kroch wimmernd zurück. Solang, bis sie die Wand im Rücken spürte und ihr jeder Ausweg verbaut war.
Francis hockte sich, so dass er in etwa auf selber Höhe mit Javen war. Dann drückte mit einer Hand ihren Hals, so dass sie kaum noch Luft bekam.
Nach Luft ringend, mit schweren Atemzügen versuchte das Mädchen , sich zu wehren.
Vergebens. Sie mochte ein Viertel von dem wiegen, was ihr Gegner auf die Wage brachte.
Mit der anderen Hand fuhr er ihr hastig zwischen die Beine. Das Mädchen schloss die Augen, brachte nichts weiter als ein hilfloses Wimmern hervor.
Dann spürte sie seine nassen Lippen auf ihren.
Seine Zunge, die sich wütend in ihren Mund schob.
Speichel und ein widerlich fremder Geschmack in ihr.
Zitternd und der Ohnmacht nahe, versuchte sie, die Zunge aus ihrem Mund herauszupressen.
Endlich ließ er von ihr ab.
Wieder ein Würgen.
Weinend spuckte das Mädchen fremden Speichel aus, übergab sich erneut.
Als Reaktion schlug der Wüstenmann ihr so hart ins Gesicht, das sie dachte, sie hätte sich den Kiefer gebrochen. Ihre Lippen platzen bei dem Schlag auf und sie begann zu bluten, doch das bekam sie gar nicht mit. Die körperlichen Schmerzen waren nichts im Verglich zu dem, was im Moment mit ihrer Seele passierte.
“An dir is zwar nich viel dran, aber das is bei den meisten so, die hierher kommen.”, zischte Francis mit drohender Stimme.
Zitternd und bangend suchte Javen mit den Händen die Wand hinter sich ab. Nach irgendetwas, das ihr helfen konnte. Und schließlich griff sie etwas.
Eine Heugabel.
Dann ging alles sehr schnell.
So schnell sie konnte, raffte Javen sich auf und stach Francis die Spitzen der Heugabel in den Bauch. Dieser sah sie erschrocken an, dann völlig fassungslos an seinem Körper herunter, als würde er nicht begreifen, was gerade geschehen war.
“Schlampe.”, gurgelte der massige Mann, während Speichel und Blut aus seinem Mund tropften und er taumelnd einige Schritte zurück wankte. Heulend fasste das Mädchen den Stiel der Gabel erneut und drückte sie so fest sie konnte in den Leib des Mörders.
“Warum?”, kreischte sie wimmernd und zitternd, während der Mann sie noch immer ungläubig anstarrte. “Warum?”
Doch keine Antwort befriedigte ihren Schmerz.
Auch als Francis keuchend und schließlich leblos am Boden lag, konnte sie nicht aufhören, die Heugabel wieder und wieder in seinen Bauch zu rammen.
Wie im Wahn hackte Javen heulend auf ihren Peiniger ein.
“Bastard.”, flüsterte sie schließlich mit bebender Stimme. Sie war auf die Knie gesunken, als ihre Kräfte sie verlassen hatten und sah nun ebenfalls ungläubig auf die Leiche des Mannes.
Konnte nicht begreifen, was sie getan hatte.
Würde es nie begreifen können.
Der Wüstenbewohner hatte sie zu dem Abschaum gemacht, der er selbst war.
Zu einer Mörderin.
Eine Trauer legte sich schweigend auf ihren Blick, welche sie nie wieder loslassen würde.
So vieles ist rar geworden in dieser Zeit.
Liebe und Mitgefühl gehörten auch dazu.
Irgendwann verließ Javen das Haus…

Weinend rannte sie davon, rannte solang sie ihre Füße trugen.
Bis sie in den Sand fiel.
Ihr Körper bebte und die Lungen brannten, doch sie raffte sich wieder auf und lief weiter.
Rannte.
Weinte.
Rannte und weinte.
Eine Ewigkeit.
Wenn ihre Kräfte am Ende waren, blieb sie einige Augenblicke stehen und übergab sich.
Dann lief sie weiter.
Weinend.
Wie lang es so ging, vermochte sie nicht zu sagen.
Es spielte auch keine Rolle.

Irgendwann, die Sonne stand schon tief am wolkenlosen Himmel und hatte die Wüste rot gefärbt, erreichte sie ein verbeultes Blechschild. Der Sand und die Hitze hatten der Farbe schon übel mitgespielt, trotzdem war noch zu entziffern, was auf dem Schild stand:
Gesunde sofort umkehren.
Und darunter:
Eingang Nord.
Javen dachte nicht darüber nach, konnte sich keine Gedanken darum machen. In ihrem Kopf sah sie immer wieder die misshandelte Mädchenleiche im Schuppen des Wüstenmenschens. Hätte sie ihn nicht umgebracht, wäre ihr mit Sicherheit das Selbe zugestoßen.
Aber was machte das schon für einen Unterschied?
Der Tot war nur eine Frage der Zeit.
Und Zeit spielte schon lange keine Rolle mehr.
Doch dann sah sie die tiefen Augen ihres kleinen Bruders vor sich und ihr wurde klar, das ihr Leben doch noch einen Sinne hatte.
Für ihn.
Nur für ihn.
Und so ging Javen weiter, vorbei an den Behausungen der Wachen der Kolonie.
Irgendwann stand sie vor den Toren der riesigen Anlage, deren Mauern bedeckt waren von Sand. Hier und da sah sie noch etwas Beton zwischen der Sandschicht, doch diese Stellen waren kaum er Rede wert.
Vor dem etwa vier Meter hohem Stahltor stand eine der Wachen. Der Mann trug einen schwarzen Lederanzug und eine Gasmaske.
Zum Schutz vor den Kranken.
Javen bezweifelte, das das wirklich half.
“Wenn du eine Unversehrte bist, kehr um.”, sagte die Wache mit gedämpfter Stimme.
Zuerst schwieg das Mädchen. Es kam ihr vor, als wehrte sich ihr Verstand gegen das, was sie tun wollte.
Doch der unschuldige Blick ihres Bruders, machte es ihr etwas leichter.
“Ich bin krank.”, log sie schließlich und besiegelte somit ihr Schicksal.
Sie hielt der Wache den abgemagerten Unterarm hin, zeigte den eintätowierten Strichcode, den jeder Mensch trug. Der Wachmann scannte ihn ein und nickte ihr zu.
Schweigen.
In ihrem Verstand und in ihrem Herzen.
Tot.
In ihren Augen.
“Es sind schlimme Zeiten und es sind die Letzten.”, flüsterte Javen.
Ungehört.
Die Tore öffneten sich und das Mädchen trat ein in die Kolonie.
Ließ ihr Leben hinter sich.
Es waren schlimme Zeiten und es waren die Letzten…

("Javen" ist der zweite Teil einer längeren Geschichte.
Teil 1: Wüstenballade
Teil 3: Endgänger)
 
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Kommentare  

Hey Petra, übe dich in Geduld. Außerdem ist die Fortsetzung zu "Javen" unter dem Titel "Endgänger" schon veröffentlicht. Der dritte Teil ist noch in Arbeit und spielt vor dem Geschehen von "Javen".
LG


gedanke.in.ketten (09.03.2009)

Und wann kommt nun die Fortsetzung?

Petra (07.03.2009)

Hi doska.
Danke erstmal für deine Kommentare.
Es soll eigentlich nicht wirklich ein Roman werden, eher mehrere Kurzgeschichten, die aber alle in dieser düsteren Welt und Zeit spielen. Bin grad dabei, die dritte Story zu schreiben.
LG


gedanke.in.ketten (02.03.2009)

Sehr düster, so wie deine vorherige Geschichte zu dem gleichen Thema. Man hat den Eindruck, dies wäre der Anfang zu einem Roman. Ist es auch so? Doska ganz neugierig dreinschaut.

doska (21.02.2009)

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