259


19 Seiten

Point Hope - Teil 6

Romane/Serien · Spannendes
Kapitel 2 – New Jersey
Sein Kontaktmann hatte den Spitznamen Salty, weil er lachte wie ein Seehund. Er zog die Luft nach innen und machte ‚öh öh öh öh’ und er betrieb zur Tarnung einen Pizzalieferservice. Er hasste seinen Job. Ian rief ihn nur an, wenn es unbedingt sein musste und noch seltener ging er in die Pizzeria. An diesem Morgen war es schon so heiß, dass einem die Brühe in die Ritze lief, und Ian musste sich etwas einfallen lassen. Niemand würde bei diesem Wetter und zu dieser Stunde Pizza essen wollen.
Was sollte er sagen? Da gibt’s die beste Coke der Stadt? Das war lächerlich. Ian war in Pacos Bruchbude eingezogen, er war der Neffe des Bosses und Paco war neugierig wie eine Katze. Aber wenn er am Tag vorher ordentlich Dope eingeworfen hatte, schlief er komatös bis in den Vormittag und Ian hatte die Zeit genutzt und sich so früh wie möglich rausgeschlichen. Vermutlich musste er seinen Besuch in der Pizzeria nicht erklären, aber er ging auf Nummer sicher.
Ian trug die Klamotten, in denen er geschlafen hatte, Jeans, ein dünnes Oberhemd und offene Lederschlappen. Vielleicht war das Hemd mal blau oder schwarz gewesen, aber mittlerweile ließ sich die Farbe nicht mehr bestimmen. In der Gang, die aus sieben Mann bestand, ihn mitgerechnet, kannten ihn alle als Ian Watts. Bei der Polizei gab es eine getürkte Akte über ihn, es hatte Monate gebraucht, um ihn auch nur in die Nähe der Gang zu bekommen. Salty hatte behauptet, es sei keine gute Idee, den eigenen Vornamen zu benutzen, aber Salty hatte keine Ahnung.
„Klar“, hatte Ian erwidert, „der Boss ruft nach Rupert und alle drehen sich um, ich eingeschlossen. So was findest du vielleicht zum lachen, Salty, ich nicht.“
Er schlenderte über die Straße in Richtung Pizzeria, um dort ein Bier zu trinken und bei Salty Geld zu schnorren. Seine Charaktere entwickelte er auf der Straße, Wochen bevor er sich in die Gangs einbrachte. Er suchte sich einen Namen aus, packte ein paar Klamotten zusammen, ein paar gefakte Erinnerungsstücke, die er meist auf Flohmärkten zusammensuchte, wie Ringe, alte Fotos oder Music-Cassetten. Manchmal lungerte er nur herum, gewöhnte sich an die neuen Daten und Namen, oder er nahm irgendwelche Jobs an. Als Neuer im Team der Burgerbude musste man immer viele Fragen beantworten und das half. Meist behielt er es bei, aus dem Mittelwesten zu kommen, um seinen Akzent zu erklären, so wie viele wegen Geld und Ruhm zur Ostküste kamen und scheiterten. Es machte ihm nichts aus, Gras zu rauchen, aber um die härteren Drogen machte er einen Bogen. Meist behauptete er, irgendwann damit aufgehört zu haben, seine Arme und Beine waren vernarbt genug, um den Anschein erwecken zu können, in jüngster Vergangenheit drauf gewesen zu sein. Er wusste, wie man nervöse Ticks und Entzugserscheinungen vortäuschte, konnte sich praktisch auf Kommando übergeben, wenn es nötig war. Sein direkter Vorgesetzter, O’Neill, ließ ihm freie Hand, wie er sich in die Gangs einbrachte. Meist wurde es arrangiert, dass er gemeinsam mit einem Mitglied der Gang in einer Zelle saß. Niemals machte er den ersten Schritt bei der Kontaktaufnahme.
Um ihn in die Lopez-Gang einzuschleusen, hatten sie ihn auf dem Revier bis auf die Unterhose ausgezogen, ihm eine blutige Nase verpasst und er hatte seine rechte Hand bis zum Ellebogen in blaue Farbe getaucht. Sie schleiften ihn in die Zelle zu Gary, den sie mit etwas Gras in der Tasche erwischt hatten und der nun auf seinen Anwalt wartete, den Lopez ihm schicken würde. Er saß auf der Holzbank und stocherte mit einem Zahnstocher in seinen Zähnen herum, stierte auf die Szene, als zwei der Uniformierten Ian hereinschleiften und die Tür hinter ihm ins Schloss warfen, ohne ein Wort zu sagen. Ian trug nur Socken und eine schwarze Unterhose, war braungebrannt und ließ nur einen schmalen Streifen weißer Haut am Hintern sehen, wo seine Unterhose verrutscht war. Er schniefte atemlos durch die Nase, aus der ohne Unterbrechung das Blut tropfte, beugte sich dabei etwas nach vorn und malte Muster auf den gefliesten Fußboden. Er drehte Gary den Rücken zu, setzte sich auf die Bank, die am weitesten von ihm entfernt war, versuchte, die blaue Farbe von seiner Hand zu wischen, die aber bereits angetrocknet war. Da er voll mit seiner Nase beschäftigt war, hatte Gary genug Zeit, ihn zu beobachten, wandte blitzschnell den Blick ab, als Ian aufsah. Es waren getrocknete Blutspuren auf seiner Schulter und an seiner Brust, ebenso wie verschmierte Flecken der blauen Farbe.
„Was ist das?“ fragte Gary, nachdem er wagte, den Blickkontakt zu suchen mit dem Typen, der nur ein paar Jahre älter war als er selbst und einen irren Eindruck machte.
„Was?“ schrie Ian zurück.
Statt einer richtigen Antwort hob Gary nur die rechte Hand und drehte das Gelenk hin und her.
„Ich hab ins Klo gegriffen“, erklärte Ian mit lauter Stimme, „was denkst du denn? Lass mich bloß in Ruhe, du Clown.“ Er hatte das Gesicht halb abgewandt, verdrehte die Augen in Garys Richtung. Danach ignorierten sie sich im gegenseitigen Einverständnis.
Garys Anwalt kam, holte ihn aus der Zelle und nachdem er weg war, konnte auch Ian das Revier verlassen. Er ging etwas essen, chinesisch, weil das am schnellsten ging, danach legte er sich schlafen. Zwei Tage später bekam er von Salty die Nachricht, wo sich die Lopez-Gang aufhielt und fand sich dort ganz zufällig ein. Er lungerte an der Bushaltestelle herum, verschwand um den Block und tauchte wieder auf, es dauerte trotzdem noch einige Tage, bis Gary in der Bar gegenüber auf ihn aufmerksam wurde. Er erzählte seinem Boss von der blauen Hand, mehr nebenbei als wirklich interessiert und sie hätten ihn wieder vergessen, wäre ihnen nicht aufgefallen, dass der Typ mit der noch immer blauen Hand irgendetwas verkaufte und das gefiel Lopez überhaupt nicht.
Ian rechnete damit, in den nächsten zwölf Stunden einkassiert zu werden und seine Vorhersage traf zu. Sie verbeulten ihn etwas, um ihm klarzumachen, dass sie nicht damit einverstanden waren, dass er in ihrem Bezirk etwas verkaufte, Ian gab sich gleichgültig und meinte, er würde auch Stoff von ihnen verkaufen, wenn ein kleiner Teil davon für ihn abfiele. Lopez war misstrauisch, wollte keinen Zuwachs in seiner Bande, aber Gary mischte sich ein und wollte wieder wissen, was mit seiner blauen Hand sei, ob er sie wirklich ins Klo gesteckt habe. Ian antwortete nicht, Gary stupste ihn an, konnte sich das mit seinem Boss im Rücken erlauben.
„Ich hab ein paar Pillen in einem Eimer Farbe verschwinden lassen und die Cops haben mich gezwungen, sie wieder rauszufischen. Was wollt ihr eigentlich von mir?“
Sie waren nicht begeistert, dass Lopez ihn schließlich fragte, ob er einen Job auf Probe wolle.
Ian fing ganz klein an. Er holte Essen, wusch den Wagen und spielte ein wenig den Babysitter für Paco, der nicht allein in seiner Bude hausen wollte, seinen Zimmergenossen aber vor die Tür gesetzt hatte. Paco war so neurotisch, er hätte der Enkel von Woody Allen sein können, seine Trümmerbude hatte keine Küche aber zwei Klos, weil er mit niemandem den Abort teilen wollte. Er war überzeugt, sich irgendwas Scheußliches einzuhandeln, hatte einen unglaublichen Verbrauch an Desinfektionsmitteln, er roch sogar danach. Für gewöhnlich war er auf Speed, in seinen Taschen klimperten die Pillen und Tabletten umher und es war ein Wunder, dass er nicht pausenlos verknastet wurde.
Ian stieg nicht gerade auf in der Hierarchie, richtete sich auf Monate des Wartens ein. Lopez machte sich rar, ließ seine Gang herumlungern und den üblichen kleinen Geschäften nachgehen, in die Ian immer mehr einbezogen wurde. Einmal in der Woche holte er sich eine dicke Pizza, hockte an der Theke und sah Salty beim Teigwerfen zu, dabei gab er die Informationen über die Gang weiter. Er machte keine schriftlichen Notizen, das war zu gefährlich, konnte sich alle Einzelheiten merken. In Saltys Augen beging er damit einen Fehler nach dem anderen, nur ein Widerspruch in seinen Aussagen vor Gericht und der ganze Prozess konnte platzen.
„Bis jetzt ist noch keiner meiner Prozesse geplatzt“, sagte Ian, „du bist nicht mein Vorgesetzter, also sag mir nicht, wie ich arbeiten soll.“
„Irgendwann wirst du’s vermasseln.“
„Das sagt mir jemand, dem beim Pinkeln das Mikro aus dem Hemd gerutscht ist.“
Nach dieser Bemerkung sagte Salty nichts mehr wegen der Arbeitsmethoden, aber als die Banksache in die Hose gegangen war, war Salty der Erste, der ohne Umschweife Zweifel an Ians Arbeit aufkommen ließ. Hätten sie nur die Gang aus dem Verkehr ziehen wollen, wäre Ians Arbeit nach einem Monat erledigt gewesen, aber die DEA wollte Lopez und den Mann, der über ihm stand.
Paco erzählte wie ein Wasserfall, wenn er gut drauf war, aber Ian merkte, dass er nichts von dem glauben konnte; sein Geist war vollkommen verdreht und die anderen aus der Gang machen sich ständig über ihn lustig, ohne dass er es bemerkte. Sie waren nicht wirklich grausam, aber sie zeigten ihm, dass er nur zu ihnen gehörte, weil er Lopez’ Neffe war.
Die Gang vertrieb sich die Zeit. Alle Mitglieder gingen ihrer üblichen Beschäftigung nach, sie dealten, verhökerten heiße Ware, spielten falsch, setzten auf die falschen Pferde. Zwei von ihnen setzten sich regelmäßig nach Atlantic City ab, wo sie tagelang untertauchten und völlig abgebrannt zurückkamen, das jedenfalls behaupteten sie, wohl damit niemand auf die Idee kam, sie um Kohle anzupumpen. Chris und Rosario passten nicht in die Drogengang, sie waren eingefleischte Spieler, hatten mit Kokain nichts am Hut, nutzten die Gang nur als Rückhalt. Sie trugen nicht einmal Waffen, hatten aber immer die Rennzeitung dabei.
Wochen später, während der Hundstage, die über der Ostküste lasteten, tauchte Lopez wieder auf, sagte, er sei beim Boss in Florida gewesen und es sei nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Früh morgens rief er seine Jungs in der Bar zusammen, sie kamen durch den Hintereingang, weil alles noch abgeschlossen war. Ian hockte sich hinter die Theke, steckte sich Eiswürfel in den Mund.
„Wir gehen in die Grand National“, sagte Lopez, „Sammy, du holst die Eisen aus dem Keller.“
Ian hatte keine Gelegenheit, Salty oder eine der Notrufnummern anzurufen.
„Soll ich irgendwas vorbereiten?“ fragte er, schob den schmelzenden Eiswürfel in seinem Mund von einer Seite auf die andere, sah im Augenwinkel, wie Sammy den Lichtschalter für die Kellerräume betätigte, nach unten polterte, wo die Waffen und genügend Munition für den nächsten Weltkrieg lagerten.
„Du brauchst nichts vorzubereiten, Ian. Ich hab alles im Griff.“
„Soll ich mit in die Bank?“
„Was denkst du denn?“
Ian spuckte den Eiswürfel in den Behälter zurück, zog am Ausschnitt seines Hemdes. „Wenn die mich nur auf die Bank zukommen sehen, gehen bei denen die Sirenen los.“
Lopez nickte verdrossen und ungeduldig, wandte sich zu Paco um, der sich unablässig den Schlaf aus den Augen rieb.
„Paco, du geht mit Ian nach Hause. Ihr zieht euch was Ordentliches an und kommt hier her zurück. Dann verteile ich die Aufgaben und ich verlange von euch, dass ihr eure Ohren aufsperrt und mir zuhört. Ich werde nichts zweimal sagen.“
Den ganzen Weg zurück in die Wohnung machte Paco sich laut Gedanken darüber, was er anziehen solle, er hatte nicht wirklich gute Klamotten, befürchtete, der Boss könnte ihn nicht dabei haben wollen.
„Ich leih dir was von meinen Sachen, wenn du willst.“
„Die karierte Hose?“
Ian grinste breit und meinte: „Du wirst aussehen wie ein Papagei.“
Paco mochte bunte Klamotten, würde beim Betreten der Bank wie ein durchgeknallter Tourist aussehen. Obwohl er das schwächste Glied in der Kette war, war es nicht seine Schuld, dass der Banküberfall in einer großen Katastrophe endete.
Ian hatte die Hoffnung, ein blitzschnelles Telefonat führen zu können, während Paco die Sachen anprobierte, die er in seinem Schrank hängen hatte, er schaffte es, die Pizzeria anzurufen, wartete nervös auf das Freizeichen. In der Pizzeria meldete sich nur der Anrufbeantworter, obwohl Salty auf seinen Anschluss hätte umschalten müssen. Paco rief nach ihm, ihm blieb nicht genug Zeit und so sagte er nur auf das Band: „Hier ist Ian, Grand National.“
Es war gefährlich, eine solche Nachricht auf einem Anrufbeantworter zu hinterlassen, aber Salty würde das Band hoffentlich schnell abhören und reagieren.
Er legte auf, drehte sich um und Paco stand in der Zimmertür, in der rot-schwarz karierten Hose, hielt zwei verschiedene Hemden auf Augenhöhe. Bevor er nach Ians Meinung fragen konnte, sagte dieser: „Nimm das blaue, Paco. Du wirst die Girlies in der Bank alle verrückt machen.“
Sie waren spät dran, aber Paco wollte unbedingt noch seine Frisur stylen, machte Mätzchen vor dem Spiegel. Ian wagte es nicht ihm zu sagen, dass sie sich hoffentlich alle Masken überziehen würden und er seine Frisur nicht zeigen konnte, zerrte ihn schließlich zur Tür raus.
Mit Lopez stimmte irgendwas nicht. Sein Plan, in die Bank zu gehen, war eine Schnapsidee, denn er hatte keinen wirklichen Plan und keinen Durchblick. Er wusste offensichtlich nicht, wie viel Sicherheitsleute dort herumliefen, wo die Kameras abgebracht waren und wie der Tresor gesichert war.
Ian fürchtete, er sei der Einzige, dem das aufgefallen war, aber Rosario polkte unruhig in seinen Zähnen herum und zischte Ian zu: „Hat ihn irgendwas um hundert Jahre in die Vergangenheit geschickt? Er hört sich an, als müssten wir nur reinmarschieren, der Tresor geht von allein auf und dann reiten wir auf unseren Gäulen aus der Stadt.“
„Hast du ’ne Ahnung, was in Florida passiert ist?“
„Man könnte denken, er hat Angst um sein Leben, was?“ Rosario grinste, nahm es auf die leichte Schulter und war in Gedanken schon wieder bei der nächsten Wette und dem nächsten Kartenspiel, flüsterte mit seinem buddy Chris, blätterten gemeinsam in der Rennzeitung.
Angst um sein Leben, dachte Ian, beobachtete Lopez, der ohne Unterbrechung rauchte und zu entscheiden versuchte, wer welche Waffe bekommen sollte. Er hatte behauptet, jeder würde seinen Platz bekommen, jeder der sechs hätte seine spezielle Aufgabe in der Bank, aber es war klar, dass sie ohne wirklichen Plan während der Geschäftszeit in die Bank gingen und Geld fordern würden. Ian betete nur noch, dass möglichst wenig Kunden in der Bank sein würden und dass Salty das Band inzwischen abgehört und etwas unternommen hatte.
Paco war noch zu zugedröhnt, um zu begreifen, in was sie sich hineinwagten und die anderen hielten den Mund, um nicht den Zorn des Bosses auf sich zu ziehen. Sammy der Waffenfreak behauptete, es sei alles kein Problem, sie müssten nur schwer genug bewaffnet sein. Als die Pumpguns und Revolver verteilt waren, Lopez die Fahrer bestimmt hatte, war der point of no return erreicht.
Das war so deutlich, dass Ian einen breiten roten Strich erkennen konnte, den sie gemeinsam überschritten, das Vergangene spielte keine Rolle mehr und zum ersten Mal kam Ian der Gedanke, aus der Geschichte auszusteigen. Er sah die Tragödie kommen und da Lopez sich nicht stoppen lassen würde, schien es die einzige Möglichkeit, das Handtuch zu werfen. Keiner aus seiner Abteilung würde ihm das übel nehmen, aber wohlmöglich würden sie ihn nicht mehr in Gangs einschleusen wollen.
Es würde schon alles glatt laufen, das sagte er sich, er musste nur auf den dummen Paco aufpassen und Sammy daran hindern, ein paar Angestellte zu erschießen. War Salty geistesgegenwärtig genug, würde er die Gang von Agenten beobachten lassen und die würden Lopez noch vor der Bank abfangen. Versuchter Bankraub war besser als gar nichts, zusätzlich zu den anderen Klamotten, die Ian bereits gesammelt hatte.
Chris und Gary sollten die beiden Fluchtwagen fahren, die sie auf die Schnelle besorgt hatten, aber in der allgemeinen Aufregung kamen sie mit in die Bank und bevor Ian sie wieder nach draußen schicken konnte, platzte die Bombe. Vergeblich hatte Ian nach Leuten aus seiner Abteilung Ausschau gehalten, die mussten doch irgendwo herumrennen und verhindern, dass sie überhaupt erst in die Bank gingen, aber es blieb ihm nichts anderes übrig als Lopez Spiel mitzuspielen. Sie waren einzeln in den Schalterraum gekommen, hatten sich verteilt und auf Lopez Kommando gewartet, der in seinem blauen Anzug steif und blass aussah, er stand vor dem Service-Schalter und wagte sich nicht zu bewegen, weil er unter seinem Jackett ein ganzes Waffenlager versteckt hielt. Es gab keinen passenden Moment für den Überfall, seine Gang trödelte in der Bank herum, viel zu dick angezogen für die Jahreszeit und nervös wie Windhunde. Lopez verlor die Nerven, riss seinen Revolver raus und brüllte etwas, was er selber nicht verstand. Er hatte behauptet, sie würden keine Masken benötigen, weil sie einfach die Aufnahmen aus den Überwachungskameras vernichten würden und sie wären so schnell wieder verschwunden, dass sich niemand an ihre Gesichter erinnern würde. Ian schlenderte zu einem der Wachmänner rüber, der einem alten Mann die Tür aufhielt, um ihn aus der Bank zu lassen, machte sein freundlichstes Gesicht und wollte ihm etwas zuflüstern, als Gary und Chris hereinkamen, schnell durch die noch geöffnete Tür schlüpften und Lopez zu brüllen begann. Sie kamen in die Bank hinein, aber sie kamen nicht mehr heraus.
Chris versetzte dem Wachmann an der Tür einen harten Stoß in den Rücken, sie alle rissen die Waffen heraus und trieben die Kunden zusammen, ließen sich alle auf den Boden legen, Gesichter nach unten. Sammy schnappte sich den Filialleiter, schleifte ihn am Kragen hinter die Schalter und schrie ihn an, er solle den Tresor aufmachen. Ian versuchte den Überblick zu bewahren, aber das Chaos um ihn herum machte das nicht leicht. Lopez agierte wie ein Wahnsinniger, die Kunden und Angestellten schrieen und kreischten, egal, wie oft man sie anbrüllte, sie sollten ruhig sein. Lopez befahl Gary, das Geld aus den Schalterkassen einzusammeln und dabei ging der stille Alarm los. Den Angestellten musste klar sein, dass hier Anfänger am Werk waren, bei denen keine Reaktionen abzusehen waren. Chris und Rosario blieben dicht zusammen, hielten die Leute auf dem Fußboden, Gary rannte durch die kleinen Büros, holte die restlichen Angestellten nach vorn. Lopez schüttelte den Filialleiter, der zitternd behauptete, er würde den Tresor in den nächsten zwanzig Minuten nicht öffnen können, es sei mit einem Zeitschloss gesichert. Die Fenster waren mit Lamellen verhängt, aber einige waren zur Seite gezogen, an den Fenstern, vor denen Schreibtische standen. Ian ging einmal herum und zog alles zu, ließ die Jalousie an der Tür herunter. Paco dachte mit, holte vom Wachmann den Schlüssel und sie schlossen die Türen ab.
„Bleib in meiner Nähe“, sagte Ian, „das hier läuft nicht rund.“
Gary hatte bereits so viele Geldscheine in seiner Sporttasche, dass er kaum noch den Reißverschluss zubekam, aber die Beute lohnte sich nicht, sie bestand nur aus kleinen Scheinen.
„Tut sich was an der Tür?“ schrie Lopez und Ian rief zurück: „Alles ruhig.“
Seine Aufmerksamkeit galt dem Filialleiter, der Einzige aus der Bank, der noch auf seinen Füßen stand, um Lopez, der ihm gerade seine Knarre unter das Kinn drückte.
„Du wirst uns sofort den Tresor öffnen, kleiner Mann“, sagte Lopez, „sonst eröffnet niemand mehr ein Konto bei dir.“
Der Filialleiter schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, endlich verstanden zu werden. „Zwanzig Minuten“, sagte er, „dann kann ich den Tresorraum öffnen.“
„Gut“, tönte Lopez, zerrte den Mann nach hinten, wo es durch einen schmalen Gang zu den Büros ging. Sammy folgte ihnen, hatte seine Pumpgun ausgepackt und fuchtelte damit herum, warf einen Blick zurück und herrschte Chris an, er solle sich endlich um die Videoüberwachung kümmern.
Die beiden Wachmänner, die ebenfalls entwaffnet auf dem Boden lagen, wagten sich nicht zu rühren und Ian zischte ihnen zu, sie sollten sich nicht bewegen und nicht die Helden spielen. Er hatte ihnen die Revolver abgenommen, wollte sie einstecken, aber Gary nahm sie ihm ab, meinte, er hätte dafür eine bessere Verwendung. Währenddessen suchte Chris den Raum, in dem die Videos aufgezeichnet wurden, konnte den aber nicht finden, schnappte sich eine der Angestellten und ließ sich führen. Die Frau konnte ihm sagen, hinter welcher Tür die Geräte standen, aber sie hatte keinen Schlüssel.
„Wer hat den Schlüssel?“
„Der Sicherheitsdienst.“
„Die beiden Pfeifen?“
„Nein, der Sicherheitsdienst, der erst nach Dienstschluss kommt.“
Chris dachte an die vielen Rennen, die ihm durch die Lappen gingen, schob die Frau beiseite und schoss ein Loch in das Türschloss. Ian warf einen Blick durch die Lamellen nach draußen, entdeckte, dass sich dort ein ganzes Einsatzkommando der Polizei versammelt hatte und Lopez hatte nicht einmal das Geld aus dem Tresor. Beim Schuss zuckten sie alle zusammen, einige der Frauen schrieen kurz auf. Die Frau, die Chris den Videoraum gezeigt hatte, kam zurückgelaufen, rief: „Es ist nichts passiert, er hat nur die Tür aufgeschossen.“
Ian deutete ihr, sie solle wieder zu den anderen gehen. Mittlerweile hatte Paco einen glasigen Blick, schwitzte in dem Polyesterhemd, wollte es aber nicht ausziehen.
„Draußen ist die Kavallerie aufmarschiert“, flüsterte Ian, „wenn die hier reinkommen, machst du die Flunder, ist das klar? Du behältst deinen Schädel unten, dann passiert dir nichts. Die Cops werden auf jeden schießen, der herumläuft und mit einer Waffe rumfuchtelt.“
„Okay“, sagte Paco, „aber ich wette mit dir, wir sind hier schneller draußen, als die sich vorstellen können.“
„Was will Lopez mit dem Geld?“
„Er muss es zurückzahlen“, flüsterte Paco, „er hat Schulden bei dem Boss in Miami.“
Das allein war der Grund für den Banküberfall.
Mit dem Schrillen des Telefons begann die wirkliche Belagerung der Bank. Lopez kam aus dem Tresorraum geschossen, die Mündung seiner Waffe deutete erst zur Tür, dann zur Decke, bis er begriff, dass niemand hereingekommen war. Das Telefon klingelte noch einige Male, bis Lopez endlich abhob und er sich mit einem „Ja?“ meldete. Irgendein Polizeipsychologe sprach mit ihm, wollte ihn zur Aufgabe überreden, aber Lopez Reaktion machte seine Bemühungen zunichte. Er schrie wie ein Irrer, riss das Kabel aus der Wand und schleuderte den Apparat durch den Raum. Er schlitterte Rosario vor die Füße, der ihn weiterkickte und zu kichern begann, weil er an eine Szene aus einem namenlosen billigen Horrorfilm denken musste, wo ein menschlicher Schädel von zwei Typen hin und her gekickt wurde, dabei überall Blutspuren hinterließ. Rosario bekam eine dicke Gänsehaut, ihm wurde klar, dass er aus diesen Räumen nicht lebend herauskommen würde. Es würde kein Filmblut an die Wände spritzen, es würde sein eigenes sein. Das konnte er so deutlich sehen, als hätte er Pillen aus Pacos Geheimvorrat genommen. Dieses Gefühl der Vorahnung war etwas ganz neues für ihn und er bedauerte es nur, es nie bei den Pferderennen und Boxkämpfen ausprobieren zu können. Chris und er waren schon seit der Schule befreundet, sie hatten sich nie wirklich Sorgen wegen etwas in ihrem Leben gemacht, immer von der Hand in den Mund gelebt und alles dem Zufall überlassen. Er pfiff Chris zu sich, der aus zwei Videocassetten gleichzeitig die Bänder herauszog, es sich dabei um die Faust wickelte.
„Die Kameras laufen noch“, sagte er, „aber es wird nichts mehr aufgezeichnet.“
„Das hier war ’ne Scheißidee, Mann. Können wir durch den Personaleingang abhauen? Jetzt gleich?“
Lopez hatte die Zentrale stillgelegt, aber die Cops versuchten es noch einige Male über die Nebenstellen, bis die Apparate zerstört waren und sie endlich ihre Ruhe hatten. Sammy kam mit dem Filialleiter in den Schalterraum zurück, verkündete begeistert, dass der Tresorraum auf sei und sie sich nehmen konnten, was sie wollten. Er hatte vor, einige der Schließfächer zu knacken, hoffte, Diamanten und Gold zu finden. Ian folgte Lopez in den Tresor.
„Wie kommen wir raus?“ fragte er, dabei war es ihm egal, wie aufdringlich und nervig er sein mochte, „da draußen stehen die Cops in Dreierreihe.“
Lopez hatte keinen Plan. Er hatte von Anfang an keinerlei Kontrolle gehabt, hatte den Fluchtwagenfahrern nicht klar genug gesagt, dass sie mit ihren Ärschen in den Wagen sitzen bleiben sollten, hatte keinen Zeitplan für einen schnellen Überfall entwickelt. Jetzt nach einem Fluchtplan zu fragen konnte nur lächerlich sein. Lopez stierte ihn an, er hatte längst sein Jackett ausgezogen und weggeworfen, seine Pistole steckte vorn im Hosenbund.
„Wir können uns den Weg mit den Geiseln freimachen“, sagte er, versuchte überzeugt von der Idee zu klingen.
„Ich setze keinen Schritt vor die Tür“, rief Gary, „die wissen da draußen doch gar nicht, was wir wollen. Sobald wir die Tür auch nur aufmachen, sind wir tot.“
„War klug von dir, alle Telefone rauszureißen“, bemerkte Chris. Lopez wirbelte herum und brüllte: „Was wird das, ’ne Meuterei? Ihr haltet alle das Maul, verstanden?“ Er schwenkte einmal mit seiner Kanone von einem zum anderen, dann stampfte er in den Tresor zurück, steckte sich soviel Geldscheinbündel wie möglich in den Rucksack, den er sich sorgfältig auf den Rücken schnallte. Er stieß den Filialleiter zu seinen Angestellten, setzte sich auf dessen Schreibtisch und tat so, als müsse er nachdenken, aber in Wirklichkeit konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Als das Licht auf einen Schlag ausging und die Klimaanlage verstummte, schrie er Sammy zu sich. Sie fühlten sich plötzlich wie in einer Gruft. Paco war der erste, dem die Knie weich wurden, er setzte sich auf den Boden und warf trocken ein paar seiner Pillen ein. Die Wanduhr zeigte ihnen, wie lange sie in dieser Falle saßen, aber die erlebte Zeit war sehr viel länger. Es schien Stunden zu dauern, in denen Sammy und der Boss darüber diskutierten, wie sie aus der Bank rauskommen sollten, welche Geisel sie mit den Forderungen rauschicken konnten und was sie überhaupt fordern wollten. Irgendwann verloren sie den Faden und Lopez schrie plötzlich: „Wer von euch hat uns verpfiffen? Wieso waren die Bullen so schnell da?“
Der Filialleiter hob den Kopf, Ian sah es im Augenwinkel und kam ihm zuvor.
„Die Schalterkassen könnten präpariert sein“, sagte er, „dann löst sich der Alarm aus, wenn man den letzten Schein aus dem Fach nimmt. Gary hat den Alarm ausgelöst, ohne es zu wollen.“
„Ich komm dir gleich da rüber, du Arschloch“, brüllte Gary aufgebracht. Die Tasche mit dem Kleingeld hatte er gut sichtbar auf den ersten Schalter gelegt, damit er sie immer im Auge hatte, misstraute den anderen, die ihm etwas wegnehmen könnten.
„Es stimmt, was er sagt“, meldete sich einer der Angestellten ohne den Kopf zu heben und ohne jemanden anzusehen, „wir haben so ein Sicherheitssystem.“
„Und wieso hast du uns nicht gewarnt, wenn du dich so gut auskennst?“
„Wer hat denn behauptet, alles im Griff zu haben?“ schrie Ian zurück.
Eine der Frauen begann zu weinen, versuchte dabei leise und unauffällig zu bleiben, aber nachdem der Damm bei ihr einmal gebrochen war, konnte sie sich nicht mehr zusammenreißen. Die Männer, die neben ihr waren, bemühten sich sie zu beruhigen, machten es aber nur noch schlimmer. Sie robbte in ihrem edlen Kostüm von ihnen weg, hörte die Warnungen von Chris und Rosario nicht mehr. Ihr Kopf war nur noch angefüllt mit den eigenen Schluchzern und dem enormen Druck, der ihr die Tränen aus herauspresste. Lopez fuchtelte herum, schrie sich die Seele aus dem Leib, aber niemand achtete mehr auf ihn, Ian brüllte sich mit Gary an, die anderen standen herum, besahen sich hilflos das Chaos. Schließlich ballerte Lopez einmal in die Decke, ereichte damit sein Ziel, dass er wieder die Oberhand hatte, aber draußen vor der Tür konnte Ian es förmlich in Panik wimmeln sehen. Die Cops wussten nicht, ob hier nacheinander Geiseln erschossen wurden.
„Jetzt hört ihr mir alle mal zu“, sagte Lopez, „ich habe hier das sagen und wir machen, was ich will. Ich hab euch hier rein gebracht und sorge auch dafür, dass wir alle wieder rauskommen, mit dem Geld. Verstanden?“
Bis auf die weinende Frau war nichts zu hören, niemand wagte sich zu rühren. Lopez sah sich um, nickte zufrieden.
Na bitte, dachte er, geht doch.
„Ich hab einen Plan“, fuhr er fort, „wir schicken eine Geisel mit unseren Forderungen nach draußen. Am besten die Heulsuse, wenn wir die los sind, ist uns allen geholfen. Chris, du schreibst auf, was ich dir sage.“
Sie setzten sich an einen der Schreibtische, wo sie auf dem Briefpapier der Bank die Forderungen niederschrieben. Rosario umrundete wie ein Tiger die Gruppe der Geiseln, konnte aber nicht auf jeden einzelnen ein Auge haben, Ian machte eine Kopfbewegung zu ihm herüber und hockte sich zu der weinenden Frau, die bis an die abgeschaltete Klimaanlage gekrochen war.
„Hören sie“, flüsterte er, „beruhigen sie sich. Atmen sie ganz langsam ein und aus, ganz langsam. So ist es richtig. Es ist alles halb so schlimm.“
Er wagte sie nicht zu berühren, aber dass er bei ihr saß, schien sie nicht weiter zu beunruhigen. Ihr Gesicht war verheult, das Make-up bis zur Unkenntlichkeit verschmiert, wenn sie sich so sehen könnte, würde sie keinen Fuß vor die Tür setzen.
„Wie heißen sie?“ fragte Ian.
„Elena. Ich darf sie nicht ansehen. Wenn ich sie ansehe, kann ich mich an ihr Gesicht erinnern und dann werden sie mich umbringen.“
„Niemand wird sie umbringen, Elena. Wir werden sie nach draußen schicken und alles, was sie zu tun haben, ist denen zu sagen, was hier vor sich geht.“
„Was soll ich sagen?“ Sie wischte unter ihren Augen herum, weinte nicht mehr, versuchte sich zu ordnen. Elena war in die Bank gekommen, um Geld für ihren Einkauf abzuheben, ihre Mittagspause war seit Stunden überzogen und jetzt überlegte sie, was sie ihrem Boss erzählen sollte. Das würde er ihr nicht abkaufen, nie im Leben.
„Sie sagen einfach nur, was hier abgeht. Das alle sehr nervös und gereizt sind. Schaffen sie das?“
„Hey“, schrie Sammy, „was quatscht du da rum mit ihr?“
Ian ignorierte ihn, aber er hatte Mühe dabei. Elena schluckte und antwortete tapfer: „Ich schaffe das. Sie lassen mich wirklich gehen?“
„Sie bekommen unsere Forderungen und dann gehen sie raus. Machen sie sich keine Sorgen, Elena.“
Er wollte nicht unbedingt Elena beruhigen, eher sich selbst, weil er nicht in der Lage war, der Geisel die Nachricht mitzugeben, dass er ein DEA-Agent war. Er konnte Salty nur verfluchen, dass er nicht rechtzeitig reagiert hatte.
„Seid ihr endlich fertig?“ rief Ian zu Sammy hinüber, der nervös bei der Tür stand, mit der Pumpgun herumhantierte. Er zog Elena hoch, brachte sie wieder auf die Füße und deutete ihr, sie solle ihren hoch gerutschten Rock wieder runterziehen. Später würde sie dem Einsatzleiter erzählen, dass der Bankräuber, der sie zu beruhigen versucht hatte, den Eindruck gemacht hatte, der sei eigentlich ein netter Kerl und sie fand es seltsam, dass er sie noch dazu angehalten hatte, den Cops einiges mehr zu erzählen.
„Ich dachte einen Moment, er würde noch darum bitten, dass ich mit die Gesichter seiner Kollegen gut einprägte, um sie alle identifizieren zu können.“
Chris Handschrift war nicht die beste und es war keine Zeit, es alles noch mal neu zu schreiben. Ian wollte einen Blick darauf werfen, aber Lopez hinderte ihn daran, riss den Brief an sich, faltete ihn zusammen und steckte ihn Elena mit einer unbeherrschten Bewegung in den Ausschnitt.
„Und jetzt raus mit ihr“, sagte er.
Der Schlüssel steckte noch im Schloss, aber keiner wollte aufschließen, aus Angst, direkt abgeknallt zu werden und Ian übernahm es. Elena bewegte sich nicht auf die Tür zu, nachdem Ian den Schlüssel herumgedreht hatte. Sie war paralysiert wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
„Kommen sie“, sagte er, „ich halte ihnen die Tür auf und rufe, dass sie rauskommen. Das wird ein Spaziergang für sie.“
Elena zögerte noch immer. Sie stand drei Meter vor der Tür, sah zu den ausharrenden Geiseln hinüber, als wünsche sie sich, bei ihnen untertauchen zu können. Sammy klemmte sich seine Pumpgun in die Armbeuge, packte Elena mit der freien Hand am Oberarm und zog sie einfach auf die Tür zu, zischte ihr dabei ein paar Dinge ins Ohr, die nicht nett klangen. Sie flüchtete praktisch vor ihm nach draußen, nachdem Ian die Tür aufgezogen und gerufen hatte, dass eine Geisel raus käme. Er wagte es einen Blick nach draußen zu werfen, Elena schoss an ihm vorbei, fiel fast die Treppe zum Eingang herunter und von allen Seiten kamen Uniformierte Einsatzkräfte zu ihr gestürmt, um sie aus der Schusslinie zu bekommen.
„Mach die Tür zu!“ schrie Lopez.
Sammy rempelte ihn an, warf die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel um, Ian rappelte sich gerade wieder hoch und sah noch im Augenwinkel, wie Sammy den Fuß hochriss und den Schlüssel im Schloss abbrach.
„Das war die beste Idee seit langem“, sagte Ian.
„Warum wird das so heiß hier drin?“ rief Paco aus der Ecke.
Sie hatten ihm keine Knarre in die Hand gegeben, wenigstens so viel Verstand hatte Lopez besessen. Er wagte sich nicht an die Geiseln heran, lief nur herum, wurde dabei immer nervöser und vergaß Ians Warnung, in seiner Nähe zu bleiben.
„Die haben uns den Strom abgeschaltet“, sagte Ian, „und wenn die Sonne untergeht, werden wir uns gegenseitig auf die Füße treten.“
„Dann sagen wir ihnen, dass sie ihn wieder anstellen sollen.“
Ian sagte darauf nichts, warf nur einen Blick zu Sammy hinüber, der den Schlüssel abgebrochen hatte. Sie saßen alle in der Falle. Längst hatten die Geiseln es aufgegeben, mit dem Gesicht nach unten herumzuliegen, sie alle waren ängstlich, aber mit wachsendem Interesse verfolgten sie, was in der Gang vor sich ging. Chris und Rosario saßen in der Ecke beim Wasserspender, die Waffen hatten sie vor sich hingelegt, Gary knuffte seine Geldtasche und träumte davon, sie mit vollen Händen auszugeben. Lopez nickte unwirsch, als der Filialleiter um Wasser bat und dann verbrachten Chris und Rosario eine ganze Weile damit, Wasser in die Plastikbecher zu zapfen und es an alle zu verteilen. Als jeder getrunken hatte, war der Wasserbehälter fast leer. Sie legten Kleidung ab bei der steigenden Temperatur.
„Wann lassen die uns raus?“ wollte Paco wissen, „was habt ihr aufgeschrieben?“
„Fluchtwagen und freie Straßen, und das in der nächsten Stunde, sonst erschießen wir die erste Geisel.“
Ian seufzte tief, atmete einige Mal durch und zog Paco beiseite, der noch mehr unnötige Fragen gestellt hätte. Chris sah auf und rief: „Was heißt, wir erschießen die erste Geisel? Übernimmst du das, Boss?“
„Wenn du nicht das Maul hältst, kannst du es machen.“
„Es hat keinen Sinn“, murmelte Rosario, „wir kommen hier sowieso nicht mehr raus.“
„Der Plan mit dem Fluchtwagen war doch nicht schlecht, oder?“
„Es wird nicht klappen.“
Ian holte Paco einen Becher Wasser, wechselte mit den beiden abschätzende Blicke, ob sie auf seiner Seite wären, sollte er versuchen, Lopez und Sammy zu überwältigen.
Paco wollte nichts trinken, aber er zwang ihn dazu. Er sah fürchterlich aus, hatte schon wieder zu viele Pillen eingeworfen und trotzdem kümmerte Lopez sich nicht um seinen Neffen, verbrachte die nächste Stunde damit, auf das Verstreichen des Ultimatums zu warten. Eine dreiviertel Stunde verging und Paco flüsterte: „Tun die gar nichts, da draußen?“
Ian hatte sich neben ihn gesetzt, behielt Lopez im Auge.
„Die melden sich schon, aber ich wette, die halten uns hin. Lopez wird seinen Wagen nicht bekommen, zumindest nicht in dieser einen Stunde.“
„Er wird jemanden töten.“
„Davon können wir ihn abbringen.“
„Schalten die den Strom wieder ein?“
„Vielleicht schalten sie alles wieder ein, wenn wir die Frauen gehen lassen.“
Als sie von draußen die Stimme über den Lautsprecher hörten, war Paco auf dem Fußboden eingeschlafen, wurde nicht einmal wach, als alle Mann zur Tür rannten, um hören zu können, dass der Fluchtwagen noch nicht bereit sei, sie noch etwas Zeit bräuchten, und wenn noch ein funktionierendes Telefon in der Bank war, solle man Kontakt aufnehmen.
„Wir wissen nicht, ob das ’ne Falle ist“, sagte Sammy, „was machen wir, Boss?“
Lopez war Drogenhändler, hatte mit Geiselnahme noch nie etwas zu tun gehabt, aber er wollte nach Ablauf der Stunde nicht wie ein Lügner dastehen, suchte in den leerstehenden Büros nach einem intakten Telefon und fand eines. Über die Notrufnummer wurde er weiterverbunden und landete beim Einsatzleiter, der furchtbar verständnisvoll tat und um ein weitere halbe Stunde bat, dann würde der Fluchtwagen vor der Tür stehen. Lopez gewährte die halbe Stunde, vergaß, Trinkwasser und Essen zu fordern und es kam ihm auch nicht in den Sinn, den Strom wieder einschalten zu lassen. Er legte auf, zog sich schnell noch etwas durch die Nase und trat in den Kassenraum zurück. Vor der Ecke, in der sich die Geiseln gesammelt hatten, blieb er stehen. Sie sahen alle müde aus, zwölf oder dreizehn Seelen, die nur nach Hause wollten, sie wünschten, sie hätten mit Elena rauslaufen dürfen. Die Männer hatten sich Jacken und Schuhe ausgezogen, einige der Frauen saßen auf dem Boden ohne Rücksicht darauf, dass man nackte Beine und etwas mehr sehen konnte. Alle erinnerten sich an die ausgesprochene Drohung, die erste Geisel zu erschießen. Der Typ in dem durchgeschwitzten Anzug, den sie Boss nannten, war ruhiger als noch Stunden zuvor, sah von einem zum anderen und niemand hätte damit rechnen können, dass er auf die große Wanduhr starrte, wartete, bis die digitale Anzeige umsprang und er dem Mann, der direkt vor ihm saß, in den Kopf schoss.

Ian war wie gelähmt. Alle anderen versuchten, die hysterischen Geiseln zu beruhigen, trieben sie aus dem Schalterraum in das dahinter liegende Büro des Filialleiters, in dem sie nur die Tür bewachen mussten und dann ihre Ruhe hatten. Sammy sagte zu Ian, er solle bei dem Toten mit anfassen. Es war ein Albtraum, der ihn direkt in seine Kindheit zurückkatapultierte. Der Tote war einer der Angestellten, hatte erst vor acht Monaten bei der Bank angefangen, sich wirklich bewährt und ein Verhältnis mit der Bedienung im Restaurant gegenüber angefangen. Das Loch in seiner Stirn war pennygroß, er sah aus, als würde er mit offenen Augen schlafen, aber die Blutlache hinter ihm an der Schreibtischrückwand sagte etwas anderes. Ian konnte mit dem Blut und Gewebe umgehen, aber sein Magen drehte sich einmal komplett um, als er den Mann bei den Achseln packte und er sich wie ein loser Sack Kartoffeln anfühlte. Die Arme schlenkerten in der Bewegung vom Körper weg, Knöchel rutschten über den glatten Boden. Sammy hatte die Füße gepackt und sie sich unter die Arme geklemmt, gemeinsam trugen sie ihn zur Personaltoilette. Ian bemühte sich, seinen Teil der Leiche höher zu halten, damit ihm der blutige Kopf nicht zwischen den Beinen herumbaumelte. Der leere Blick in dem toten Gesicht war schlimm genug. Sie stemmten ihn in eine der Kabinen, setzten ihn würdelos auf die Toilettenschüssel und ließen die Tür hinter sich zufallen.
Die fünf Frauen und sechs Männer hockten dicht gedrängt in dem Büro, Ian warf einen Blick zu ihnen hinein, dankte Gott, dass sie keine Kinder oder Schwangeren darunter hatten, sie alle sahen stabil aus, keiner würde mit einem Herzkasper zusammenklappen.
Gary, der noch immer mit drei Revolvern herumrannte, campierte vor der Tür, kam sich dabei vor wie ein Schäferhund, der auf eine Herde Schafe aufpassen musste. Es machte ihm nichts aus, obwohl er lieber im Kassenraum geblieben wäre, in der Nähe von Lopez, der nach dem tödlichen Schuss auf die Geisel, die Ruhe in Person war und an den sich die anderen schon nicht mehr heranwagten.
„Was mach ich, wenn die aufs Klo wollen?“ fragte Gary, sah Ian so vorsichtig an wie damals in der Zelle.
„Schließ die Tür ab und bring sie einzeln auf die Toilette“, antwortete Ian, „sei nett zu ihnen, Okay. Die haben schon genug Angst.“
„Okay“, sagte Gary.
Als Ian schon wieder verschwinden wollte, pfiff Gary ihn zurück, gab ihm wortlos einen der Revolver, den er den Wachmännern abgenommen hatte. Ian band sich das Hemd um die Hüfte, steckte den Revolver gut sichtbar in den Hosenbund. In seinem Kopf liefen einige der alten Erinnerungen ab. Er war eingeschlossen, musste mit einem Mörder zurechtkommen, der so unberechenbar war, dass Ian ihm am liebsten auch eine Kugel durch den Schädel gejagt hätte, schon aus Gerechtigkeit. Das hier war nicht die erste brenzlige Situation, in der er steckte, aber da hatte er Rückhalt von außen gehabt.
Kaum war er zurück in der Schalterhalle, rief Lopez ihn zu sich herüber, winkte mit dem Revolver in seine Richtung.
„Was ist?“ fragte Ian, sah Paco noch in der Ecke liegen, wo er in Sicherheit schlief.
„Wo habt ihr die Leiche hingebracht?“
„In eine Klokabine.“
„Dir hat’s nicht gefallen.“
Ian verschränkte die Arme, kam dabei mit dem Unterarm an den Griff des Revolvers und er sah vor seinem inneren Auge, wie er den Revolver einfach zog, ansetzte und abdrückte. Ian hatte schon einige Male auf Menschen geschossen, aber immer in Notwehr. Der einzige Grund, es nicht zu tun, war die Überlegung, sein Handeln seinen Vorgesetzten gegenüber erklären zu müssen. Sie hatten ihm schon wegen kleinerer Eskapaden die Ohren langgezogen. Keine Frage, dass Lopez es verdient hätte, aber Ians Aufgabe war es immer noch, ihn und seinen Boss in Florida zu überführen. Er zwang sich in die Rolle des Ian Watts zurück.
„Was soll mir nicht gefallen haben?“
„Dass ich den Kerl erledigt habe.“
„Es hat mir auch schon nicht gefallen, dass wir überhaupt in die Bank gegangen sind. Ich arbeite auf der Straße, da kenn ich mich aus. Alles, was ich jetzt weiß, ist, dass wir bis zum Hals in der Scheiße stecken und dass da vor der Tür schon das FBI wartet.“
„Woher willst du das wissen?“
„Bei Bankraub und Geiselnahme? Ich bin nicht blöde.“
Lopez Mundwinkel zogen sich immer weiter nach unten, seine ständige Angewohnheit, die Nase hochzuziehen, steigerte sich in ein lautes Schniefen.
„Sonst noch was?“
„Wenn du schon fragst... wenn die Bullen draußen nicht erfahren, dass du nach Ablauf der Frist einen Mann erschossen hast, war der Mord vollkommen umsonst.“
Ian deutete Richtung Personalausgang.
„Und der geht ganz allein auf deine Kappe.“
Lopez schnellte aus dem Drehstuhl nach vorn, riss Ian nach hinten auf den Boden, trat und schlug auf ihn ein, klemmte ihm den Unterarm unter das Kinn und zog ihm den Kopf in den Nacken.
„Ian, mein Freund“, murmelte er, „ich könnte dir jetzt gleich den Hals brechen und eventuell würde ich mich später deswegen schlecht fühlen. Ich habe hier alles im Griff, ich bin wach und habe meine Augen überall. Wenn du nicht spurst, werde ich dir noch ein paar Narben verpassen. Und das wird mir dann richtig Spaß machen. Hast du das verstanden?“
„Klar“, flüsterte Ian heiser.
„Hast du jetzt immer noch was zu sagen?“
Es wäre klüger gewesen, nein zu sagen und zu hoffen, dass Lopez ihn wieder los ließ, aber Ian Watts erwiderte: „Wenn wir uns jetzt nicht ergeben, Boss, und mit den Geiseln rausgehen, solange es noch hell ist, sind wir alle tot.“
Lopez brach ihm nicht das Genick, aber er knallte ihm das Gesicht auf den Fußboden.
„Sammy“, schrie er, blieb auf Ians Rücken hocken, der das Bewusstsein verloren hatte, „du nimmst dir eine Geisel, die dir die Tür vom Personaleingang aufmacht und dann schmeißt du die Leiche raus.“
„Aber...“
„Hast du mich nicht verstanden?“
 
Wenn du registriert und angemeldet bist und selbst eine Story veröffentlicht hast, kannst du die Stories bewerten, oder Kommentieren. Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diese Story kommentieren.
Weitere Aktionen
Wenn du registriert und angemeldet bist, kannst du diesen Autoren abonnieren (zu deinen Favouriten hinzufügen) und / oder per Email weiterempfehlen.
Ausdrucken
Kommentare  

Du beschreibst den Rückblick wie Ian als Undercoveragent in die Unterwelt eintaucht lebensecht und sehr plastisch. Das Ende dieses Kapitels ist recht herb. Werde gleich weiterlesen.

doska (19.05.2009)

Login
Username: 
Passwort:   
 
Permanent 
Registrieren · Passwort anfordern
Mehr vom Autor
Fisteip - Inhaltsangabe  
Das Haus auf der Klippe - Inhaltsangabe  
Hanami - trauriges Kirschblütenfest - WIEDER KOMPLETT EINGESTELLT  
Mein kurzes Leben mit einem Vampir  
Winterreifen für Schubkarren  
Empfehlungen
Andere Leser dieser Story haben auch folgende gelesen:
---
Das Kleingedruckte | Kontakt © 2000-2006 www.webstories.eu
www.gratis-besucherzaehler.de

Counter Web De