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16 Seiten

Point Hope - Teil 7

Romane/Serien · Spannendes
Als Ian aufwachte, war es um ihn herum still und dunkel. Er stemmte sich hoch, schmeckte Blut im Mund und sein Schädel steckte in einem Schraubstock. Er horchte in die Dunkelheit hinein, fand es schwierig aufzustehen, ohne sich irgendwo festhalten zu können. Sein Gleichgewicht war durcheinander. Der Schraubstock lockerte sich etwas, dafür setzten die hämmernden Schmerzen ein. Dass es schon so dunkel war, ließ ihn überlegen, er könnte einige Stunden weg gewesen sein. Er räusperte sich den Hals frei und selbst das tat weh.
Jemand rief: „Bist du wach?“ und ein Taschenlampenlicht blendete ihn.
„Ich weiß nicht, ob ich noch lebe“, sagte er, „bist du das, Chris?“
„Komm her, wir haben uns in das Büro verkrochen, seit das Licht weg ist. Der Boss meinte, wir sollen dich liegenlassen.“ Das Licht kam auf ihn zu, aber er erkannte Chris erst, als dieser die Taschenlampe umdrehte und sich selbst anleuchtete, dabei komische Fratzen machte.
„Es ist noch heißer geworden“, sagte Ian, rieb sich den überdehnten Nacken, „was ist passiert, nachdem der Boss mir den Gong verpasst hat?“
Chris leuchtete ihm ins Gesicht, schwenkte wieder zu Boden, als er sah, wie Ian die Augen zukniff. Lopez hatte ihm das Gesicht blutig geschlagen, eine Augenbraue war aufgeplatzt, das Blut war ihm den Hals herunter gelaufen.
„Er hat sich wieder beruhigt, aber als wir den toten Kerl nach draußen geworfen haben, ist auf der Straße die Hölle losgebrochen. Ich hatte Schiss, die würden den Laden stürmen. Der Boss hat mit ihnen telefoniert und sie angebrüllt, mit dem Erfolg, dass wir noch immer keinen Fluchtwagen haben. Jetzt verlangen die Cops, dass wir erst ein paar der Geiseln gehen lassen.“
„Verdammte Scheiße.“
In dem Büro hatten sie ein paar Kerzen (alte Weihnachtsdekoration, die sie gefunden hatten) aufgestellt, um überhaupt etwas zu sehen, die Geiseln saßen am Fenster, die meisten schliefen oder Lopez hatte noch ein paar ohnmächtig geschlagen. Es war heiß wie in einer Backröhre.
Sammy und der Boss standen beim Aktenschrank, hatten Ordner und Unterlagen rausgerissen und auf dem Boden verstreut, die anderen saßen herum, kratzten sich die Hintern oder spielten mit den Waffen herum. Ian setzte sich an die Tür, entdeckte in der Innenseite seiner Unterlippe einen fransigen Riss und wusste, wo der Blutgeschmack herkam, grunzte dann nichts sagend, als Rosario meinte, er säe aus wie ein angestochenes Schwein. Er fuhr sich durch das Gesicht, das Blut war angetrocknet, aber die offene Augenbraue begann zu brennen.
Äußerlich schaltete Ian ab, als er da an der Wand hockte, starrte mit halboffenen Augen vor sich hin, in seinem Inneren herrschte ein furchtbares Chaos, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte. Um ihn herum war alles verschwommen und unwirklich, die Töne bis zur Lächerlichkeit verzerrt. Ian wollte auf nichts mehr reagieren müssen, was von außen kam, also konzentrierte er sich auf die Bilder in seinem Inneren. Er sah seine Geschwister, war wieder unter ihnen und er war wieder acht Jahre alt, in kurzen Hosen und mit Schuhen ohne Socken. Er war so klein, dass sein Dad ihm wie ein Riese vorkam, ein Riese, zu dem er stets aufsehen musste.
„Sobald es wieder hell wird“, sagte Lopez, „werde ich den Fluchtwagen verlangen und dann marschieren wir hier raus, dann hatten sie genug Zeit. Wenn wir dann noch immer keinen Wagen bekommen, nimmt sich jeder eine Geisel und wir nehmen uns alles, was sich uns in den Weg stellt.“
Er warf einen Kugelschreiber in Ians Richtung.
„Kommentare?“
Er war zufrieden, als Ian nicht reagierte. Der Boss zog sich seine letzte Linie in die Nase, klopfte sich die Hände ab und schien sich auf den Showdown zu freuen, aber Paco machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er war nur noch ein einziges Nervenbündel, tigerte auf einmal hin und her, nachdem er nur in der Ecke gesessen und sich unablässig die Beine gekratzt hatte; plötzlich schrie er irgendetwas und raste nach draußen, über den Flur zurück in die Schalterhalle. Es war noch immer Ians Aufgabe, sich um ihn zu kümmern, aber Lopez musste ihn mehrmals anbrüllen, bis er wach wurde und ihm folgte. In der Dunkelheit konnte Ian ihn nicht sehen, nur irgendwo schluchzen hören wie ein verlorenes Kind. Er klang wie der kleine Andrew und Ians Gedanken blockierten einen Moment lang. Wie kam Andy in die Bank?
„Andy?“ rief er, dann begriff er, was los war und sagte: „Paco? Komm wieder her, Mann, wir packen das schon.“
Hinter den Jalousien blinkten Lichter, die von den abgestellten Streifenwagen und Scheinwerfern kamen, Ian tastete sich darauf zu. Er trug nur das Unterhemd und die Hose am Körper, die Waffe hatte Lopez ihm abgenommen; mit einem lautlosen Stoßgebet ging er zur verriegelten Tür und zog die Jalousien hoch. Das einfallende Licht reichte aus, um Paco auszumachen, der aus dem leeren Wasserspender noch etwas herauszuholen versuchte. Ein grelles Licht blendete Ian, als er schutzlos in der Glastür stand, er konnte nichts mehr sehen, hob die Hände an das Glas und hoffte, Salty oder jemand aus seiner Abteilung wäre da draußen. Sie würden nicht ohne Rücksicht auf Verluste hereinstürmen, wenn sie Gefahr liefen, auf einen DEA Agenten zu schießen. Ihm blieben nur Sekunden, sich an der Tür zu zeigen, ein paar Gesten zu machen, die man während der Ausbildung lernte, ebenso wie die Funkcodes und alles andere. Dann ließ er die Jalousie herunter, holte Paco vom Trinkwasserspender weg und brachte ihn zurück.

**
Der Einsatzleiter des FBIs stand gehörig unter Druck, nachdem die Geiselnehmer einen Toten vor die Tür geworfen hatten, obwohl sie dem verlängerten Ultimatum zugestimmt hatten; Sie hatten es mit Psychopathen zu tun. Elena hatte ihnen nur sagen können, dass es etwa fünf Mann waren, aber als sie sie beschreiben sollte, war sie weinend zusammengebrochen. Einer von ihnen habe ihr aufgetragen, alles ganz genau wiederzugeben, aber nach ihrem Zusammenbruch bedachte niemand mehr an ihre Hilfe als Zeugin. Ein Kollege, der zufällig in New York gewesen war, wurde dazu gerufen, stellte sich als Nick Reining vor und hörte sich geduldig alles an, was sie bisher raus gefunden hatten. Über Lüftungsschächte hatten sie ein paar Infrarotkameras eingeschleust, die den Kassenraum und das Büro mit den Geiseln kontrollierten und sie wurden Zeugen der Auseinandersetzungen und Spannungen. Der Mann, den sie als den Anführer identifizierten, kokste ohne Ende. Nachdem er einen seiner eigenen Männer angegriffen und niedergeschlagen hatte, ließ er die Leiche des Bankangestellten nach draußen bringen.
„Haben wir auch den Mord auf Band?“ fragte Reining.
„Nein, die Kameras waren erst einsatzbereit, nachdem der Schuss gefallen war. Hätten wir das abschätzen können, wären wir sofort mit Blendgranaten rein gegangen.“
Sie warteten ebenfalls, mit nicht minder angespannten Nerven. Als Ian Paco nachlief, beugte Agent Reining sich vor und tippte auf den Bildschirm.
„Da tut sich was.“
Ian erschien an der Eingangstür, der Scheinwerfer richtete sich auf ihn, ebenso wie ein paar Videokameras und Feldstecher. Reining sah die leeren Hände gegen das Glas gepresst, keine Geisel in der Nähe, dann die schnellen Zeichen vor dem Körper, bevor die Jalousien wieder nach unten sausten.
„Was war das?“ fragte er, setzte sich an einen der Monitore und sah sich die Videoaufnahmen an. „Ihr könnt mich jetzt alle für verrückt halten“, sagte er, „aber der will uns doch irgendwas sagen, oder?“
Einer aus dem Squad-Team sah ihm über die Schulter und erklärte: „Das sieht aus wie ‚Mann in Gefahr’. Ich kann mich aber täuschen, woher sollte er das kennen.“
„Mann in Gefahr? Da drin sind alle in Gefahr. Es muss irgendwas anderes bedeuten.“
Reining blieb vor dem Monitor sitzen, strich sich über das Kinn, rückte noch ein Stück näher an das Bild. Mit der Fernbedienung ließ er die Bilder einfrieren, studierte die erstarrten Bewegungen, das Gesicht. Ihm kam ein Gedanke, er schickte einen Streifenpolizisten mit dem Ausdruck von dem Videoband ins Krankenhaus, in das sie Elena gebracht hatten. Die Ärzte wollten ihn zunächst nicht durchlassen, aber er meinte, es sei wichtig und würde nur eine Minute dauern. Elena stand unter Beruhigungsmitteln, aber sie war ansprechbar, besah sich das Foto mit einem Auge und sagte: „Ja, das ist der Mann, der mir gesagt hat, ich solle alles erzählen. Er hat mir keine Angst gemacht, er war nett. Seine Arme waren voller Narben.“
Damit ging Agent Reining schon Minuten später zu Brunetti.
„Er will der Sache da drin ein Ende machen, er will raus. Er war es, der die Geisel raus gelassen hat.“
„Die wollen alle raus, das hat nichts zu sagen.“
„Wer kennt diese Zeichen außer den Männern, die sie in den Spezialeinheiten lernen? So was bringt sich niemand aus Spaß bei und es kann kein Zufall sein.“

**
Salty hatte erst am Mittag den Anrufbeantworter abgehört, sich über den seltsamen Anruf von Ian gewundert, hatte damit aber nichts anfangen können, wartete nur darauf, dass er sich noch mal meldete. Er machte den Job schon lange, vielleicht zu lange, mochte sein Fingerspitzengefühl verloren haben, denn als er auf die Idee kam, den Fernseher anzumachen und die Nachrichten anzusehen, war es fast schon zu spät. Er redete sich damit heraus, dass Ian sich häufig wochenlang nicht meldete und er nur darauf hoffen konnte, dass alles in Ordnung war, hatte aber keine Erklärung dafür, dass er in seiner Pizzeria hockte, in den News von der Geiselnahme in einer Bank hörte und trotzdem nicht reagierte. Er habe das eine mit dem anderen einfach nicht in Verbindung gebracht und erst, als ein Fernsehteam die ersten Bilder aus der Bank veröffentlichte und er Ian in der Tür stehend im Scheinwerferlicht sah, begriff er schlagartig, was los war.

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Die Reibereien entzündeten sich an der Tatsache, dass einige der Geiseln fragten auf die Toilette gehen zu dürfen und Lopez es niemandem erlaubte.
Die Kerzen waren heruntergebrannt, hatten Wachsflecken auf den teuren Holzmöbeln hinterlassen, nur eine Taschenlampe brannte noch. Lopez konnte nur abschätzen, wann genau die Sonne aufgehen würde, aber er behielt die Schlitze in den Jalousien im Auge, durch die das frühe Morgenlicht hinein scheinen würde. Es war ihm nicht klar, dass er auf seine eigene Hinrichtung wartete. Gary meinte, es sei kein Problem, die Leute aufs Klo zu lassen, er mache sich viel mehr Gedanken über andere Dinge und Lopez drohte ihm sofort Prügel an, worauf alle anderen sich auch einmischten und die Nerven verloren. Sie brüllten sich an, ein Aschenbecher flog durch die Luft und zerbrach an der Wand. Es dauerte nur wenige Minuten und Sammy und Rosario zogen ihre Revolver, hielten sie sich gegenseitig unter die Nasenspitzen. Alle warteten auf den großen Knall und in dieser Situation fiel Lopez nichts besseres ein, als ebenfalls die Waffe zu ziehen und ziellos hin- und herzufuchteln.
„Beruhigst du dich wieder?“ fragte Rosario, starrte über seine Knarre hinweg auf Sammy.
„Leg du erst deine Puste weg“, erwiderte Sammy.
Lopez zielte immer wieder auf die Geiseln, die verzweifelt die Köpfe einzogen und nicht einmal mehr Kraft zum schreien hatten. In dieser brenzligen Lage sprang Ian dazwischen und in dem Chaos löste sich der erste Schuss, der schräg in die Wand ging, nur Putz und Kalk auf die Frauen rieseln ließ, die sich auf den Boden gedrückt hatten. Gleichzeitig mit dem Knallen und Scheppern in der Schalterhalle riss Sammy die Pumpgun an sich, die er beiseite gelegt hatte, schoss zweimal unkontrolliert um sich, bevor ihn selbst eine Kugel in der Hüfte traf und ihn umwarf. Ian hatte sich bei den Geiseln zu Boden geworfen, drückte eine der Frauen unter den Schreibtisch zurück, die an ihm vorbei kriechen wollte, hielt ihre Schultern und ihren Kopf unten. Der Krach der Schüsse war furchtbar, in der Luft lag Pulverrauch, der die Sicht versperrte; trotzdem erkannte Ian Paco, der vor ihm mit dem Gesicht auf dem Boden lag. Auf dem Fußboden war überall Blut, nur Lopez stand noch auf seinen Füßen, seine Arme hingen schlaff an seinen Seiten herunter. Er hielt zwar noch eine 45er in der Hand, aber als er sich zu Ian herumdrehte, war es deutlich, dass er ausgebrannt war. Er blinzelte durch den Qualm, Ian konnte von seinen Lippen ablesen, dass er nicht mehr wusste, was geschehen war.
„Wo sind sie denn alle?“ fragte er, Ian stand mit zitternden Knien auf, zu müde um zu begreifen, dass eine der Geiseln tot über dem Schreibtisch lag, der Mann in dem bunten Hemd und der grünen Hose war im falschen Moment aufgesprungen, hatte sich eine der herumfliegenden Kugeln im Hals eingefangen und war praktisch in die Schreibtischschublade hinein verblutet, ohne dass es jemandem in der Panik aufgefallen war.
Hinter seinem Rücken schoss eine Blendgranate durch das Fenster, explodierte im Raum und Lopez rannte zur Tür raus, seine Waffe weit vor sich gestreckt. Trotz des Qualms und den Auswirkungen der Granate sah Ian Lopez schon an der Tür fallen. Er hob die Arme, war gerade in der Bewegung, um die Hände im Nacken zu verschränken, als die ersten Uniformierten reinstürmten. Etwas schlug ihn zu Boden und dann waren sie schon über ihm. Einer der Männer mit schusssicheren Weste und Head-Set beugte sich zu ihm herunter und fragte: „Ian McFadden?“
Er nickte müde, wunderte sich etwas darüber, dass er nicht mal den Kopf heben konnte und als sie ihn nach draußen brachten, lief der Mann mit dem Head-Set neben ihm her. Bevor bei ihm die Lichter ausgingen, sah er auf der Jacke des Mannes die Buchstaben FBI.

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Brunetti wollte nicht länger warten; als sie sahen, dass die Geiselnehmer sich gegenseitig mit den Waffen bedrohten, gab er den Befehl zum Stürmen der Bank. Agent Reining sagte, er wolle mit in die Bank, weil ihm der Mann an der Tür nicht aus dem Kopf ging, ließ sich ein Head-Set geben, mit dem er mit Brunetti in Verbindung blieb. Sie stürmten hinein, sicherten die leere Schalterhalle, fielen dann in das Büro ein, während Paco von einem Querschläger getroffen wurde, der aus Garys Waffe gekommen war. Als Agent Reining die Nachricht über das Head-Set bekam, dass ein verdeckter Ermittler der Drogenbehörde in der Gang sei, erschoss der Squad-Leiter neben ihm Lopez, der mit erhobener Waffe aus dem Büroraum gekommen war. In dem Büro selber stachen die Dämpfe der verschossenen Munition und der Blendgranate in die Lungen, durch das zerschossene Fenster strömte Licht herein, die Lamellen der Jalousie flatterten. Reining sah die Gestalt vor dem flatternden Licht, konnte die Bewegung der Arme nach oben nicht richtig deuten und handelte instinktiv. Er schoss Ian durch die Schulter, begriff dann erst, dass es der DEA-Agent gewesen war, der sich an der Tür gezeigt hatte.
Mann in Gefahr. Es war der Kollege in Gefahr, aber sie hatten das alle nicht begriffen.
Brunetti schrie über das Head-Set, dass der DEA-Agent Ian McFadden hieß und sein Verbindungsmann soeben aufgetaucht sei. Zwei Minuten früher und man hätte einiges verhindern können. Ian wurde weggebracht, die überlebenden Geiseln aus der Bank befreit. Einige von ihnen weigerten sich aufzustehen, glaubten, die Schießerei würde wieder losgehen. Das Squad-Team untersuchte die Leichen der Geiselnehmer. Bis auf Lopez hatten sie sich alle gegenseitig über den Haufen geschossen.

Ian kam in das selbe Krankenhaus, in dem auch Elena lag, aber sie wurde nach drei Tagen wieder entlassen. Sie liefen sich nicht über den Weg, was auch nicht gut gegangen wäre, denn Ian hatte so viel Blut verloren, dass er Tagelang auf der Kippe stand und er danach fast eine Woche durchschlief. Als es ihm besser ging, er die Augen wieder für länger als fünf Minuten aufmachte, saß ein Mann an seiner Seite, der offiziell aussah, aber nicht aus seiner Abteilung war.
„Hi“, sagte er, „wie fühlst du dich?“
„Kann nicht klagen.“
„Ich bin Agent Nick Reining, FBI. Wir haben uns schon in der Bank kennen gelernt. Es tut mir furchtbar leid, die Sache mit der Schulter. Ich bin aber nicht nur hier, um mich ganz offiziell zu entschuldigen, ein paar Dinge müssen noch geklärt werden.“
„Reining, du bist der erste Besuch, den ich kriege.“
An seinem Bett standen keine Gute-Besserungskarten und keine Blumen, Reining wusste nicht, ob schon jemand von der DEA da gewesen war, vielleicht während Ian noch geschlafen hatte.
Ian konnte den linken Arm nicht bewegen, er war wegen der Schulter fixiert worden, aber mit der rechten Hand konnte er sich die Kissen in den Nacken stopfen oder nach seinem Wasser greifen.
„Das ist ein echter Witz. Ich langweile mich hier zu Tode und wer besucht mich? Der schießwütige Freak, der versucht hat mich umzubringen.“
Reining machte ein betroffenes Gesicht, wollte sich noch mal entschuldigen und sein Bedauern ausdrücken, als er begriff, dass Ian es nicht ernst gemeint hatte, mit der gesunden Hand seine Schulter hielt, weil es ihn schüttelte vor Lachen.
„Du bist krank im Kopf.“
„Nein“, erwiderte Ian, „mir ist nur langweilig.“
„Ich hab was mitgebracht, was du dir ansehen solltest.“
„Wird es jetzt offiziell?“
Reining legte Ian einen Stapel Fotos in die Hand und bevor er sie überhaupt ansah, war ihm klar, dass niemand von der Gang überlebt hatte.
„Es hat alle erwischt, was?“
Die Fotos zeigten Aufnahmen aus dem Büro, auf denen die Jungs, mit denen Ian seit Monaten zusammengearbeitet hatte, nur noch leblos herumlagen.
„Paco hätte das nicht verdient, er war ein Junkie und immer voll bis zum Stehkragen, aber er war harmlos. Ich musste ständig auf ihn aufpassen. Es war vermutlich dumm von mir, aber ich hab gedacht, man könnte ihn in den Entzug stecken und versuchen, ihn aus der ganzen Scheiße rauszuholen. Er war der Neffe vom Boss, aber eigentlich hatte er in der Gang nichts zu suchen. Ebenso wenig wie Chris und Rosario.“
„Die beiden Zocker.“
„Warum ist alles so in die Hose gegangen?“ fragte Ian, obwohl Reining der falsche Ansprechpartner für diese Frage war und er sie sich auch selbst beantworten konnte. Nick Reining beugte sich näher zu Ian heran, legte die Handflächen aneinander.
„Wir haben zu spät eingegriffen. Wir hatten Kameras in der Bank, kurz nachdem der Angestellte erschossen wurde. Lopez ist einfach auf die verlängerte Frist eingegangen, legt auf und schießt.“
„Sein Boss in Miami hat einen Kredit eingeklagt und das hat bei ihm ein paar Sicherungen durchbrennen lassen, er musste möglichst schnell an das Geld kommen. Wäre er klar in der Birne gewesen, hätten wir nie auch nur einen Fuß in die Bank gesetzt.“
„Du konntest es nicht verhindern.“
„Mein Verbindungsmann hätte verhindern können, dass wir überhaupt in die Bank kommen.“
„Kann ich jemanden für dich anrufen? Wissen deine Leute noch nicht bescheid? Ich meine, weil du noch keinen Besuch hattest.“
Das Einzelzimmer, in dem er lag, schirmte ihn weitgehend von allem Trubel ab, der in der Klinik herrschte, aber niemand hatte wirklich nach seinen Wünschen gefragt, er hätte sich gerne den ganzen Tag mit Bettnachbarn unterhalten.
„Die McFaddens wissen von der Sache noch nichts. Ich fahr erst wieder nach Hause und erzähl es ihnen, wenn das hier vorbei ist, sie sollen sich nicht mehr aufregen als nötig.“
„Wo bist du zu Hause?“
„Kansas.“
„Das ist weit weg.“
Es war sogar noch weiter weg, als Nick Reining sich vorstellen konnte. Sollte er nur gekommen sein, um sich zu entschuldigen, war das vollkommen in Ordnung, zumindest unterbrach das die Langeweile, in der er nur auf dumme Gedanken kam.
Nick Reining machte den Vorschlag, sich mal auf ein Bier zu treffen, bevor er wieder eingesetzt wurde.
„Du hattest langes Haar in der Bank“, sagte Nick und deutete auf Ians rasierten Kopf.
„Das hab ich den Leuten in der Notaufnahme zu verdanken. Ich hatte den Schädel mit Blut verklebt und die haben mir die Zotteln bis auf die Kopfhaut abrasiert, um die Schusswunde zu finden, aber das Blut war von dem armen Kerl neben mir, der die Kugel abbekommen hat.“ Er runzelte die Stirn und fragte: „Wie lange waren wir da drin?“
„Neunzehneinhalb Stunden, wenn man es genau nimmt.“
Ians Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne, er versuchte sich daran zu erinnern, was in der Bank alles auf ihn eingestürzt war und er fand es nicht komisch, dass er sich an alles erinnern konnte. Ein Blackout hätte ihm gut getan.
„Es kam mir nicht so lange vor.“
Er schlug die Decke beiseite, zog sich an dem Griff über seinem Kopf nach oben und schwang die Beine aus dem Bett.
„Soll ich bei irgendwas helfen?“ fragte Nick hastig, sprang auf und zog den Stuhl zur Seite. Ian trug einen blau-weiß gestreiften Pyjama, der ihm eine Nummer zu groß war und wäre sein unrasiertes Gesicht nicht gewesen, hätte man ihn für einen kleinen Jungen halten können.
„Es geht schon“, sagte er, „seit ich den Tropf los bin, bin ich wieder ein freier Mann.“
Er ging steifbeinig in das Bad nebenan, sein rasierter Schädel, auf dem das Haar schon wieder zu sprießen begann, war sehr viel heller als der Rest seiner Haut.
Er ist viel zu jung für so einen Job, dachte Nick.
Er hatte mit O’Neill, Ians Vorgesetzten gesprochen, eigentlich nur, um ihn über die Befragung zu informieren, dabei hatte er erfahren, dass man plante, Ian nicht mehr als Undercoveragent einzusetzen, allerdings hatte bisher keiner gewagt, ihm das zu sagen. Sie ahnten wohl alle, dass er darauf nicht dankbar reagieren würde.
„Wie lange halten sie dich noch hier?“ rief Nick, drehte sich auf dem Stuhl halb herum, weil er mit dem Rücken zur Tür saß, „die Abschlussermittlungen halten mich noch ’ne Weile hier. Wir könnten...“
„Wo bist du stationiert?“
„Stationiert? Oh, ich hänge meist in der Zentrale in Atlanta herum, aber ich komme auch mal raus, wie du siehst.“
„Schon mal verdeckt gearbeitet?“
„Nein“, sagte Nick, „nicht wirklich.“
Ian steckte den Kopf durch die Tür, nachdem er gepinkelt und gespült hatte.
„Das ist das, was ich schon immer tun wollte. Meine Aufgabe. Ich hab viel ausprobiert. Auf der High School hab ich an die zwanzig Bögen vom Berufsberater ausgefüllt, aber es kam jedes Mal was anderes dabei raus, es war richtig komisch. McFadden hat gemeint, das wären meine unterschiedlichen Tagesformen gewesen.“
„Darf ich dich was Persönliches fragen?“
Ian kroch in das Bett zurück, lehnte sich stöhnend zurück, schob die nackten Füße unter die Decke.
„Wie persönlich kannst du denn werden?“
Es klopfte an die Tür, eine Schwester kam und ließ einen Gast hinein, lächelte Ian dabei unmissverständlich zu und er hob kurz die Hand und winkte.
Es war Salty, der ihn besuchen kam. Ian hatte gehofft, die Schwester würde für eine Rasur zu ihm kommen, denn aus irgendeinem Grund ließen sie ihn das nicht allein machen. Salty trug einen Anzug, ein buntes Hemd ohne Krawatte und hatte Blumen in der Hand, die er in dem Laden bei der Cafeteria gekauft hatte. Das Papier war noch um den Strauß gewickelt und das Preisschild klebte auch noch dran. Es hatte ihn nervös gemacht, mit leeren Händen in das Zimmer zu gehen, deshalb hatte er blindlings nach dem ersten Strauß Blumen gegriffen und ihn gekauft. Die Azaleen waren halb vertrocknet, aber Salty hatte keinen Blick für so was.
„Salty“, rief Ian, „komm rein.“
„Ich komme lieber später wieder, wenn es dir recht ist.“
Ians Stimme veränderte sich ein wenig, als er erwiderte: „Komm rein und mach die Tür zu, Salty. Sei wenigstens dieses Mal rechtzeitig zur Stelle.“
Er drückte die Tür zu, kam an das Bett und legte die Blumen auf dem Tisch ab, war zu nervös, um sie ihm in die Hand zu geben, deutete nur noch mal bekräftigend darauf und sagte: „Ich hab dir was mitgebracht. Die sind für dich.“
„Danke“, sagte Ian.
Er hatte sich zurückgelehnt, nur seine Augen verfolgten Salty, der auf die andere Seite des Bettes kam, dort stehenblieb und die Hände in die Hosentaschen steckte.
„Ich soll dir von der Abteilung gute Besserung ausrichten. O’Neill wird in den nächsten Tagen vorbeikommen.“
„Er hat mich schon angerufen.“
„Was?“ Salty krampfte die Hände in den Hosentaschen zusammen.
„Was hat er gesagt? Hat er mit dir gesprochen?“
„Was hätte er sagen sollen außer gute Besserung und halt die Ohren steif?“
Salty lachte gequält. „Ian, ich bin doch nur hier, um nach dir zu sehen, ob du was brauchst oder ob ich was für dich tun kann. Was anderes...“
„Verknote dich nur nicht, Salty. Ich weiß, weshalb du hier bist. Das hier ist Agent Reining, du hast ihn bestimmt schon kennen gelernt. Er war allerdings etwa zehn Stunden früher vor der Grand National als du.“
Nick hob die Hand und legte sie wieder vor den Mund, um möglichst neutral zu wirken, während Ian dem Mann langsam die Eier lang zog.
„Ich konnte doch nicht wissen, dass du in der Bank bist. Du bist nie regelmäßig aufgetaucht, um mich auf dem Laufenden zu halten. Und du wolltest keine Überwachung in eurer Bar, erinnerst du dich? Du wolltest keine.“
„Du hast es versaut, Salty“, erwiderte Ian, „du kommst hier reinmarschiert und denkst, mit dem Grünzeug sei alles erledigt? Ich hab mich auf dich verlassen. Du warst die Rettungsleine. Du hast auf der ganzen Linie versagt und ich kann dir versprechen, dass ich mit dir nicht mehr zusammenarbeiten werde. Und jetzt verschwinde.“
„Ich wollte mich entschuldigen.“
„Zu spät, raus mit dir, Salty.“
Der Mann machte plötzlich ein Gesicht, als bedaure er die Ausgaben für die Blumen und sich überhaupt die Mühe gemacht zu haben, freundlich aufgetreten zu sein. Er hatte sich im Griff, obwohl Ian ihn wiederholt bei seinem verhassten Spitznamen nannte und ihn vor die Tür setzte. Da er Ian schlecht angreifen konnte, begnügte er sich damit, das letzte Wort zu haben, drehte sich in der Tür noch einmal um und sagte: „Du wirst sowieso nicht wieder zum Einsatz kommen, McFadden.“
Er schlug die Tür so laut ins Schloss, dass die ganze Etage zusammenzuckte.
„Hast du seine Fäuste in den Hosentaschen gesehen?“ fragte Ian, „ich dachte schon, er würde sich furchtbar weh tun.“
Nick Reining nahm die Blumen und stellte sie ins Wasser, konnte die Folie nicht abmachen, weil die Blüten sonst abgefallen wären.
„Was war das für eine persönliche Frage?“ sagte Ian.
„Ich hab mich vorhin gefragt, weshalb du von deinen Eltern als die McFaddens redest. Hast du kein gutes Verhältnis zu ihnen?“
„Die beiden haben mir das Leben gerettet“, sagte Ian, „aber sie sind nicht meine Eltern.“

Als Ian entlassen wurde, hatte Agent O’Neill ihm bereits schriftlich mitgeteilt, dass er beurlaubt sei, bis die Ermittlungen in der Sache Grand National abgeschlossen waren. Ian hatte das erwartet, aber es machte ihm trotzdem zu schaffen. Er traf sich einige Male mit Nick, sie sprachen über das Ermittlungsverfahren, das Gutachten, was irgendein Seelenklempner erstellen würde und Ian meinte, seine Chancen wären nicht gut, in nächster Zeit wieder so arbeiten zu dürfen, wie er es gewöhnt war.
„Ich muss in ein paar Tagen nach Atlanta zurück“, sagte Nick, „aber wenn ich dir bei dieser Sache helfen kann, sag bescheid.“
Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, reichte aus, um die Bekanntschaft so zu vertiefen, dass sie mehr miteinander teilten als Gespräche bei einem Bier. Nick brauchte Ian nur anzusehen und konnte sagen, wie sein Gemütszustand aussah. Soweit es Nicks Arbeit und Ians Gesundheit zuließe, joggten sie durch die Parkanlagen oder veranstalteten Sparringskämpfe in einem angesagten Fitness-Center der Stadt, bei denen sie alle für verrückt hielten, weil Ian zum boxen den Arm aus der Schlinge nahm, wenn er damit auch nicht zuschlug und Nick sich davor hütete, ihn überhaupt zu treffen.
Ians Haar wuchs langsam nach, er zeigte Nick die Narben der Schussverletzung und meinte, er könne sich ein ‚Reining, FBI’ darunter tätowieren lassen.
„Bekommst du eigentlich Ärger deswegen?“ wollte er wissen, als sie abends in einer Bar zusammen saßen und ihre weiblichen Begleitungen gerade auf die Toilette verschwunden waren.
„Die üblichen Ermittlungen und doppelter Papierkram“, sagte Nick mit einer lässigen Handbewegung, „und vermutlich keine Beförderung in den nächsten zwei Jahren.“
Sie stießen an und tranken auf einen gelungenen Abend.
Mit dem Bescheid, dass er für unbestimmte Zeit in den Innendienst versetzt wurde, den er von Agent O’Neill wie eine Belobigung überreicht bekam, tauchte Ian bei Nick im Hotel auf, am Boden zerstört und den Tränen nahe.
„Ich hab keine Chance mehr“, sagte er.
Sie hatten ständig darüber diskutiert, was er für ihn bedeuten würde, nicht mehr Undercover arbeiten zu können und Ian hatte gehofft, das Debakel in der Bank würde ihm nicht angelastet werden und in seiner Akte landen.
„Ich mache das seit vier Jahren“, hatte er gesagt, „und ich hab vor, das noch möglichst lange zu machen. Ich will die Drogen von den Straßen haben, ich will jeden Dealer hinter Gittern bringen, den ich in die Finger kriege. Was anderes kommt für mich nicht in Frage.“
Jetzt sah er der Tatsache ins Auge, dass er seine Abteilung nicht mehr wert war als jemand, der Akten hin- und hertrug oder durch die Gegend telefonierte, und das, obwohl ihm niemand eine Schuld in der Banksache geben wollte.
Nick hängte das ‚Bitte nicht stören’ Schild an die Zimmertür und sie redeten stundenlang.
„O’Neill hat gesagt, es sei nur vorübergehend und im Moment wär ich einfach nicht belastbar für den Job. Ich hab ihm gesagt, dass er sich diese Scheiß Ausrede sonst so hin stecken kann.“
„Hast du dich testen lassen?“
„Sie lassen mich nicht mehr in den Job, selbst wenn ich den Bates-Test bestehe. Es ist vorbei. Sie haben die Adoptionspapiere in die Finger gekriegt und jetzt suchen sie einen Grund, um mich loszuwerden.“
Das psychologische Gutachten hatten sie nach einigen Drinks nur noch den Norman-Bates-Test genannt, aber mittlerweile konnte Ian darüber nicht mehr lachen.
„Was soll das heißen, sie wollen dich loswerden, Ian? Und was hat das mit der Adoption zu tun?“
„Hast du noch was zu trinken da?“
Er erzählte es ihm, sie saßen die ganze Nacht zusammen. Ian trank zwei Bier während er von der Familie Carver erzählte, bemühte sich, nicht allzu ausführlich zu werden, aber Nick trank so viel, weil er diese Geschichte fast nicht glauben konnte. Als er am frühen Vormittag aufwachte, mit einem Schädel wie ein Marmorblock, war Ian verschwunden. Vor dem DEA Gebäude in Newark sah er ihn ein letztes Mal, wo Ian ihm sagte, er habe gekündigt und würde die Stadt verlassen, um irgendwo was Neues anzufangen. Sie hatten nur den gemeinsamen Trost, dass Salty in Zukunft die Asservatenkammer verwalten durfte und die Pizzabäckerei für immer geschlossen hatte.

In Atlanta ertappte Nick sich immer wieder dabei, dass er in ruhigen Augenblicken darauf wartete, dass Ian anrief und sagte, dass er zufällig in der Nähe sei und auf einen Kaffee vorbeikäme. Es dauerte lange, bis er sich eingestehen konnte, dass er von Ian nie wieder etwas hören würde. Das war auch der Grund, weshalb er ein halbes Jahr später, als er in Kansas zu tun hatte, die Gelegenheit nutzte und bei den McFaddens hereinschaute. Er hatte sich telefonisch angekündigt, aber als er bei den McFaddens im Vorgarten stand und sich das Haus ansah, dachte er, man hätte ihn versetzt. Die Fenster waren dunkel, es stand kein Wagen in der Auffahrt, als er klingelte, tat sich zunächst nichts. Er umrundete das Haus, fand einen alten rüstigen Kerl unter den kahlen Bäumen, der sich die Hände an einem Feuer wärmte. Sein Garten war weitläufig mit vereinzelten Bäumen, der Schnee schien einen Meter hoch zu liegen. Nur in der Umgebung des Hauses waren Schneisen gegraben, Nick folgte einen dieser Wege und hob die Hand, als der Mann in seine Richtung sah.
Die haben mich vergessen, dachte er, der Gärtner verbrennt gerade irgendwelche morschen Zäune und sagt mir jetzt, dass die McFaddens erst im Frühjahr zurückkommen.
„Agent Reining?“ rief der Mann, warf noch ein paar Zweige in die Flammen und kam auf ihn zu. Er reichte Nick die Hand, hatte einen festen Händedruck.
„Ich bin Art McFadden, wir haben telefoniert. Tut mir leid, wenn sie gewartet haben, ich muss die Zeit vergessen haben. Hatte nur vor, ein paar von den alten Kisten und toten Ästen zu verbrennen.“
„Ich freue mich, sie endlich kennen zu lernen.“
„Ganz meinerseits. Gehen wir rein.“
Art McFadden war äußerlich ein alter Mann mit weißem Haarkranz und einem falschen Gebiss, aber seine Stimme ließ ihn zwanzig Jahre jünger erscheinen, für Nick klang er ein wenig wie Sean Connery. Durch die Hintertür betraten sie das Haus und setzten sich in die Küche, wo McFadden bereits Kaffee aufgesetzt hatte.
„Meine Frau ist noch mit unserem Enkelkind unterwegs, sie lässt sich entschuldigen. Wie trinken sie ihren Kaffee?“
„Schwarz, bitte. Haben sie etwas von Ian gehört?“
„Er hat einmal kurz angerufen, um zu sagen, dass er bei der DEA gekündigt hat. Wir waren geschockt. Aber dann haben wir einen langen Brief bekommen, in dem er alles erklärt hat. Was soll man sagen – der Junge hätte etwas Besseres verdient.“
„Das ist richtig.“
Art McFadden betrachtete seine alten zerfurchten Hände, die sorgfältig gepflegten Fingernägel, die jetzt allerdings schwarze Schmutzränder hatten, weil er im Garten gearbeitet hatte.
„Ian war hier“, sagte er schließlich, „für eine Woche. Der Junge war so mager, dass wir ihn erstmal aufgepäppelt haben wie einen jungen Hund. Meine Frau hat ihn förmlich verfolgt mit Messer und Gabel. Er hat sich bei uns erholt, hat seine alten Freunde besucht, die noch in der Gegend leben. Wesley, unser leiblicher Sohn, ist vorbeigekommen, als er hörte, dass Ian hier war und die beiden sind herumgetobt wie die kleinen Kinder. Wir haben zwei klasse Jungs.“
Art McFadden rückte mit dem Stuhl ein Stück zur Seite, warf einen Blick in den Garten hinaus. Das Feuer war kleiner geworden, aber es brannte noch, ließ den Schnee rings herum schmelzen.
„Ian ist einer von tausend. Als er zu uns kam, war er so verschreckt, dass er uns nicht einmal anzusehen wagte, er hat sich unter sein Bett verkrochen und wollte nicht rauskommen. Wesley war der erste, der zu ihm durchgedrungen ist, sie haben gemeinsam unter dem Bett gelegen und auf die Geräusche im Haus gelauscht. Ian musste herausfinden, ob er uns trauen konnte, er hat uns belauscht. Hätten wir uns in der Zeit auch nur einmal angeschrieen, wäre er uns davongelaufen. Seine ersten Fragen hat Wesley ihm beantwortet. Wir hatten einen schweren Start, aber danach wurde es mit jedem Tag besser. Der Heimleiter hat mir gesagt, er sei zurückgeblieben, vermutlich genauso debil wie seine Mutter. In der Schule wurde er ein Jahr zurückgestuft, aber dann hat er später eine Klasse übersprungen.“
McFadden sah Nick aufmerksam an, goss ihm unaufgefordert Kaffee nach.
„Wie viel hat er von sich erzählt?“
„Ich fürchte, er hat es nur angerissen.“
„Was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie er zu uns gekommen ist.“
Nach dem Kaffee gingen sie in den Garten zurück und Nick half beim Verfeuern der alten Apfelkisten, die unter einem alten knorrigen Baum lagen.
„Das war der Schaukelbaum der Jungs“, sagte McFadden, „ich hätte den schon längst umhauen sollen, aber Wesley meint, im Sommer wird er unserer Shirley eine Schaukel darin aufhängen. Wenn wir Pech haben, bricht uns der Baum beim nächsten Sturm zusammen.“
Sie wärmten sich an den Flammen die Hände, betrachteten die Schatten, die langsam hervor gekrochen kamen, sahen in das flackernde Feuer.
„Ich denke, seine Vergangenheit ist der Grund, weshalb er so gut war als Undercoveragent. Er konnte jemand anderes werden, ohne sich selbst zu verlieren. Dabei wusste er immer, dass er jederzeit aussteigen konnte.“
„Ich habe ihn vor diesem Job gewarnt“, erwiderte McFadden, „ich wollte nicht, dass er weggeht. Als Marshall hätte er eine glänzende Karriere machen können. Ich wusste, dass diese Undercoverarbeit viel zu gefährlich ist.“
Am Abend kochte Art McFadden eine Kleinigkeit, gab zu, dass seine Frau dem Besuch des FBIs aus dem Weg gegangen sei und bei Wesley bleiben würde, bis er anrief und Entwarnung gab.
„Sie hatte furchtbare Angst davor, sie könnten Fragen über die alten Sachen stellen, sie kam damit nicht sonderlich gut umgehen. Als ich ihr damals das erste Mal von Ians Familie erzählt habe, konnte ich ihr nicht alles sagen, weil sie sich so furchtbar aufgeregt hat. Bis heute kennt sie die ganze Wahrheit nicht.“
Er zeigte Fotos, die er von Ian und Wesley geschossen hatte, wie sie sich im Schnee wälzten und sich gegenseitig einseiften. An den Wänden hingen Auszeichnungen und Diplome der beiden Söhne, neben Atelierfotos der ganzen Familie. Ein rotgestromter Kater lauerte zu ihnen herüber, als sie beim Essen saßen, kam aber nicht näher heran und Art McFadden sagte, dass er ein alter Streuner sei und sich nicht anfassen ließ.
„Er hat das Haus hier in Beschlag genommen und dass wir auch hier leben, hat er mürrisch akzeptiert.“
Und dann erzählte er sehr ausführlich, wie er Ian gefunden hatte.
 
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Jaja, die "Bullen"! Gut, dass du uns mit deinen Geschichten schilderst, wie schwer sie es haben, dass sie auch nur Menschen sind, Fehler machen können und sehr viel Gutes tun können. Bin gespannt wie es weiter geht.

doska (19.05.2009)

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