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5 Seiten

Die SchattenKönigin (VampirGeschichte 2)

Schauriges · Kurzgeschichten · Herbst/Halloween
© rosmarin
Nun war ich schon einige Wochen in Argentinien. Es war einmalig. Traumhaft. Wunderbar. Ich war immer gut drauf. Mein langes, rotes Haar leuchtete im Wettstreit mit der Sonne. Das Grün meiner Augen schien noch heller geworden zu sein, und meine Haut schimmerte matt im Glanz der südlichen Sonne. Jeden Tag erlebte ich Neues, Unbekanntes, Aufregendes. Am liebsten wäre ich hier geblieben. Doch wie es so ist im Leben, alles verändert sich. Auch die Gefühle. Die besonders. Denn eines Tages stellte ich fest, dass mich die Sehnsucht plagte. Die Sehnsucht nach Hause. Ich musste zurück. Nach Berlin. Meinem schmutzigen, geheimnisvollen, wunderschönen, geliebten Berlin. Meinem verrückten Berlin. Meinem Berlin mit dem ganz besonderen Flair. Dem unvergleichlichen Geruch, den es in keiner anderen Stadt der Welt gibt. Zurück zu Justy. Meiner großen Liebe. Meinem Geliebten, der war wie Berlin. Unschuldig. Verrucht. Lasterhaft. Geliebt und gehasst. Ich musste zurück. Denn auch Justy hatte Sehnsucht. Er würde kommen und mich holen, hatte er am Telefon gesagt. Und das wollte ich auf keinen Fall, denn ich war hier meiner kleinen Liebe begegnet und wollte sie noch eine Weile auskosten.
Doch beide Lieben sollte ich in ihrer ursprünglichen Form niemals mehr sehen. Denn eines Tages geschah in dem Haus neben unserem Grundstück eine schreckliche Moritat. Und mit diesem Ereignis sollte sich mein Leben grundlegend ändern.

Das Land träumte noch unter der Mittagssonne. Die Menschen hielten ihre Siesta, als zwei Schüsse die Stille erschreckten. Die Leute torkelten von ihren Anwesen, tuschelten und waren wie gelähmt. Sie konnten nicht fassen, was geschehen war. So etwas Schreckliches gab es in diesem stillen, friedlichen Ort noch nie.
"Die Nachbarsfrau, das Flittchen", sagte eine Frau, "hat ihren Liebhaber erschossen."
"Er ist schon lange fremd gegangen", sagte eine andere.
"Und zum Schein", sagte die erste, "es sollte wie Notwehr aussehen, hat sie sich selbst in den Arm geschossen."
"Alles Quatsch. Der Kerl hat sie wieder verprügelt. Da ist sie durchgedreht."
"Immer wieder das Gleiche."
"Ja, Eifersucht."
"Seine Geliebte wohnt nebenan. Eine Deutsche", brachte es ein Mann auf den Punkt und winkte einem Polizisten, der den Weg für Polizei und Krankenauto frei machte. Die Helfer stiegen aus und ein Pfleger bettete das Flittchen auf eine Trage, hüllte es in eine Decke und ließ den Kopf frei. Ein Polizist steckte unseren Liebhaber in einen schwarzen Sack, zog den Reißverschluss über seinen Kopf und legte ihn auf eine Bahre. So fuhren sie den Berg hinab. Gehüllt in dichte Staubwolken.

Fortan wurde das Mörderhaus gemieden wie die Pest. Es wurde versiegelt. Niemand wagte sich hinein. Niemand kümmerte sich um die Hühner, die qualvoll starben unter der sengenden Sonne. Nur ich hatte Mitleid und hangelte manchmal einen Topf Wasser über den hohen Zaun, steckte eine Hand voll Gras durch die Latten. Doch es half nichts. Eines Tages waren auch die letzten Hühner verendet. Und als kein Leben mehr in dem Haus war, wagte ich mich hinein. Ich wollte das Haus kennenlernen, in dem mich meine kleine Liebe betrogen und mit seinem Leben bezahlt hatte.

Mein Herz klopfte laut und meine Beine zitterten etwas, als ich mich durch ein Fenster zu ebener Erde zwängte und gleich darauf in einem halbdunklen Raum befand. Meine Augen brauchten etwas Zeit, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, denn draußen brannte die Sonne. An der Wand, mir gegenüber, gewahrte ich eine Liege, über der eine graue Decke lag. Wie hypnotisiert starrte ich darauf und wusste im selben Augenblick: Hier stimmt etwas nicht. Mir war, als würde sich die Decke langsam verschieben. Einige der grauen Fransen, die zottelig herunterhingen, bewegten sich. Das konnte nicht sein. Bestimmt narrte mich meine Fantasie. Doch halt, nein, jetzt öffnete sich der Bettkasten. Nur einen Spalt. Eine Hand versuchte, die Matratze hochzustemmen. Es gelang ihr nicht. Wie von Geisterhand gezogen, zog sie sich wieder zurück. Der Bettkasten klappte zu.
Erleichtert atmete ich durch. Eine Sinnestäuschung. Na, also. Weiter. Doch sofort erstarrte ich wieder. Der Bettkasten hatte sich erneut geöffnet. Die Geisterhand erschien. Krampfhaft umschloss sie einen Wust grauschmutziger Franzen. Entgeistert starrte ich wieder darauf. Diese Hand. Irgendetwas war mit ihr. Blitzartig fiel es mir ein. Ich kannte sie. Auch den Ring am kleinen Finger dieser seltsam weißen Geisterhand.
„Justys Hand!“, schrie ich in die Dunkelheit.
Wie von Furien gejagt, hetzte ich bei dieser Erkenntnis davon. Nach einiger Zeit gelangte ich in ein helles, weiß gefliestes Bad. Blieb erschöpft regungslos an der Tür stehen, presste eine Hand auf mein wild schlagendes Herz, um es etwas zu beruhigen. Doch im nächsten Augenblick drohte es, still zu stehen. Oh, Gott. Was war denn das? Entsetzt sah ich an mir hinunter, streckte meine Arme von mir, betastete dann meinen Körper, griff in mein Haar, starrte zur Decke. Und von dort kam es. Das Blut.
In langen, gleichmäßigen Fäden regnete es Blut von der Badezimmerdecke. Regnete und regnete. Blutfäden. Unaufhörlich. Bald schon stand ich in einem Meer von Blut. Ein Blutmeer. Darin ich. Völlig erstarrt.
„Du musst hier raus“, war mein einziger Gedanke. „Raus, bevor du in diesem Blutmeer ersäufst.“
Panik erfasste mich. Gewaltsam löste ich mich von mir, rannte weiter. Gelangte in ein anderes Bad. Doch auch hier strömte das Blut auf mich hernieder, bis es mich ganz umhüllt hatte. Verzweifelt versuchte ich, die Blutfäden zu entwirren, die mich einschlossen wie ein Kokon die Raupe. Doch es gelang mir nicht. Ich kam mir vor, wie eine Spinne, die im eigenen Netz nicht den richtigen Faden findet. Ich fiel hin, stand mühsam auf, fiel wieder hin, fand nicht heraus.
Irgendwann hatte ich es dann geschafft. Doch ich war am Ende. Hatte keine Nerven mehr. Gefangen in einem Blutfadenmeer schluchzte ich verzweifelt vor mich hin. Und eine Angst, die ich nie zuvor empfunden, schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. Doch dann, endlich, nach einigen vergeblichen Versuchen, gelang es mir. Ich schrie. Schrie und schrie. Es war wie eine Befreiung. Laut schreiend lief ich weiter, immer weiter. Spinnweben nahmen mir die Sicht. Fledermäuse fielen erschreckt von den Decken. Staub wirbelte auf. Dämmer überall. Doch ich lief und lief, lief, wie mir schien, immer im Kreis, in dem riesigen, gruseligen Haus und in ständiger Furcht, das Gespenst Justy könnte mich verfolgen.
Da erblickte ich ihn plötzlich vor mir. Mein erster Gedanke war: Zurück. Doch das hatte keinen Sinn. Ich würde mich nie in diesem verdammten Labyrinth zurechtfinden. Ich wollte auch nicht wieder in das Bad mit den grauenhaften Blutfäden. Nein, ich musste weiter. Ich musste Justy einholen. Aufhalten! Das Unwahrscheinliche aufklären. Beeilte mich, ihm zu folgen. Doch immer blieb er zwei Schritt vor mir. Geduckt, bereit zum Sprung. Wie ein unbekanntes wildes Tier.

Endlich waren auch die Blutfäden von mir abgefallen. Erschöpft stolperte ich weiter. Streckte die Arme aus. Doch Justy blieb im gleichen Abstand vor mir. Reagierte auch nicht auf meine Rufe. So hastete ich weiter hinter ihm her. Oft fiel ich hin, stand wieder auf, blieb endlich liegen. Meine Kräfte waren verbraucht. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich hatte nur noch einen Wunsch: Einfach liegen zu bleiben und zu schlafen. Und am liebsten nie mehr aufzuwachen. Oder sofort, denn das, was ich jetzt, in diesem Augenblick, erlebte, konnte nur ein Albtraum sein, ein schrecklicher, ein völlig verrückter Albtraum. Also aufwachen, jetzt, sofort, oder nie mehr.

Just in diesem Augenblick drehte sich Justy um. Kam langsam auf mich zu. Öffnete seinen staubverklebten Mund. Redete. Doch ich hörte keinen Ton. Ich betrachtete erstaunt und ungläubig meinen Justy. Vielleicht war er es gar nicht. Wieso hatte er sich so verändert? Sein ehemals dunkles Haar war staubgrau und verzottelt. Seine freundlichen Augen glänzten grün und glasig und sein immer etwas braun getöntes Gesicht glich einer Totenmaske. So bleich erschien es mir. Nein, dieses Schreckgespenst konnte nicht mein Justy sein. Doch mir blieb nicht Zeit, darüber nachzudenken. Justy stand plötzlich vor mir. Lächelnd beugte er sich herab und hackte seine spitzen, langen Eckzähne, die ich noch erschreckt wahrnehmen konnte, in meine linke Halsseite. Es war nur ein ganz kleiner Schmerz, doch eine unglaubliche Süße rann durch meinen Körper.
"Wir werden ewig leben", flüsterte er und legte seine staubigen Lippen auf meinen Mund. "Dein Geliebter ist ein Untoter. Wusstest du das nicht?"
"Wie sollte ich", sagte ich und mir wurde klar, warum wir uns immer nur bei Dunkelheit getroffen hatten.
"Als man ihn des Nachts aus dem schwarzen Sack zog", triumphierte Justys Stimme, "um ihn in das Leichenschauhaus zu bringen, ging gerade der Vollmond auf. Und genau in diesem Moment huschte ein Lichtstrahl über sein Gesicht. Das war das Zeichen des Erwachens. So stand er einfach auf, verwandelte sich in eine Fledermaus, erhob sich in die Lüfte und spürte mich auf."
"Das ist ja schrecklich", hauchte ich.
"Ist es nicht", flüsterte Justy. "So sind wir jetzt alle drei beisammen."
"Ja", flüsterte ich zurück, "halt mich ganz fest."
Ich spürte, wie mein Körper langsam schwächer und schwächer wurde. Doch ich fühlte mich unsagbar glücklich und sank in eine Art Trance.
"Das Blut", erinnerte ich mit letzter Kraft. "Überall Blutfäden."
"Eine Vision. Wir werden viel Blut brauchen. Sehr viel."
Wie durch einen Schleier spürte ich, wie sich plötzlich meine kleine Liebe über mich beugte, zärtlich küsste und sagte: "Ich, nur ich, liebe dich wirklich."
Er nahm mich auf seine Arme, die einer riesigen Fledermaus glichen, und schwebte mit mir davon.

Als ich erwachte, lag ich auf der Liege in dem Mörderhaus, gehüllt in die graue Franzendecke. Vor der Liege, auf dem kalten, steinernen Boden, kauerten Justy, meine große Liebe, und der Erschossene, meine kleine Liebe. Beide starrten lächelnd zu mir empor. Justy hielt einen Spiegel vor mein Gesicht. Ich lächelte auch. Der Spiegel war leer.
"Dieses Haus wird von nun an unser Reich sein", sagten meine große und meine kleine Liebe wie aus einem Mund. "Das Reich der Schatten. Und du unsere Schattenkönigin."

***
 
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Kommentare  

hallo, jochen und petra, danke fürs feedback.
grüß euch


rosmarin (09.11.2009)

Sieh da? Ein Kleinod deiner Vampirgeschichten habe ich doch glatt übersehen. Erst fängst du ganz gemütlich an, dann steigert sich alles so langsam mit diesem Mord - die armen Hühnerchen sind nicht zu vergessen - dann beginnt`s zu knistern und schließlich wird`s der reinste Horror. Arrgh, soviel Blut. Aber du hast recht, ohne Blut geht`s bei Vampiren einfach nicht. Selbst wenn so manche Lippe dabei verstaubt. Prächtige Geschichte.

Jochen (09.11.2009)

Puuah, Blutfäden und Staublippen.*würg* War ekelig und sehr schaurig das Ganze, aber auch wahnsinnig spannend und ...mit einem verrückten Schluss. Echt Klasse! Werde mir gleich deine nächste Vampirgeschichte zu Gemüte führen:))

Petra (09.11.2009)

hallo, doska, danke für den kommi, ich habe abfall, eisen und schrott gestrichen, verunsichert wirklich. die beiden irren in dem riesigen haus umher, sie können es nicht verlassen, da ja draußen die sonne scheint und justy ein vampir geworden ist.
hab einen wunderschönen sonnigen tag.


rosmarin (08.11.2009)

Wirklich sehr schön schauerlich diese verstaubten Lippen und diese Blutfäden. Aber sag`mal ist das "Mörderhaus" denn so riesig? Ich hatte den Eindruck, dass deine Protagonistin ihrem Justy sehr lange hinterher zu laufen hatte. Das kann sich doch alles gar nicht in dem Haus abgespielt haben? Außerdem lief sie über Abfall , Eisen und Schrott? Im Garten oder auf der Straße? Wo war sie denn da? Ich finde es kommt zu wenig heraus, dass Justy und deine Heldin das Haus verlassen hatten. Aber vielleicht bin ich auch heute etwas verschlafen. Na, du wirst mir schon dazu antworten. Ansonsten wiedermal sehr spannend und nicht ohne eine Pointe.

doska (07.11.2009)

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