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4 Seiten

Bahnfahrt

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Bahnfahrt


Es ist schon seit Jahren jeden Morgen das Gleiche – ich setze mich so ziemlich in die Mitte der halbvollen Straßenbahn, auf die linke Seite direkt an das Fenster. Ich bin froh, dass dieser Platz meist frei ist. Wenn ich schon diese verdammte Straßenbahn fahren muss, dann will ich wenigstens aus dem Fenster schauen können, damit ich das Geschehen auf den Straßen beobachten kann. Es gibt da nun wirklich nicht viel Interessantes zu sehen, aber irgendwie vertiefe ich mich immer darin und vergesse das oft alberne, überflüssige Geschwätz der Fahrgäste um mich herum. Ich versinke völlig in der Flut meiner Gedanken, oftmals viel zu sehr, so dass ich gelegentlich vergesse, an meiner Haltestelle auszusteigen.
Das letzte mal war ich sogar so vertieft, dass mich ein Fahrkartenkontrolleur anschubsen musste, nachdem er mich mehrmals aufgefordert hatte, ihm meine Fahrkarte zu zeigen. Ich war so wütend auf ihn – erst, weil ich mich erschrocken habe, dann, weil ich mich durch ihn gestört fühlte. Dieser Mann kontrolliert mich mindestens einmal im Monat und weiß doch ganz genau, dass ich eine gültige Jahreskarte besitze. Dieser Idiot!
Ich grinse ihn dennoch immer übertrieben freundlich an, ja, grinse – nicht lächle. Ich kann ihn nicht leiden, diesen überheblichen, strohdummen Typ.
Einer von der Sorte, der daheim wohl eine Frau sitzten hat, die ihn völlig in der Hand hat.
In jeder Hinsicht.
Ein unterdrückter armer Furz, der nur auf der Arbeit die Sau rauslassen kann und es auch auf seine Art auch macht.
Ein Würstchen.
Solche Typen gibt es doch massenhaft. Mein Chef ist bestimmt auch so einer. Ein penetranter Arschkriecher – zu seiner Frau und zu den Vorgesetzten, ansonsten der Mr. Know All, der Meister Propper in der Branche, obwohl er im Grunde nicht mehr weiß, als jeder Azubi im ersten Lehrjahr. Aber an Überheblichkeit und Arroganz, mangelt es ihm ebenso wenig wie an geistiger Niveaulosigkeit und unterentwickelter Präsens.
Aber er hat Geld. Schon immer besessen.
Geld öffnet nun mal alle Türen.
Für unsere kapitalistische Gesellschaft ist Geld alles, die grenzenlose Macht.
Im Grunde ein Schwachsinn. Mit Wissen kommt man weiter. Mit Menschlichkeit kommt man weiter.
Geld ist nur ein Mittel, dass man zu einem Wert gemacht hat. Man braucht es. Deswegen geht man arbeiten. Aber ohne Wissen und den Wissensdurst und ohne Liebe und Verständnis, kommt man nur bis zu einer gewissen Ebene und diese Ebene macht sich zu sehr auf unsere Welt breit, daher kein Wunder, dass wir zu Grunde gehen.
Ich höre mich gerade an, wie eine schlechte Unterhaltung einer drittklassigen Soap.
Ah, die Marktplatzhaltestelle. Ich mag diese Haltestelle – auf dem Marktplatz ist immer was los, ob Markt ist, oder nicht. Die Leute tummeln sich gerne auf diesen riesigen, steinbepflasterten Platz – es gibt da nur ein paar Bänke, Bäumchen und drei kleine sehr alte ausgetrocknete Brunnen, ein Zeugnis einer vergangenen Zeit. Aber der Platz hat etwas Romantisches, etwas Magnetisches an sich, so dass es immer ein netter Treffpunkt für alle ist – oder einfach nur ein Platz zum Ausruhen inmitten einer überfüllten Stadt mit zu vielen Menschen.
Hier steigen viele Leute in meine Bahn, hier wird es meist voll. Das ist der Teil, den ich hasse – furchtbar.
Eben setzt sich so eine Kopftuchgretel neben mich. Völlig verpackt in einer Zehn-Meter-Rolle kackbraunen Stoff, bei dieser Hitze.
Aber komischerweise riecht sie gut.
Hm, was auch immer das ist, es duftet einfach herrlich. Ein leicht süßlicher Parfümduft – ein wenig nach Weintrauben und Orangen.
Ich sehe in ihr hübsches junges Gesicht, und sie schaut mich mit ihren wunderschönen großen braunen Augen an und lächelt.
Was für ein bezauberndes Lächeln.
Ich bemerke eine Zuckung in meinen Mundwinkeln, dass wohl durchaus als Lächeln durchgeht.
Laute verlassen meinen Mund – ich spreche tatsächlich zu ihr.
„Du riecht gut. Du hast ein tolles Parfum. Wie heißt das denn?“
Die Frau schaut mich fragend an, nickte lachend und schaute auf die andere Seite.
Was soll ich jetzt davon halten?
Das war doch jetzt keine Anmache.
Das habe ich auch gar nicht beabsichtigt.
Und was denkt die eigentlich?
So toll ist die doch auch wieder nicht.
Tse….
„ Entschuldigen sie bitte, dass ich sie angesprochen habe.“, sage ich zu ihr.
Sie blickt mich wieder an, lacht, nickt und schaut an mir vorbei aus dem Fenster.
Ist die bescheuert?
Ich bemerke den Blick eines älteren Mannes, der schräg gegenüber von mir Platz genommen hatte.
Er lachte.
Lacht der mich etwa aus?
Die junge Frau neben mir, die wahrscheinlich eine Türkin ist, schaut mich wieder an und grinste.
Ich bemerke, dass sie nun etwas sagen wird. Ich freue mich, denn ich bekomme nun doch eine Antwort, bin gespannt…
Sie setzt an und eine nette warme Stimme sagt zu mir:
„Güzel Resim!“
Wie bitte ?
Ich schaue sie fragend an, lächle, nicke und schaue aus dem Fenster.
Die Werbereklame für WOOLWORTH rauscht gerade an mir vorbei. Dort hat sie wohl ihre Kleidung her – aus der Gardinenabteilung.
Ich bekomme mit, dass sie wieder etwas sagt.
Sie tippt mir auf die Schulter – sie meint also mich?
Ich sehe sie an, sie deutet mit ihren Finger auf mich und sagte:
„Yakisikli Adamsin. “
„Gesundheit.“, sage ich prompt, die Frau nickt, lächelte und wiederholte mein Wort etwas gebrochener:
„Gees un Heit.“
Der alte Mann lacht wieder, diesmal laut und herzhaft.
Wahrscheinlich täte ich das an seiner Stelle auch, denn ich kann mich ja selbst jetzt kaum zurückhalten. Nun sitze ich hier also neben einer tollen Frau und wir verstehen kein einziges Wort voneinander.
Und es bleibt wohl auch bei dieser Unterhaltung. Die Bahn hält, die Frau steht auf und sagt:
„Eyvallah“
Ja, natürlich, sag ich, winke, als sie aussteigt.
Ich schaue ihr noch ein wenig hinterher und empfinde diesen Augenblick als einen der seltenen Momente, in denen ich das Straßenbahnfahren gar nicht so schlecht finde, mir im Grunde sogar gefällt.

Die Straßenbahn setzt sich wieder in Bewegung – ich habe nicht mehr lange zu fahren. Ein paar Minuten noch.
Hinter mir sitzen zwei alte Frauen, vermutlich Freundinnen. Oder Nachbarn.
Jedenfalls unterhalten sie sich über Spielhallen.
„Ich muss ehrlich gestehen, Gisela, ich versuche fast jede Woche mein Glück. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, das ist der einzige Weg, wie ich legal meine Rente aufbessern kann.“, höre ich die eine sagen.
„Aber das kann doch auch bös schief gehen.“, warf die andere ein.
„Ach Gisela, ich hol immer mehr, als ich einsetze. Man muss sich nur mit den Spielen auseinandersetzen – die Automaten ein wenig beobachten. Die Zeit muss man sich nehmen – und ich habe alle Zeit der Welt. Schließlich bin ich alt und hab ja sonst nicht mehr zu tun. So bin ich unter Leuten.“
Ich lächle bei der Vorstellung, diese alte Dame zocken zu sehen, aber irgendwie berührt es mich auch. Sie sagte, es wäre der einzige legale Weg in Deutschland, seine Rente etwas aufzubessern.
Spielen als Altersvorsorge.
So lustig das vielleicht klingen mag, es ist übel, wie weit es hier in diesem Land schon gekommen ist.
Man arbeitet ein Leben lang, rackert sich ab, um über die Runden zu kommen – der wohlverdiente Ruhestand wird immer weiter rausgezögert und dann bekommt man eine noch mickrigere Rente, von der es sich kaum Leben lässt.
Diese dämlichen Politiker. Diese Hochstapler. Man müsste die Regierung, diesen Staat, der sich Demokratie nennt, vor ein Gericht zerren. Sie verstoßen doch massenhaft gegen sämtliche Grundgesetze.
Ein Recht auf Leben!
Paah, lächerlich! Leben. Gehört zum Leben nicht noch mehr, als auf der Welt zu sein?
Ich arbeite täglich den ganzen Tag, muss mir die Billig Wurst vom Lidl kaufen und den Pfennig trotzdem umdrehen, damit ich um die Runden komm. Ist das Leben?
Für den Staat vielleicht.
Diese „Möchtergernweltverbesserer“ und ihre ach so tollen Plänen für ein gutes Deutschland – am Arsch!!!
Die Pläne dienen doch nur als Vorlage für gewinnbringende zukünftige Wahl!!!
Dummschwätzer, Verbrecher sind das!!!
Vielleicht sollte man ja einführen, dass die Menschen ab sofort nicht mehr das Recht auf eine unbegrenzte Lebenszeit haben. Sie sollten nicht älter als 65 Jahre werden. Nachdem sie dieses Alter vollendet haben, holen sie sich ihre Spitze und sterben friedlich. Das Land spart die Rente ein. Ja wenn ich so genauer darüber nachdenke, kommt es auch der Wirtschaft zu Gute. Wenn man doch mit dem Gedanken aufwächst – im Grunde es gar nicht anders weiß, dass das 65. Lebensjahr auch das letzte Jahr ist, dann muss man auch gar nicht mehr versuchen, für die Rente etwas zu sparen. Und braucht keine Rentenversicherung. Man gibt also in seinem Lebensabschnitt mehr Geld aus, das fördert die Wirtschaft – man gibt mehr aus, es wird mehr produziert, es wird mehr Arbeitsplätze geben.
Und man hat weniger Sorgen für die Zukunft.
Ich schüttele den Gedanken schnell wieder ab. Das ist ja krank. Vielleicht sollte ich an so etwas nicht zu intensiv denken, bevor der Staat auf eine dumme Idee mehr kommt…oha, meine Haltestelle. Nun aber raus hier…
 
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Kommentare  

Ja, bei so einer Bahnfahrt gehen einem schon viele Gedanken durch den Kopf. Interessant zu erfahren, was du zum Beispiel so dabei denkst. Hätte mich gerne mit dir dabei unterhalten. Schöne kleine Geschichte.

doska (12.12.2009)

Nicht schlecht, deine vielen ernsten und auch heiteren Gedanken, während der Fahrt mit der Straßenbahn. Das war wieder ein schöner unterhaltsamer und auch nachdenklich machender Text von dir.

Petra (11.12.2009)

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