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4 Seiten

Erinnerungen

Kurzgeschichten · Erinnerungen
Manchmal finden die Erinnerungen sie. Tief in der Nacht, wenn sie den Schutz der Ablenkung nicht hat. Neben warmen, schlafenden Körpern, die ihr nie das Gefühl geben können, das sie braucht, versucht sie sich zu verstecken aber irgendwann, eines Nacht, da kommen sie. Sie stehlen sich vorbei an den Sternen, kriechen durch das Glas der Fenster ohne dass jemand sie aufhalten könnte. Sie attackieren sie und sie ist ihnen hilflos ausgeliefert. Wieder einmal haben sie das Versteck entdeckt. Am Anfang ist es die Stimme. Seine Stimme, die so sanft, so seidig und selbstsicher in ihrem Ohr klingt. Wie ein Klingeln, das durch ihren ganzen Körper dringt und sie schüttelt. Sie zieht an ihrer jeden Faser wie ein Puppenspieler seine Marionetten. Sie spürt den Druck, spürt ihn überall. An Orten, die nur er in ihr kennt. Das Gefühl, das nur er ihr geben kann. Das sie seitdem vergeblich sucht, das sie sich jedes Mal auf neue einzureden versucht. Wenn sie sich neu verliebt. Sie verliebt sich oft, sie verliebt sich schnell. Sie braucht die Verliebtheit, die ihr die Wärme bringt, die sie vergessen lässt. Bis zu dem Zeitpunkt wo die Erinnerungen ihr Versteck finden, ihren sicheren Platz. Seine Stimme, die in sie eindringt. Als ob er ihr zuflüstert „Er ist es nicht. Er ist nicht der Richtige für dich.“ Er hat Recht, wie immer wenn die Entscheidungen nicht sein eigenes Leben betroffen hatten. Die Wärme verlässt sie und alles was bleibt ist Kälte. Die gleiche Kälte wie damals, als er sie verlassen hat.

Sie ist nun allein. Die Wärme, die sie vorher noch wie ein Schild schützte, ausgeschaltet von der Truppe der Erinnerungen. Von ihm. Allein ist sie nun, alt und allein. Ihr Unterbewusstsein, wohl mit seiner Hilfe, trägt sie in schwarz-weiße Zeiten zurück. Die Zeiten, in denen sie jung waren. Die Vergangenheit ist heute nicht gut zu ihr, will ihr Schmerzen zufügen. Die Erinnerungen schlagen zu, werfen Schatten. Das erste Mal als er sie berührt hat. Ihre noch fast kindliche Hand in seiner großen, männlichen. Damals war sie so warm gewesen. Sie hatte die Wärme aufgesogen, das erste Mal und von fortan immer. Seine Wärme, die aus allen Poren stieg und sie umhüllte. Er hatte dieses Lächeln aufgesetzt. Ein jungenhaftes Lächeln, das nicht so recht zu seinem Alter passen wollte und das mit einer Melancholie, die sie nicht kannte, getränkt war. Bittersüße Bilder, die sie erfüllen. Sie verblassen, werden dunkel, schwarz und sind zu schnell verschwunden. Die Erinnerungen verschonen sie nicht. Sie will nicht daran denken, an die Zeiten wenn er sie geängstigt hat. Die Art wie er sich verwandelte, in den unerkennbar gemeinen Mann, dessen Augen so böse glitzerten. Sie entkommt weder den guten, noch den schlechten Erinnerungen. Sie vermischen sich zu einem Strudel aus Schmerz und Sehnsucht. Verlangen nach ihm.

Immer tiefer zieht er sie, immer mit seinem Lächeln, dem sie sich nie widersetzten konnte. Schmerzen, die er ihr zufügte bedeuteten nie etwas, nicht solange sie seine Augen nur wieder lächeln sehen konnte. Wenn sie ihn lieben durfte. Wieder finden die Erinnerungen sie. Sie manifestieren sich in etwas, das neu ist, das sie nicht kennt. Sie schlagen ein wie Blitz, drohen sie zu verbrennen. Ihre Hand fliegt zu ihrem Herzen, dort, wo der Schmerz am stärksten scheint. Ist es das? Fragt sie sich. Ist das nun auch ihr Ende? Das Ende ihres Lebens. Alles schimmert schwarz und sie sehnt sich so nach ihm, nach all der Zeit, dass es ihr nichts ausmacht. So viele warten dort auf sie, in dem schwarzen, dunklen Tal, das man nur einmal betreten darf. Sie versucht mit Gedanken an ihn wieder Licht zu fabrizieren. Sie sehnt sich danach ihre Finger durch seine weichen Haare zu fahren. In seine funkelnden, gepeinigten Augen zu blicken immer mit der Hoffnung, dass der Ausdruck von Traurigkeit und Unsicherheit ihn genauso verlassen hat wie er ihre Welt. Sie drückt ihr Herz, will, dass die Dunkelheit sich auflöst. Doch wie durch einen Nebel erscheinen Hände, die nach ihr greifen. Die Gesichter, manche jünger oder älter, sie kennt sie alle. Alle sind sie vor ihr gegangen. Sie geht an ihnen vorbei, schwebt fast. Sie liebkosen sie mit Berührungen, die durch sie hindurch schießen. Der Schmerz, den sie gefühlt hat als jeder von ihnen sie verlassen hat. Jeder ist anders. Er variiert in Intensität, in Dauer. Doch ihre Gesichter, sanft und ohne Pein, vergewissern sie, dass sie keine Angst haben muss, dass alles ok ist. So wie sie es einst getan hat als ihre Zeit gekommen war. Nur bei ihm war sie nicht gewesen als er ging, nicht bei ihm.

Vorwärts treibend versucht sie die Lieben der Vergangenheit zu berühren, doch ohne Erfolg. Der Schmerz schmilzt dahin, wie Eis in gleißender Sonne. Mit jeder Sekunde, Minute oder Stunde, denn Zeit gibt es hier nicht mehr, wird er schwächer und angenehmer. Plötzlich, ohne Vorwarnung, sticht er wieder zu. Wie ein Messer trifft er tief, als sie ihren ersten Ehemann sieht und ihren zweiten, ihren letzen. Traurige Erinnerungen überfluten und durchzucken sie. Schuld steigt in ihr auf, wie kochendes Wasser. Sie hat keinen von ihnen so geliebt, wie sie es hätte tun sollen. Sie hatte es nie gekonnt. Doch sie blicken sie an mit Augen frei von Anschuldigen und Wut. Sie lächeln wissend, haben ihr längst vergeben. Die Liebe, die sie ihr nun schicken füllt sie auf und beschützt sie vor allem Bösen, den Schmerzen. Endlich, denkt sie, endlich ist es vorbei und sie ist wieder frei. Bis sein Gesicht auftaucht, so nah, so unglaublich nah.

Die ganzen Jahre, Jahrzehnte, die sie sein Gesicht nicht mehr gesehen hat. Es ist nicht anders als damals. So nah, so dass sie es berühren könnte. Ihr Verlangen ist so stark, dass es jeden anderen Schmerz, den sie jemals spüren könnte, auslöscht. Sie streckt ihre Hände in ängstlicher Erwartung aus. Angst durchflutet sie, dass es nicht echt ist. Dass sie ihn nicht wird spüren können. Fast schließt sie ihre Augen als sie schließlich seine Haut spürt. Unter ihrer gealterten Haut, die seine perfekte streift, fühlt er sich genauso an wie damals. Weicher als Seide. Sie ist zuhause, egal wo sie nun sein mag, sie ist wieder dort, wo sie hingehört. Er grinst sie an und wie sie dieses Grinsen vermisst hat! Doch die Traurigkeit, die sie sich so sehr weggewünscht hatte, sie ist noch dort. Noch immer in seinen Augen, die eigentlich vor Freude strahlen sollten. Er nimmt ihre Hand und es fühlt sich an als würde jemand sie von innen mit Honig übergießen. Warm und süß ist seine Berührung. Aber er liebkost sie nicht, nimmt sie nicht zu sich. Er schiebt sie von sich fort. Sanft, aber doch mit Bestimmung. Der Schmerz kehrt zurück, erdrückt sie fast. Sie versucht ihn zu erreichen, ihn wieder zu berühren doch er scheint sich in Luft aufzulösen, zu verschwinden. Der Schmerz nimmt sie voll ein, transportiert sie weg von ihm. Sie streckt ihre Arme aus, so weit, wie es geht. Sie spürt den Druck, spürt den Widerstand, doch sie erreicht ihn nicht. Niemals. „Nicht deine Zeit.“ Flüstert er, wo auch immer er ist. Es klingt wie damals, vor so langer Zeit, als er sie das erste Mal nicht wollte. Nicht so, wie sie ihn wollte. „Wir können nicht zusammen sein. Es geht nicht. Verstehst du? Ich kann nicht, obwohl ich dich liebe aber es gibt da etwas… ich bin einfach anders.” Die gleiche Stimme, die gleiche Tonlage. Wieder schickt er sie weg. „Noch nicht, jetzt noch nicht. Du gehörst hier noch nicht her.“ Sie versucht sich zu wehren, versucht zu bleiben wo sie ist, doch es ist als wäre sie unter Wasser. Es reizt ihre Augen, das Salz. Sie spürt die bitteren Tränen. “Noch nicht.” Flüstert er zum letzten Mal und sie ist wieder zurück an der Oberfläche. Dort, wo sie angefangen hat.

Ihre Augen fliegen auf. Die Tränen wie ein Schleier vor sich, sieht sie matte Schwärze. Spürt die Hitze der Nacht, spürt den lebendigen Körper schlafend neben sich. Nur ihr Herz, das schnell, aber sicher, in ihrer Brust schlägt, erinnert sie daran wo sie gewesen ist. Beweist es. Mitten in der Nacht. Die Erinnerungen haben sie wieder einmal gefunden, doch haben sie sie diesmal zu ihm geführt. Sein Lächeln, strahlender als die Sonne, die sie morgen wieder aufgehen sehen würde. Seine Berührung, die sie im ganzen Körper spüren kann. Sie sind noch immer da. Werden sie nie verlassen, nie verblassen. Es war noch nicht ihre Zeit zu gehen, hatte er gesagt, doch seine war es auch nicht gewesen vor all den Jahren. Langsam schleicht sich das aussichtslose Verlangen wieder heran. Doch sanfter nun, ein schwaches Andenken an die Liebe, die sie noch immer für ihn fühlt. Ihre erste Liebe, ihre komplette Liebe. Seufzend legt sie ihre Hand auf ihr Herz.

Tief in der Nacht, viel zu oft, da finden die Erinnerungen sie.



Anm.: Ich hoffe ihr seid bis hierher gekommen. Es ist im Grunde eine Art Sequenz, oder so etwas, das ich eines Nachts einfach geschrieben habe. Ich würde mich über jegliche Meinungen sehr freuen!
 
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Kommentare  

Traum oder NichtTraum, das ist hier die Frage. Auf alle Fälle sehr gut gelungen. Tolle Romantikstory.

Jochen (18.02.2010)

Tja, da fragt man sich, hat sie das alles geträumt oder hat ihr Herz für einen Moment versagt und sie hat in diesem Augenblick das alles "gesehen"? Deine Story hat ein ziemlich schwieriges Thema zur Grundlage, das du aber ganz wunderbar meisterst. Hat mir sehr gut gefallen.

doska (16.02.2010)

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