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10 Seiten

Crysella und der Schwarze Mond/Kapitel 18

Romane/Serien · Spannendes
© rosmarin
18. Kapitel
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Zwei Tage später rief Matthias an.
„Es tut mir so leid, Crysella“, sagte er, „dass wir uns nicht mehr sehen. Ich habe solche Sehnsucht.“
„Ich auch.“ In Crysellas Unterleib brannte plötzlich das schon so bekannte erotische Feuer. „Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn wir es richtig täten.“
„Oh, Crysella, sag mir nicht solche Sachen.“
Am anderen Ende war es ruhig. Matthias‘ hatte es wohl die Sprache verschlagen. Doch dann vernahm sie ein leises Keuchen. Aha. Bestimmt war er wieder sehr erregt. Wie immer, wenn sie telefonierten. Allerdings müsste er jetzt im Krankenhaus sein. Bestimmt hatte er gerade Pause und telefonierte aus dem Ärztezimmer. Vielleicht auch vom Frauenruheraum aus. Bei dieser Vorstellung musste sie leise auflachen. Der war ja meistens unbesetzt. Wie er mal sagte.
Crysella stellte sich vor, wie Matthias auf der Liege lag. Mit geöffneter Hose. Den Hörer in einer Hand, in der anderen seinen immer größer werdenden Penis.
„Sag was, Crysella“, stöhnte Matthias. „Ich liebe deine Stimme.“
„Machst du es dir?“
„Ja. Das weißt du doch.“
„Ich würde dir ja gern die Arbeit abnehmen.“
„Dann tu es.
Nach einer Weile hatte Crysella genug von dem Geplänkel und Gestöhne am Telefon und sagte:
„Das ist mir zu blöd, Matthias. Entweder richtig oder gar nicht. So ein Gestümpere liegt mir nicht.“
„Gut“, stimmte Matthias bereit willig zu und hatte wieder eine ganz normale Stimme. „Ich lass mir was einfallen. Wir müssen zueinander kommen. So geht das nicht weiter. Ich bin kein Mensch mehr.“
„Dann melde dich, wenn du wieder ein Mensch bist“, sagte Crysella ungehalten. Ihr wurde die ganze Matthiassache allmählich zu bunt. „Und das auch nur, wenn du einen Plan hast.“

Sie hatte heute keine Zeit für solche Mätzchen. Schon gar nicht, nachdem sie wieder mit Will geschlafen hatte. Hätte er sie zwei Wochen früher angerufen, hätte sie ihn ganz gern mal ausprobiert. Also richtig. Was bisher mit ihm und ihr passiert war, war doch mehr Kinderkram. Außerdem war heute Nacht Vollmond. Und da könnte es gefährlich für ihn werden.

“Ich lass mir was einfallen”, wiederholte sich Matthias.
Es machte Klick. Matthias war weg.
Crysella musste zur Arbeit. Und außerdem hatte sie sich mit Rudi verabredet. Sie sollte seine neue Geschichte noch mal durchgehen.
Am Abend stand sie nach langer Zeit wieder in Rudis kleinem Flur. Dann im Wohnzimmer. Und hier dominierte wie eh und je das breite Bett mit dem rot karierten Bettzeug. Und die farblich undefinierbaren Vorhänge verbargen wie immer die zwei wohl noch nie geputzten Fenster.
Rudi folgte Crysellas vorwurfsvollem Blick.
„Du weißt doch“, sagte er, „ich kann halt kein Sonnenlicht im Zimmer vertragen.“
„Ja, ja. Ich weiß.“ Crysella lachte schelmisch. „Ich habe ja gar nichts gesagt. Und die Sonne auf der Straße meidest du auch. Akzeptierst sie nur am Meer. Wenn überhaupt.“
„Wie wahr.“
Neben dem Bett standen vor dem alten kleinen, runden Tisch der alte Stuhl und der alte Stuhlsessel mit dem zerschlissenen samtroten Bezug. Und in der Ecke, rechts an der Wand neben der Tür, protzte der kalte, gelblichweiße Kachelofen, und auf der Kommode daneben stapelten sich Rudis Heiligtümer: Geschichten, Gedichte, Songtexte, Fotos, Briefe. Geheimnisse. Das ganze Zimmer schien ein einziges Geheimnis zu sein. Aber über die Drogenparty verlor er kein Wort. Erkundigte sich nicht mal nach ihrem Ergehen. Dieser Egomane.
Crysella starrte gebannt in Rudis wasserblaue Augen. Und das Geheimnis zwischen ihnen war auch ein Geheimnis. Das hoffte sie zumindest. Rudi würde es ja wohl niemandem erzählt haben, dass sie nicht erpicht war auf seinen schönen weißen Schwanz. Lach. Lach. Sie hatte auch ein Geheimnis. Und das würde Rudi auch nie erfahren.
Sie musste plötzlich an Georg MacDonald denken,diesen großen englischen Schriftsteller der viktorianischen Zeit. Er gilt als der Begründer des fantastischen Romans. Im Jahre 1895 veröffentlichte er seinen letzten Roman. Lilith. Und seine Hauptfigur gelangt durch einen Spiegel in ein mystisches Reich voller Geister und grotesker Erwachsener. Und sie, Crysella, war dieser Lilith begegnet. Dieser Dämonin. Dieser Schwarzen Mutter. Dieser Frau, die sie gelehrt hat, sich nicht von den Männern abhängig zu machen, sondern sie selbst zu sein. Eigenständig in ihrem Denken und Handeln. Ja, Lilith ist die geheimnisvolle, dunkle Mondgöttin und Symbol für die verborgenen Aspekte des menschlichen Daseins. Unser Schatten, den wir uns bewusst machen müssen, um zur Ganzheit zu gelangen. Lilith ist das Namenlose, etwas nicht mit rationalen Begriffen Fassbare. Ein Etwas, das tief in der menschlichen Seele schlummert und besonders das weibliche Prinzip verkörpert. Eine Rachegöttin, wenn wir das Weibliche in uns unterdrücken. Das zumindest hatte sie Seth gelehrt. Wenn wir nicht die zerstörerischen weiblichen Urkräfte des Unbewussten heraufbeschwören wollen, müssen wir unseren Gefühlen den Raum in unserem Leben zugestehen, der ihnen gebührt. Und um das zu begreifen, musste sie all dem Dämonischen begegnen, dem sie begegnet war.

„Tritt hindurch“, vernahm sie plötzlich Liliths süße Stimme. „Die Wahrheit liegt hinter dem Licht.“

Und sie war hindurch getreten. Sie hatte den Spiegel zertrümmert, mit dem Fuß dagegen gestoßen, Lilith sich auflösen sehen im Kaleidoskop der tausend Scherben im flimmernden Mondlicht. Und das, was sie seitdem erlebt hatte, war keine Ausgeburt ihrer Fantasie. Kein Traum. Es war die Realität. Mutig war auch sie mit Hilfe des Spiegels in ein mystisch mythisches Reich gelangt. Götter und Teufel waren ihr begegnet. Seth, ihr Nachtgemahl. Horus, der Vampir, der sie zur Vollmondvampirin gemacht und Luzifer, der schöne Sohn Gottes, mit dem sie eine wilde Fesselnacht verbracht und am Ende ihren Schwur geleistet hatte. Isis auf dem schwarzen Kreuzstein war sie begegnet. Den Satansanbetern. Dem Hohepriester. Der Hexe Vanessa, die ihr Unheil weissagte. Den grotesken Männern Otto und Manfred, die sie getötet und deren Penisse sie abgeschnitten hatte. Übrig geblieben waren Matthias und Will und Rudi. Und natürlich Ricardo, dieser Saukerl, der sie verlassen hatte. Wo steckte der nur. Ach, ja. Der hing ja am Himmel. Wie Thoth. Und da war noch Gabi. Mit dem Kind im Bauch. Wieder glaubte sie, ihre Hand in das warme gewölbte Fleisch krallen zu müssen. Gabi glaubte ihr nicht. Also würde ihr auch Rudi nicht glauben und sie dieses schrecklich aufregende Geheimnis in sich bewahren müssen. Das Lilithgeheimnis.

Crysella seufzte gequält auf. Diese Bürde erschien ihr auf einmal riesengroß.
„Ist was, Crysella?“
„Nein, was soll sein?“
Crysella wandte sich von Rudi ab und den weißgrauen Wänden zu, von denen die bekannten Fotos auf sie herab lächelten. Daphne, Daphne und Rudi. Rudi und sein Sohn. Der Sohn allein als kleiner Junge. Rudi, Daphne und der Sohn. Und Plakate von den Stones und Bob Dylan. Rudis großer Liebe.
„Schwärmst du noch immer von ihm?“ Crysella legte ihr Gesicht auf Bob Dylans. “Dem großen Meister?“
„Ja. Ich kann das Konzert nicht vergessen, auf dem ich ihm begegnet bin. Von Angesicht zu Angesicht.“
„Und er nichts von dir wissen wollte. Nichts war mit großer Liebe.“
„Das ist mir egal.“ In Rudis Augen vereinigten sich Trauer und Schmerz. „Meiner Liebe zu ihm tut das jedenfalls keinen Abbruch“, sagte er leise. „Sie ist unendlich. Und währet ewiglich. Und ich werde ihm noch mehr Texte widmen.“
„Und nach seiner Musik singen und spielen.“

Crysellas Blick schweifte wieder zu Rudis Bett, über dem die alte Trommel hing und in der Ecke, dem Bett gegenüber, auf der Stereoanlage seine teure, geliebte Gitarre in einem Kasten ruhte. Wie in einem Sarg. Crysella schüttelte sich. Nichts hatte sich verändert. Nichts. Und sie war verkorkst. Ach, ja.
„Ich hoffe, du hast mir meinen kleinen Ausrutscher von damals verziehen“, sagte da Rudi, als könne er Gedanken lesen. „Es hatte mich übermannt.“
„Übermannt.“
Also hatte er es doch nicht vergessen. Crysella lachte. Rudi würde noch sein blaues Wunder erleben. Es könnte ja sein, dass es sie überfraute, na, überlilithte.
„Wie sinnig“, stellte sie fest. „Klar habe ich dir verziehen. Und meine kleine Weigerung wird deinem schönen weißen Schwanz ja wohl nicht die Standfestigkeit geraubt haben.“
„Das nicht“, sagte Rudi. „Aber eine Erfahrung wert wäre es doch wohl gewesen. Derer kann man ja nicht genug machen in seinem kurzen Leben.“

Crysella setzte sich auf den alten Stuhlsessel. Bestimmt würde sie es wissen wollen. Jetzt war sie ja nicht mehr das dumme, naive Ding. Sie war Lilith. Die CrysellaLilith. Und sie bestimmte, was, wann und wo geschehen sollte. Lasziv schlug sie ihre langen Beine mit den schwarzen Netzstrümpfen und den roten High Heels übereinander.
Rudi holte aus der Küche süßen Wein für Crysella und Bier für sich und setzte sich ihr gegenüber auf den alten wackligen Stuhl vor den kleinen runden, braunen Tisch.
„Weißt du was, Crysella?“
„Nein. Du?“
„Nein.“
Sie lachten übermütig
„Also, dann wollen wir mal. Wo hast du deinen Lappi versteckt? Getrunken haben wir ja nun genug.“ Crysella erhob sich kichernd. „Obwohl ich ja nichts vertrage. Ich habe jetzt schon einen Schwips. Und das nach der Drogennacht. Wenn das Will wüsste.“
„Will?“
„Ja. Will. Ich habe ihm versprechen müssen, keine Drogen mehr zu konsumieren.“
„Wir konsumieren hier keine Drogen.“
„Aber Alkohol. Und das ist auch eine Droge“, lachte Crysella. „Und du stehst dauernd unter Drogen.“
„Und du quasselst dummes Zeugs“, sagte Rudi ungehalten.
„Und nun will ich lesen, was du Neues fabriziert hast. Deshalb bin ich ja hier.“
„Ich habe mir was anderes überlegt.“ Rudi stand ebenfalls auf. „Etwas viel Besseres.“
„Was denn?“
„Ich brauche jetzt Zigaretten und Bier.“

In Rudis Lieblingskneipe, gleich um die Ecke, setzten sie sich an die Theke auf hohe Hocker.
Rudi trank Bier. Crysella Kirschlikör. Allmählich röteten sich ihre Gesichter, die Reden wurden lauter, die Gesten unkontrollierter. Sie waren bei ihrem Reizthema angelangt. Die entschwundene DDR.
„Ein Land des verlorenen Lächelns sind wir jetzt.“ Crysella schaute Rudi herausfordernd an. Doch der schwieg verbockt, und so fuhr sie provozierend fort: „Sieh dich doch mal um.“ Sie lachte schrill. „Die Menschen haben tatsächlich das Lächeln verloren.“ Sie stupste Rudi derb in die Seite. „Sitz doch nicht so stupide hier rum. Wo ist es. Sag mir, wo es ist hin.“ Wütend sprang Crysella von ihrem Hocker. „Alle mal her hören“, schrie sie. „Ich sing euch ein Lied.“
Die wenigen Leute an den Tischen und die zwei Kellner am Tresen schauten erstaunt zu Crysella, die sich schon in Positur gestellt hatte.
„Los, Rudi, begleite mich“, sagte sie zu Rudi, „Hau in die Seiten.“
Verdutzt stimmte Rudi seine Gitarre, die er noch schnell von ihrem Sarg befreit hatte und ohne die er nie aus dem Haus ging.
„Was willst du singen?“
„Sag mir, wo die Blumen sind.“
Kaum, dass Rudi angestimmt hatte, fiel Crysella ein:

Sag mir wo die Blumen sind
Wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind
Was ist gescheh‘n
Sag mir wo die Blumen sind
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je versteh‘n
Wann wird man je versteh‘n

„Und nun die zweite Strophe!“

Sag mir wo das Lächeln ist
Wo ist es geblieben
Sag mir wo das Lächeln ist
Wo ist es hin
Sag mir wo das Lächeln ist
Hast du es aufgeschrieben
Was ist gescheh‘n
„Crysella, hör auf“, unterbrach sie Rudi ungehalten. „Schrei doch hier nicht so rum. Wir sind doch nicht alleine hier.“
„Ja, ja“, ließ sich Crysella nicht beirren. „Alle sitzen stumm und vergrämt auf ihren Bänken. In der Bahn, meine ich.“
„Weiter, weiter“, riefen die Gäste und klatschten.
„Hörst du, Rudi. Also spiel weiter.“

Sag mir wo die Blumen sind
Wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind
Was ist gescheh‘n
Sag mir wo die Blumen sind
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je versteh‘n
Wann wird man je versteh‘n

„So, das reicht.“ Crysella setzte sich wieder auf ihren Hocker. „Danke für den Applaus. Und Arbeitslose und Hartzvierempfänger gab es auch nicht“, sagte sie trotzig zu Rudi.
„Ein verbrecherischer Nazistaat war es.“ Rudis blaue Augen schossen Blitze. „Was willst du nur. Du warst doch fast noch ein Kind.“
„Und wenn schon.“
„Und doch war deine DDR ein verbrecherischer Nazistaat“, blieb Rudi stur.
„Meine Kindheit. Mein Kloster. Und du bist abgehauen.“
„Und du bist ein unbelehrbarer Dickkopf.“
„Danke. Dito.“

Crysella lachte boshaft. Immer wieder diese Dispute. Doch sie schmälerten nicht ihre Freundschaft zu Rudi. Wenn er meinte, die DDR sei „mörderisch" gewesen, wird er seine Gründe dafür haben. Sollte er doch weiterhin darüber schreiben, wenn es ihn erleichterte, er sich seine für sie nicht nachvollziehbaren Aggressionen von der Seele schreien. Sie jedenfalls konnte so eine schwarzweiß Malerei nicht verstehen. Die DDR hatte auch ihre guten Seiten. Das System an sich hatte wohl nichts getaugt. Es hatte sich selbst aufgefressen, weil die Regierung die Kontrolle verloren hatte. Und doch, wo ist die Alternative zum Kapitalismus, der ja auch nichts taugt, dachte sie, während sie sich in ihren schwarzen Mantel hüllte, wie würde es wohl in hundert Jahren aussehen. Würden dann Sozialismus und Kommunismus noch einmal auferstehen? Unter anderen Voraussetzungen natürlich. Würde dann die Zeit reif sein. Oder sich der Kapitalismus gar mit dem Kommunismus vermählen. So wie sie sich mit Luzifer, dem Teufel und mit Lilith durch den Schwesternkuss, den Kuss des Todes, vermählt hatte. Vielleicht aber würde das in einem vereinten Europa gar nicht mehr nötig sein. Wenn sozusagen alle Gegensätze vermischt, ja,ausgeglichen sein werden.
‚Unsinn‘, dachte Crysella. ‘Gegensätze werden nie ausgeglichen werden. Sie werden sich eher noch verstärken. Der Mensch ist kein friedliches Wesen. So sehr er auch rhetorisch danach trachtet. Die Menschen zerstören in ihrer unbarmherzigen Selbstsucht und Machtgier den wunderschönen blauen Planeten. Die Erde. Und damit sich selbst.‘
Es war müßig, darüber nachzudenken. Und ein weites Feld. Wie Fontane immer sagte. Und der Grass. Aber Fontane hat es zuerst gesagt. In der Effi Briest.
Ach, weg damit. Gesellschaftsordnungen kommen. Gesellschaftsordnungen gehen. Und der Einzelne muss sie hinnehmen, ob es ihm nun passt oder nicht.
Sie musste mit dem Heute leben. Das Beste daraus machen. Sie war kein nostalgischer Mensch, jedenfalls nicht, was die Politik betraf.
„Auf unser Wohl, Rudi“, sagte sie versöhnlich. „Lassen wir die alten Geschichten.“
„Ich muss mal wohin.“ Rudi stieg von seinem Hocker. „Und dann muss ich in meine Bude. Hab heute Nacht noch was vor.“
„Was denn?“
„Das geht dich nichts an.“
„Na, gut. Dann komm ich noch mal mit zu dir.“
Rudi verschwand. Crysella bezahlte. Rudi war ja der arme Dichter, der immer ein Loch im Portmonee hatte.

Die Wohnung war inzwischen noch mehr ausgekühlt. Fröstelnd hüllte sich Crysella enger in ihren langen, schwarzen Mantel.
„Leg dich doch hin“, forderte sie Rudi auf, der unschlüssig vor seinem Bett stand und die Arme um sich klopfte. „Du frierst doch.“
„Und du?“
„Ich auch.“
„Das kannst du doch nicht machen“, protestierte Rudi schwach. „Du weißt, was passieren könnte.“
„Nichts kann passieren. Wir sind doch wie Bruder und Schwester. Und das andere war ein kleiner Ausrutscher.“
Crysella legte sich an die Fensterseite auf Rudis Bett. Rudi wickelte fürsorglich ihre Beine in die Decke, die auf dem Bett lag, legte sich dann neben sie und sie kuschelte sich in seinen Arm. So lagen sie eine ganze Weile ruhig da. Nur das gleichmäßige Ticken des Weckers auf dem Nachttischchen störte die angenehme Ruhe, die sich langsam in Crysella ausbreitete. Doch sie konnte einfach nicht einschlafen, drehte sich unruhig von einer Seite auf die andere, streckte Rudi ihr Hinterteil entgegen, spürte seine Wärme, rückte noch enger an ihn. Ja, so könnte es klappen. So war es schön kuschelig. Schön erregend. Schön kribbelig. Und schön warm.
Doch plötzlich wurde Rudi unruhig und sprang auf.
„Mensch, Crysella! Meine Verabredung!“
„Du zerstörst aber auch immer alles“, schmollte Crysella. „War grad so gemütlich. Denkst du denn gar nicht an Daphne?“
„Doch, schon. Aber ihr Unterleib ist für mich tabu.“
„Wie das?“
„Sie will keinen richtigen Sex. Und gibt mir auch nicht, was ich brauche. Das höchste, das sie macht, ist, mir mal einen runter zu holen.“
„Ist doch immerhin schon was. Und was brauchst du?“
„Leidenschaftlichen wilden Sex. Ich muss das Weib spüren, fühlen. Überall. Ich muss es schmecken. Ich bin ein Stiermann. Ich muss stöhnen und schreien können. Mensch, Crysella, du hast null Ahnung. Das mit Daphne ist eine geistige Liebe. Wie mit dir.“
„Wenn du meinst“, kicherte Crysella. „Nur, dass ich dir keinen runter hole.“
„Du hast wirklich zu tief ins Glas geschaut, Crysella.“
„Und ob. Und ich bin prüde und verkorkst. Und du musst jetzt wieder mal deiner wilden Fleischeslust frönen.“
„So ist es. Und jetzt muss ich mich endlich waschen. Und die Zähne putzen.“
„Was, du legst dich neben mich und hast dir nicht die Zähne geputzt?“
„Wir küssen uns doch nicht richtig.“
„Und das ist ein Grund?“
„Ja.“
„Möchtest du etwa?“
„Nein. Es ist zu gefährlich.“
„Und du bist feige.“ Crysella ging einen Schritt auf Rudi zu. Er war gerade im Begriff, das Zimmer zu verlassen. An der Tür zum Korridor erwischte sie ihn und presste schnell ihren Körper an seinen. Fühlte, wie er erstarrte und streichelte ganz langsam mit ihren Händen seinen weißen Hals entlang, über seine glatte Brust, die schmalen Hüften, den flachen Bauch, hielt dann inne in seinem Schritt. „Nun?“, flüsterte sie, als sie fühlte, was sie zu erfühlen erhoffte. „Da hab ich doch was in der Hand.“
Rudi wurde knallrot. Sein Körper versteifte vollends. Und nicht nur sein Körper.
„Ich muss mein besonderes Teil waschen“, presste er endlich hervor. „Bevor ich gehe.“
„Lass es dir doch von ihr ablecken.“
Crysella gab Rudi frei.
„Eben drum“, konterte er.
„Etwas verstehe ich nicht, Rudi.“ Crysella setzte sich auf den Stuhl und starrte in Rudis glühendes Gesicht.
„Und das wäre?“
„Du siehst so rein, so unschuldig aus und bist doch so ...“
„Pervers, wolltest du wohl sagen.“ Rudi lachte sein schönes, trauriges Lachen, schüttelte seinen roten Feuerkopf, kraulte sich den vollen roten Bart, ehe er mit einem verschmitzten Lächeln erwiderte: „In Bezug auf meine Sexpraktiken hast du wohl recht. Sie sind tatsächlich etwas ungewöhnlich.“
„Ungewöhnlich. So. So. Davon habe ich aber noch nichts gemerkt.“
„Kannst du ja auch nicht.“
„Also?“
„Wenn du es genau wissen willst“, sagte Rudi, „und das willst du doch, neugierig wie du bist?“
„Ja, ich will." Crysella stand auf, folgte Rudi zur Küchentür, durch die er gerade entschwinden wollte. Ein Bad gab es in der Wohnung nicht. "Ich höre."
„Also...,“ zögerte Rudi und sagte dann schnell: „Ich mache mir nichts aus Blümchensex.“
„Das kann ich mir gut vorstellen", sagte Crysella und starrte lächelnd in Rudis verunsichertes Gesicht.
„Ich bin Pofetischist", sagte er. "Aber das weißt du ja. Aber ich liebe auch Anpissen. Und das wusstest du noch nicht.So.“
Nun war es heraus. Ahnte sie doch, dass da noch etwas war und sie es aus Rudi heraus kitzeln würde. Allerdings war diese Praktik oder wie auch immer sie es nennen sollte, nicht neu für sie. Wie hatte damals in der verhängnisvollen Vollmondmordnacht Otto, Otto, das Monster aus der Gosse, gegeifert?
"Piss mich an. Piss mich an."
Ja, genaus so. Und jetzt hatte auch Rudi solche Gelüste. Allerdings nicht mit ihr.
„Du bist ein Schwein, Rudi“, entrüstete sie sich scheinbar. „Wir wären nie ein Paar geworden.“ Sie gab Rudi einen Stups, knallte die Tür zur Küche zu, in der er seine Männlichkeit für die Verabredung waschen musste, und setzte sich wieder auf den Stuhl.
„Eben!“, rief Rudi aus der Küche.
„Ich warte hier auf dich. Leg mich wieder ins Bett.“

Crysella trank noch ein Glas Wein. Rudi hatte die zwei Flaschen in dem Krimskramladen unten im Haus wohl nicht als Dekoration für seinen Sperrmülltisch gekauft, und kuschelte sich dann in Rudis warme Decke.
Als er aus der Küche kam, schien sie schon tief und fest zu schlafen. Zärtlich strich er ihr eine rote Locke aus der Stirn, küsste sie leicht auf die Wange und zog dann leise die Tür ins Schloss.

Kaum war Rudi gegangen, sprang Crysella aus dem Bett. Sie schaute auf den Wecker. Es war noch nicht Mitternacht. Und hinter den Vorhängen war noch immer alles dunkel. Leichtfüßig stöckelte sie in die Küche. Dort hatte sie vorhin neben dem wackligen Mikrofon einen Zettel mit einer Telefonnummer gesehen. Bestimmt die der Verabredung. Ja, er lag noch da. Hasi hieß das Weib. – Hasi, 24 Uhr, wilde Lotte, 9669969 -
Tolle Telefonnummer. Crysella klappte ihr Handy auf.

„Hallo, Hasi, bist du schon weg?“
„Nein, ich wollte gerade gehen“
„Ich soll dir von Rudi ausrichten, es klappt heute nicht. Tut ihm leid. Er ruft dich morgen wieder an.“
„Eh, wer bist du denn? Stimmt das auch?“
„Ich bin seine geistige Liebe. Wir müssen noch arbeiten. Aber er ist besoffen.“
„Na, dann, danke. Mit Besoffenen habe ich sowieso nichts am Hut.“
„Aufgehoben ist ja nicht aufgeschoben. Also ich hab es dir ausgerichtet.“

Das wäre geschafft. Crysella war mit sich zufrieden. Sie stolzierte wieder ins Wohnzimmer, knipste alle Lichter an und zog die schmuddeligen Vorhänge vor den Fenstern zur Seite. Dann setzte sie sich auf das Bett, schüttete den Inhalt ihrer Tasche darauf, griff nach dem kleinen Spiegel und schminkte sich sehr auffällig.


***

Fortsetzung folgt in diesem Theater
 
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Kommentare  

hallo, doska. mal sehen, wie crysella rudi verführt. allerdings wird es noch einige tage dauern, ehe wir das wissen. gruselig soll es auf alle fälle werden. danke für den kommentar und hab einen schönen tag.

rosmarin (14.03.2010)

Oh,oh, das sieht ja gar nicht so gut für Rudi aus. Obwohl er eigentlich zu einer anderen hatte flüchten wollen, wird es wohl Crysella gelingen, ihn zurück zu holen und zu verführen und das auch noch in einer Vollmondnacht. Da kann man von Glück reden, dass Matthias (noch) davor bewahrt wurde. Spannendes , unheimliches und auch romantisches Kapitel.

doska (13.03.2010)

hallo, ingrid und jochen, eure sorgen sind wirklich nicht unberechtigt. wollen wir nur hoffen, dass rudi die kommende vollmondnacht übersteht, denn crysella hat so einiges mit ihm vor. auch, wenn ihr sein so wichtiges körperteil nicht gefällt, muss sie ihrer bestimmung folgen. ich danke euch fürs lesen und den anderen fürs bewerten.
gruß von


rosmarin (12.03.2010)

Verstehe einer die Frauen. Bis vor kurzem noch empfand Crysella, ein bestimmtes und überaus wichtiges Körperteil von Rudi als ekelig und hässlich und jetzt auf einmal will sie Rudi vernaschen, ist sogar zu einer Lüge bereit und wenn Frauen sich schminken ist das Kriegsbemalung. Crysella, Crysella, da beginne ich mir doch langsam Sorgen zu machen. Danke für den tollen Lesestoff *gg*

Jochen (12.03.2010)

interessanter teil, wie nennt man das, politische philosofie? ;) gegensätze dividieren sich immer mehr auseinander, das stimmt wohl.
und rudi kann kein sonnenlicht vertragen, hoffentlich übersteht er das mondlicht... bin gespannt, was sie mit ihm vorhat, nein bin eher beunruhigt.
lieben gruß von mir


Ingrid Alias I (12.03.2010)

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