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17 Seiten

Schattenmacht - Das letzte Licht -8-

Romane/Serien · Fantastisches
Eine versteckte Waldlichtung im Böhmischen Wald


Ich stolpere über eine Wurzel und nehme sogleich die Schwingungen einer vertrauten Umgebung wahr. Ich bin wirklich auf der Waldlichtung, zu der ich wollte. Diesmal war es ein wirklich weiter Schritt zwischen Hier und Dort und ich habe auch noch zwei Personen mit mir genommen. Diese Tatsache wird sich wohl bald rächen, vermute ich zumindest.
Ich habe beide Männer losgelassen, aber nun ergreifen mich zwei schlanke, langgliedrige Hände und wirbeln mich herum. Unvermittelt sehe ich Lucifer in die Augen. Das Feuer darin glüht wild.
"Was hast du getan?" Er klingt tatsächlich entsetzt. "Ich darf, sobald ich die Welt betrete nicht mehr den Ort wechseln, das ist eine der Bedingungen, das ich sie überhaupt betreten kann. Und außerdem sollte es auch gar nicht möglich sein."
Seine Stimme bleibt trotzdem relativ ruhig und ich starre den dunklen Engel verwirrt an.
Irgendwie kann ich im Moment die verschiedenen Sinneseindrücke nicht mehr so richtig ordnen.
"Aber... aber du hast doch gar nicht den Ort gewechselt.” Meine Stimme klingt so verwirrt, wie ich mich fühle. “Ich habe den Schritt gemacht und dich lediglich mitgenommen."
Er runzelt die Stirn und scheint nun selbst etwas verwirrt zu sein. Doch bevor ich noch etwas sagen kann, reißt mich Uriel herum. Erst jetzt bemerke ich, dass ich in der rechten Hand zwei lange, graue Federn halte. Oh je, denke ich, und mache mich schon innerlich auf etwas gefasst. Denn Engel schätzen es gar nicht, wenn ihnen jemand die Federn ausreißen. Der Todesengel funkelt mich wütend an.
"Weißt du eigentlich, gegen wie viele Verbote du eben verstoßen hast? Ganz zu schweigen, wie weh es tut, wenn einem die Federn ausgerissen werden? Was ist denn nur in dich gefahren?"
Im Gegensatz zu Lucifer ist Uriels Stimme laut und aufgebracht. Er sieht so schrecklich wütend aus, dass ich instinktiv versuche zurück zu weichen und dabei gegen den schwarzen Engel stoße. Ich bin entsetzt, verwirrt und verschreckt. Plötzlich werde ich meiner eigenen Emotionen nicht mehr Herr und beginne unkontrolliert zu zittern. Schließlich schlage ich einfach die Hände vors Gesicht, sinke zu Boden und beginne wild zu schluchzen. Ich verstehe selbst nicht so ganz was mit mir los ist, aber kann auch nichts dagegen tun. Was ist nur mit mir los?
Weit entfernt erklingt ein leises, tiefes Knurren. Kurz darauf wird mir klar, dass selbiges nicht weit entfernt ist, sondern gleich neben mir. Starke Arme ziehen mich an eine breite Brust und umschlingen mich beschützend. Verwirrt bemerke ich, dass ich gar nicht wusste, dass Engel knurren können. Aber das ist nun auch egal, denn ich schmiege mich ohne aufzusehen, ja ohne die Augen zu öffnen vertrauensvoll in die dargebotene Umarmung und weine einfach.
Nach langen Minuten komme ich endlich wieder soweit zu mir, um zu bemerken dass die Brust, an die ich mich schmiege, nicht bedeckt ist und auf der linken Seite, direkt über dem Herzen eine etwa handlange, gezackte Narbe aufweist. Als ich langsam aufblicke sehe ich nicht in Uriels Gesicht, wie ich annahm, sondern in Lucifers. Miene Augen weiten sich überrascht. Ein kleines, schräges Lächeln huscht über das schöne Gesicht des gefallen Engels.
"Eigentlich solltest ja du mich in die Arme nehmen, nicht?"
Die Stimme des Mannes klingt nun eindeutig belustigt und das wilde Feuer in seinen Augen hat sich ebenso beruhigt. Als ich ihn nur staunend mustere setzt der Engel mit leiser Stimme hinzu:
"Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Das wollte ich gar nicht. Ich war nur sehr erschrocken."
Ich nicke automatisch und werde noch immer nicht wirklich damit fertig, dass wir für den Moment praktisch die Rollen getauscht haben. Noch viel weniger will mir in den Sinn, weshalb sich das dann so gut und richtig anfühlt.
Schließlich versuche ich ein Lächeln, das mir allerdings etwas zittrig gerät. Irgendwie stehe ich immer noch ein wenig neben mir und ich bezweifle, dass ich im Moment überhaupt dazu fähig bin auf zu stehen. Schließlich aber hebe ich beide Hände und schiebe Lucifer etwas von mir, wobei mich der Engel nur zögerlich aus seiner Umarmung entlässt.
Nun mustere ich Ihn scharf, denn mir ist etwas eingefallen, dem ich davor wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Und auch wenn es im Moment etwas seltsam erscheint gerade nach so einer Nebensächlichkeit zu fragen, so will ich das nun doch wissen.
"Hast du davor geknurrt?"
Meine unvermutete Frage verschlägt dem Engel die Sprache. Lange Momente starrt er mich sprachlos an und bevor er mir antworten kann mischt sich Uriel ein.
"Hat ER und zwar mich angeknurrt, als ich dir zu Hilfe kommen wollte."
Ich drehe ihm das Gesicht zu und runzle die Stirn. Der Todesengel steht einige Schritte weit entfernt, die Arme vor der Brust verschränkt und hat einen reichlich skeptischen Ausdruck im Gesicht.
"Ich wusste nicht das Engel knurren können."
Ich klinge erstaunt und Uriel reagiert seltsamerweise nervös.
"Können wir auch nicht, eigentlich. Das heißt er," mit der Hand vollführt er eine vage Geste zu Lucifer, "kann es ganz offenbar. Ob ich es kann, dass weiß ich gar nicht so recht. Ich fühlte mich noch niemals dazu veranlasst jemanden anzuknurren."
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir der Engel etwas verschweigt, aber ich bin noch zu verwirrt, um darauf zu kommen, was es sein könnte. Einen Moment später ist der Gedanke vergessen, als mir einfällt warum wir drei jetzt hier sind.
Wie elektrisiert springe ich auf und blicke mich wild um.
"Oh verflixt!"
Meine Stimme ist zu einem Zischen geworden. Ich wirble zu Uriel herum, der tatsächlich einen winzigen Schritt vor mir zurückweicht. Kurz stutze ich. Warum reagieren die Engel nur immer so, wenn ich aufgebracht bin?
Doch darüber kann ich mir später Gedanken haben, jetzt ist anderes wichtig.
"Uriel!” Ich klinge ein wenig aufgebracht. ”Du hast mich doch gefragt, was in mich gefahren ist?”
Als der Engel zögerlich nickt fahre ich fort.
“Dort in der Wüste, oben auf diesem Fels, da war eine dieser seltsamen Kreaturen. Sie kroch die Felsnadel hoch und weil der Sturm so heftig war, habe ich sie selbst auch erst sehr spät wahrgenommen."
Uriel fährt erschrocken zurück, richtet sich kerzengerade auf und wendet sich schon ab, um los zu fliegen.
"Uriel, warte!" Meine Stimme nimmt ärgerlicher Weise schon wieder einen schrillen Unterton an.
"Michael," flüstere ich leise und stoppe ihn damit sofort, "er ist nicht er selbst."
Er dreht sich zu mir um und sieht mich aufgebracht an.
"Was meinst du?"
Seine Frage ist in einem scharfen Ton gestellt, der mich ein wenig zurückweichen lässt.
"Er..... ich...."
Ich halte mit meinem Gestammel inne, hole noch einmal tief Luft und fange von vorne an.
"Du erinnerst dich doch an unsere Theorie, dass diese Kreaturen einem regelrecht anstecken können, oder?" Er nickt langsam. "Ich glaube, dass Michael gebissen wurde. Er... sein Licht war beinnahe verschwunden und er fühlte sich so.... so falsch an."
Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal Angst vor Uriel haben würde, doch der Engel ist so schnell bei mir und packt mich mit beiden Händen hart an den Oberarmen.
"Nein!"
Seine Stimme ist nun rau und mir fährt der Schreck in alle Glieder. Einen Moment lang habe ich tatsächlich Angst vor dem Engel mit den grauen Flügeln. Hinter mir höre ich ein Rascheln und erneut das tiefe, leise Knurren. Ich schlucke trocken. Auch wenn ich Lucifer nicht sehen kann, so kann ich fühlen wie angespannt der Mann ist und ich vermute, dass er seine Schwingen drohend gespreizt hat.
"Uriel," meine Stimme ist nun leise und ruhig, "bitte lass mich los, du tust mir weh."
Mein Freund starrt mich überrascht an, dann scheint er mich wieder zu erkennen und löst vorsichtig seine Hände von meinen Armen. Einen Augenblick frage ich mich, ob ich morgen Blutergüsse haben werde. Bevor der Engel vor mir eine Entschuldigung stottern kann unterbreche ich ihn.
"Ich verstehe es, keine Angst, Uriel. Aber du solltest jetzt los, die anderen dort wegholen und bitte, sei vorsichtig, wenn du Michael triffst. Er ist wirklich nicht er selbst."
Meine ruhige Tonlage bringt den Todesengel wieder ganz zu sich. Und wohl nicht nur ihn, denn ein weiteres Federrascheln hinter mir, lässt mich vermuten, dass der gefallenen Engel seine Schwingen wieder sinken lässt. Ich blicke aber nicht zurück sondern sehe noch immer Uriel an. Dieser nickt nun stumm, wendet sich wieder ab und hält dann doch noch einmal inne. Langsam dreht er den Kopf und wirft Lucifer, der noch immer hinter mir steht, einen zweifelnden Blick über die Schulter zu. Ich folge seinem Blick. Der schwarze Engel verdreht die Augen und breitet den rechten Flügel aus, nicht ohne vor Schmerz leise aufzustöhnen.
"Sieht das so aus, als könnte ich von hier wegfliegen?"
Der Schmerz, den ihm diese Haltung bereiten muss, färbt seine Stimme dunkel und Uriel erstarrt einen Moment lang. Dann wendet er sich wortlos ab, schwingt sich in die Luft und ist verschwunden.
Ich starre einen Moment lang auf die Stelle, wo er eben noch stand, dann wende ich mich ab und drehe ich mich ganz zu Lucifer um.
Lange mustere ich ihn und bemerke, dass er den verletzten Flügel nun hängen lässt. Zudem wird mir erst jetzt klar wie froh ich bin, tatsächlich einmal mit ihm sprechen zu können. Bisher war er immer viel zu erschöpft um mehr als nur wenige Worte mit mir zu wechseln. Viel wichtiger war immer die Umarmung und der Körperkontakt. Außerdem beeilten sich die Engel stets uns wieder von einander zu trennen. Weshalb eigentlich? Das frage ich mich schon lange.
Ich verfluche mich innerlich selbst, denn jetzt, da wir beide tatsächlich mal etwas Zeit haben und sogar alleine sind, fällt mir nichts ein, dass ich sagen könnte. Während wir uns so gegenüberstehen erkenne ich, dass es Lucifer wohl ähnlich ergeht.
"Das ist verrückt," meint er schließlich leise, mit einem hilflosen Lächeln," ich... ich habe so viele Fragen und......"
Der Engel hält inne, während sich seine Augen weiten und beginnt etwas zu schwanken. Schnell überwinde ich die wenigen Schritte, die uns trennen und stütze den Mann, bevor er stürzen kann. Langsam sinken wir gemeinsam in die Knie, denn ich bin nicht stark genug ihn aufrecht zu halten. Nun stehen kleine Schweißperlen auf seiner Stirn und ich streiche dem Engel besorgt das Haar aus dem Gesicht.
Wieder zuckt er ein wenig zusammen und weicht eine Winzigkeit zurück. Dann jedoch löst sich die Anspannung seiner Muskeln schnell wieder auf. Schließlich hebt Lucifer seinen Blick und ich merke, wie er sich langsam wieder etwas fängt.
"Mein Flügel."
Seine Stimme ist wieder vom Schmerz gefärbt und dunkel.
Ich nicke stumm, versichere mich kurz, dass der Engel ohne meine Stütze nicht der Länge nach hinfällt und umrunde ihn. Vorsichtig hebe ich die gebrochene Schwinge an, dennoch entfährt Lucifer ein leiser Schmerzlaut. Als ich den Flügel dann behutsam untersuche, wird mir schnell klar, dass der gebrochene Knochen nicht die einzige Verletzung ist. Schwer und klebrig durchnässt Blut das Federkleid und bald entdecke ich die tiefe Schnittwunde, die immer noch blutet. Nun begreife ich auch den kleinen Schwächeanfall von vorhin, der Mann hat sicher schon einiges an blut verloren. Irgendwie muss ich dafür sorgen, dass diese Wunde nicht mehr länger so stark blutet.
Einen Augenblick lang überlege ich, woher ich Verbandstoff bekomme, dann habe ich eine Idee. Ich stehe auf und hebe den Saum meines Kleides. Darunter trage ich nämlich noch ein Unterkleid und einen Unterrock. So ganz ohne Spuren ist die Wüste und der Fels nicht an mir vorübergegangen, bemerke ich. Mein Unterkleid weist einen Handlangen Riss auf, was mir aber gerade recht kommt. Das Geräusch von reißendem Stoff lässt Lucifer den Blick zu mir umwenden. Doch schon knie ich wieder hinter ihm und lege sanft einen Verband über die Wunde an, wobei ich den langen Streifen schwarzen Seidenstoffs benutze, den ich aus meinem Unterkleid gerissen habe. Der schwarze Engel gibt kaum einen Laut von sich, aber als ich fertig bin, sinkt er doch erleichtert zusammen. Ich konnte den Bruch nicht schienen, aber zumindest habe ich dafür gesorgt, dass die Wunde nicht mehr ganz so heftig blutet. Ich hoffe das reicht. Aber Engel heilen ja zum Glück schnell. Ich nehme zudem an, dass es wohl jemanden in der Hölle geben wird, der sich um Lucifers Wunden kümmern wird. Ich hoffe es zumindest.
Langsam streiche ich das lange, tiefdunkelrote Haar zur Seite und fahre vorsichtig eine weitere Narbe, die ich auf seinem Rücken entdeckt habe, mit den Fingern nach.
"Ich dachte immer, bei Engeln würden Verletzungen verheilen, ohne eine Narbe zu hinterlassen?"
Meine Stimme ist sehr leise geworden, aber der dunkle Engel versteht mich trotzdem. Er dreht sich ein wenig, um mich ansehen zu können und nickt sachte.
"Tun sie auch, sofern sie von einer gewöhnlichen Waffe stammen."
Seiner Stimme entnehme ich, dass er ungern darüber spricht. Von daher lasse ich meine Neugierde ruhen und mustere stattdessen sein Profil.
Hier herrscht kein Sturm, sondern der Himmel ist klar und der Mond beleuchtet die stille Waldlichtung mit einem sanften Silberschein. So kann ich den Mann endlich einmal ganz genau betrachten.
Wie bei allen Engeln, ist sein Gesicht etwas länglich und fein geschnitten und die Gesichtszüge weisen eine schon übernatürliche Symmetrie auf. Bei Lucifer jedoch wirken die Züge ein klein wenig härter, schärfer geschnitten und markanter, als bei den anderen Engeln, deren Gesichter immer etwas weiches an sich haben. Seine schmalen Hörner, die der Stirn entspringen unterstreichen diesen Eindruck noch. Die tiefdunkelroten Haare sind beinnahe so lang wie die meinen, glatt und erstaunlich weich. Seine Schultern sind breit, wie bei den meisten Engeln, und die Körpermuskulatur gut entwickelt, jedoch nicht überproportioniert, was ihm die elegante, raubtierhafte Schlankheit einer Katze verleiht. Obwohl der Engel vor mir ein ganz klein wenig zu dünn wirkt.
Um seine Handgelenke und um den Hals trägt der Mann schmale, schlichte Bänder aus einem goldfarbenen Metall, die durchgehend massiv wirken und keinerlei Öffnungsmechanismus aufweisen. Ich weiß, dass sie weder aus Gold sind, noch als Schmuckstücke getragen werden. Es sind magische Fesseln!
Lucifer dreht sich noch ein wenig, um mir gerade ins Gesicht sehen zu können und endlich, endlich im sanften Mondlicht, kann ich die Farbe seiner Augen einigermaßen bestimmen. Erstaunt stelle ich fest das sie von einem tiefen, sehr dunklem Grün sein müssen.
Plötzlich beginnt Lucifer zu lächeln, was die Härte aus seinem Gesicht verbannt und mir wird klar, dass ich ihn geraume Zeit nur schweigend angesehen habe. Ein verlegenes Lächeln, das mit einer leichten Röte begleitet wird macht sich auf meinen Gesichtszügen breit.
“Was,” frage ich plötzlich, “hat es eigentlich mit diesem Knurren auf sich?”
Jetzt lacht er kurz auf und senkt dann beinnahe beschämt einen Moment lang den Blick. Schließlich streift er sich mit einer etwas fahrigen Geste die Haare zurück, was ihn nur noch mehr verlegen wirken lässt. Ich muss unwillkürlich wieder lächeln.
"Es gehört zu mir," meint er leise, "ist Teil meines Wesens."
Nun sieht mich der gefallene Engel wieder an und die Intensität des Blickes sollte mich eigentlich erschrecken. Was aber seltsamer Weise nicht der Fall ist.
"Du bist mir sehr wichtig,” fährt er fort, “und das nicht nur, weil du mich berühren kannst. Darum möchte ich dich natürlich auch beschützen, wenn ich kann und nun ja... dann passiert es eben einfach. Ich bin mir in dem Moment gar nicht selbst darüber bewusst, dass ich knurre. Ich tue es einfach."
Wieder senkt er den Blick und, diesmal wirkt er eher traurig, als verlegen.
"Ich bin eben doch anders als sie."
Seine Stimme ist zu einem Flüstern herabgesunken, doch ich habe die Bemerkung dennoch gut verstanden. Ich brauche aber einige Augenblicke, um zu begreifen, dass Lucifer Uriel meint und Michael, Raphael, Gabriel und all die anderen Engel. Verständig nicke ich.
"Ablehnung tut weh."
Meine Feststellung lässt den Mann wieder aufblicken. Erst jetzt fallen mir seine sinnlichen Lippen auf. Ein seltsames Kribbeln läuft mir über den Rücken und ich kann meine eigenen Gefühle nicht so ganz einschätzen. Was ist nur los mit mir? Das was ich im Moment fühle ist mir so fremd.
Plötzlich runzelt der Gefallene die Stirn, hebt die Hand, fängt von der linken Seite meines Kopfes eine breite Strähne meines Haares ein und holt sie nach vorne. Überrascht und auch ein wenig verwirrt blinzle ich, denn die Strähne schimmert im Mondlicht unglaublich silbern. Einen Moment später wird mir klar, dass sie nicht nur so erscheint. Sie ist tatsächlich von einem metallisch, silbernen Glanz und nicht mehr länger schwarz.
"Was ist das?"
Ich klinge etwas verwirrt. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder Lucifer zuwende sehe ich das traurige Lächeln auf seinem Gesicht.
"Du hast deine magische Kraft beinnahe vollständig erschöpft, als du so einen weiten Weg mit dem Schritt überwunden hast und dabei noch Uriel und mich mitgenommen hast. Das dürfte auch der Grund für deinen Zusammenbruch davor gewesen sein." Als der Engel weiter spricht, klingt er plötzlich schrecklich traurig. "Ich glaube fast, dass dich diese Tat, also mich mitzunehmen, so sehr erschöpft hat. Es sollte gar nicht möglich sein, verstehst du?"
Ich verstehe nicht so recht und sage das auch ohne Umschweife. Ein lautloses Seufzen kommt dem Mann über die Lippen, doch er erklärt es mir.
"Mir wurde die Fähigkeit, den Ort zu wechseln praktisch beinnahe gänzlich genommen. Tatsächlich kann ich sie nur nutzen um diese Welt zu betreten und von hier aus wieder zurück in die Hölle zu gelangen. Mehr nicht."
Ihm stockt kurz die Stimme. Mit einer fahrigen Geste zeigt er auf den Metallring um seinen Hals.
"Es ist ein Bann, der hier hinein gewebt wurde, verstehst du?"
Ich nicke zögerlich und Lucifer fährt mit seiner Erklärung fort.
"Auch kein anderes Wesen dieser Welt kann mich mit sich nehmen, solange ich diese Dinger trage. So wurde es bestimmt. Einzig allein den Erzengeln ist das erlaubt. Aber du bist kein Erzengel, oder?"
Ich sehe ihn staunend an.
Irgendetwas ist bei diesen letzten Sätzen in mir in Bewegung geraten. Irgendwo in der Tiefe meines Bewusstseins regt sich etwas, eine Art uralter Erinnerung, die ich aber nicht wirklich zu fassen bekomme. Langsam schüttle ich den Kopf.
"Ich bin mir mittlerweile nicht mehr so sicher, was ich bin,” meine ich, “aber ich bezweifle doch sehr, dass ich ein Engel oder gar ein Erzengel bin."
Ein kleines Lächeln huscht mir über das Gesicht, doch Lucifer lässt die Haarsträhne los und blickt wieder fort. Die nächsten Worte des dunklen Engels überraschen mich und versetzen mich in grenzenloses Erstaunen.
"Ich habe Angst," gibt er leise zu, "es sollte nicht möglich sein, aber du hast es getan. Ich befürchte, dass sie dich jetzt vielleicht töten, oder wie mich selbst irgendwo einsperren, einfach weil du etwas kannst, was du nicht können dürftest."
Mir stockt der Atem, als ich die Verzweiflung in ihm erspüre.
"Die letzten Jahrhunderte," fährt Lucifer leise fort, "habe ich nur überstanden, weil es plötzlich doch ein Wesen dieser Welt gab, dass mich berühren kann und dass mich ganz ohne Vorurteile ansieht. Die Tatsache, dass es ein Wesen dieser Welt gibt, dass mich vielleicht........ dass es dich gibt."
Seine Stimme bricht und ich bringe den Engel gänzlich zum schweigen, indem ich ihm sanft den Finger auf die Lippen lege. Erstaunt hebt er daraufhin den Blick und ich nehme meine Hand wieder fort. Irgendetwas rumort immer noch in mir. Vielleicht wirklich eine Erinnerung?
Aber ich bekomme es immer noch nicht zu fassen.
Energisch schüttle ich diese seltsamen Gedanken ab und setze ein aufmunterndes Lächeln auf.
"Genau das ist es," meine ich optimistisch, "ich kann dich berühren und sollte es eigentlich gar nicht können. Vielleicht kann ich dich aus dem selben Grund, aus dem ich dich berühren kann, auch mit auf den Schritt nehmen." Der Mann sieht mich etwas zweifelnd an, wie ich bemerke.
"Ich denke auch nicht," fahre ich fort, "dass die Engel etwas unternehmen werden, bevor sie nicht wirklich wissen, warum ich das kann." Ein schelmisches Blitzen gerät mir in die Augen. "Außerdem sollen die erst einmal versuchen mich zu fangen."
Das lockt nun ein schräges Lächeln auf das Gesicht des schwarzgeflügelten Mannes und lässt ihn leicht, ja ungläubig den Kopf schütteln. Ich grinse ihn frech an und fische nun selbst nach meiner neu eingefärbten Haarsträhne. Schließlich bekomme ich sie zu fassen und ziehe leicht daran.
"Und das hier, das sieht glaube ich gar nicht so schlecht aus. Ich bin immerhin zu einem übernatürlichen Wesen geworden, da sollte ich wohl endlich einmal auch ein klein wenig so aussehen." Ich schenke dem Mann ein weiteres Grinsen "Aber so eine große Entfernung werde ich so schnell nicht wieder mit einem einzigen Schritt überwinden, das sage ich dir. Allein schon weil der ganze Gefühlsaufruhr, der dem folgt, alles andere als angenehm ist."
Ein leises Lachen bricht über Lucifers Lippen.
"Ich fand es ganz angenehm."
Noch immer liegt das Lächeln in seinem Gesicht, doch seine nächste Handlung überrascht mich dann doch wieder, obwohl ich angenommen habe, dass mich heute nichts mehr überraschen könnte.
Der Engel legt sich nun langsam auf die Seite und bettet den Kopf in meinen Schoß. Einen Moment lang erstarre ich, dann streiche ich ihm instinktiv die Haare aus dem Gesicht und diesmal zuckt der Mann nicht zusammen. So streichle ich sanft weiterhin über seine so erstaunlich weichen Haare.
"Ach meine Hoffnung," murmelt er," ich bin so schrecklich müde."
Ein sanftes Lächeln erscheint auf meinem Gesicht.
"Dann, Lucifer," sage ich mit sanfter Stimme, "solltest du dich noch etwas ausruhen, bevor die anderen wiederkommen."
Tatsächlich kann ich fühlen wie er sich ganz langsam entspannt, schließlich schließt der Engel sogar die Augen und nimmt meine Liebkosung stumm hin. Nach wenigen Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, bemerke ich seinen sehr viel ruhigeren Atem und erkenne, dass er wirklich eingeschlafen ist. Das Lächeln in meinem Gesicht vertieft sich noch, während ich in den klaren Sternenhimmel blicke. Eine leise Sorge um Uriel macht sich in mir breit, denn der Engel ist schon vor einiger Zeit aufgebrochen.

Vorsichtig versuche ich den Todesengel zu erspüren, doch als ich ihn ganz in der Nähe wahrnehme bin ich zwischen der Erleichterung, dass es ihm wohl gut geht und dem Bedauern, dass mein Zusammensein mit Lucifer wohl bald ein Ende findet, zerrissen.
Einen Augenblick später tritt der Engel zwischen den Bäumen hervor und bedenkt mich und den gefallenen Engel mit einem seltsamen Blick. Dann kommt er lautlos zu mir her, geht vor uns in die Hocke und mustert Lucifer intensiv. Endlich wendet er mir sein Gesicht zu.
"Ich kann es nicht glauben," flüstert er, "aber er ist tatsächlich eingeschlafen."
Das Staunen in seinen haselnussbraunen Augen verwirrt mich etwas.
"Ist das so Ungewöhnlich?"
Auch ich flüstere um den schwarzen Engel nicht zu wecken. Uriel nickt nur.
"Allerdings,” meint er, “das ist sehr Ungewöhnlich"
Er wirft einen Blick über die Schulter, wo am Waldrand nun zwei weitere Engel auftauchen. Raphael, mit den dunkelblonden, kurzen Haaren und den in blassen braun gezeichneten Flügeln. Sowie Gabriel, mit den schulterlangen, dunklen Locken und den in dunklem Grau gemusterten Flügeln. Beide sehen stumm zu uns herüber und scheinen nicht so recht zu wissen, was sie tun sollen. Uriel sieht mich wieder an.
"Wir haben Michael nicht mehr gefunden, aber du hattest recht. Es ist dort eine dieser Kreaturen."
Noch immer ist er darauf bedacht seine Stimme leise zu halten.
Erneut schweift sein Blick über den schlafenden Lucifer und heftet sich dann auf mein Gesicht. Stumm stelle ich eine Bitte und er scheint sie in meinen Augen lesen zu können. Mit einem stummen Seufzer holt er tief Luft.
"Vor dem Morgengrau," meint er leise, "muss er diese Welt wieder verlassen haben."
Mit diesen Worten erhebt er sich, wendet mir den Rücken zu und kehrt genauso lautlos, wie er kam, zu seinen Gefährten zurück. Zusammen verschwinden sie still im Wald. Auf meinem Gesicht liegt nun ein dankbares Lächeln. Als ich mich konzentriere kann ich die drei Erzengel in der Nähe wahrnehmen, aber sie befinden sich außer Sicht- und Hörweite.
Meine Innere Uhr funktioniert wieder und sagt mir, dass Mitternacht etwa eine Stunde schon vorüber ist. Also bleiben uns, mir und den gefallenen Engel noch einige Stunden!
Leise beginne ich mein Wiegenlied zu summen. Die Resonanz einer traurigen Seele hallt durch die Nacht, aber bis zum Morgengrau werde ich diesen Ort nicht verlassen. Danach kann ich mich noch immer darum kümmern. Ich würde mich um einiges kümmern müssen und wohl viele Fragen zu beantworten haben, nachdem die Sonne aufgegangen ist. Aber das ist mir in diesem Moment auch egal.

Stunden später schreckt Lucifer plötzlich hoch, richtet sich auf und mustert mich erstaunt. Wieder nehmen mich diese Augen gefangen und ich bin für lange Momente nicht fähig einen Ton von mir zu geben. Schließlich bricht der Engel das Schweigen.
"Warum hast du mich nicht geweckt?"
Er klingt beinnahe ein wenig verletzt, was mich doch einen Moment lang irritiert.
"Weil," antworte ich leise, "dein Schlaf so tief und friedlich war, dass selbst die Erzengel es nicht übers Herz brachten, dich zu wecken." Meine Stimme wird sanft. "Du schläfst nicht viel, oder?"
Jetzt setzt sich der Mann ganz auf, blickt von mir fort und zu Boden. Langsam schüttelt der Engel den Kopf. Erneut seufzt er leise.
"Nein," seine Stimme ist wieder rau," und wenn, dann quälen mich schreckliche Träume."
Lucifer sieht mich wieder an und ein sanftes Lächeln gleitet über mein Gesicht.
"Aber diesmal nicht," stelle ich fest," und du hast es gebraucht."
Er schüttelt den Kopf, dann nickt er um gleich darauf wieder den Kopf zu schütteln.
"Ja... Nein... Natürlich habe ich Schlaf geraucht, aber... aber nicht heute. Ich... ich..."
Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Mann unsicher sein könnte und als er mich beschützen wollte, da war es auch definitiv nicht so, doch nun. In gewisser Weise benimmt sich der schwarze Engel manchmal sehr menschlich, so wie es viele Engel so oft tun und ich frage mich einen Augenblick, ob er wirklich so anders ist, wie er glaubt, oder wie man ihn glauben machte.
Ich unterbreche das Gestammel des Mannes, indem ich spontan einem Impuls nachgebe. Mit beiden Händen umfasse ich unvermittelt sein Gesicht, beuge mich zu ihm hinüber und drücke meine Lippen in einem kurzen Kuss auf die seinen.
So kurz, so keusch dieser Kuss mit geschlossen Lippen auch ist, er hat eine erstaunliche Wirkung auf uns beide. Ich erschrecke vor mir selbst und Lucifer erstarrt regelrecht.
Einen Moment später reagiert der Mann, indem er mich an sich zieht und einen zweiten, längeren Kuss einfordert, der alles andere als keusch ist. Eine Sturmflut an Gefühlen und Empfindungen überrollt mich. Angst, Nervosität, Schmetterlinge im Bauch, Herzklopfen, Sehnsucht, Wärme, Erstaunen, Überraschung, Hingabe und Furcht. Einiges davon kommt von mir, einiges von ihm und vieles lässt sich nicht wirklich trennen. Und tief, unter all seinen Emotionen erwacht ein wilder, seit langem nicht mehr gestillter Hunger brüllend zum Leben.
"Oh bitte, lass es nicht enden. Ich darf nicht weiter, es könnte sie beflecken. Oh bitte, bitte lass mich ihr damit nicht schaden!"
Ich brauche einen Moment um zu begreifen, dass Lucifer diese Worte nicht ausgesprochen, sondern dass ich offenbar gerade kurz seine Gedanken gelesen habe. Überraschung durchzuckt mich, doch sie ertrinkt unter all den anderen Gefühlen.
In diesem Moment erkenne ich, dass ich jetzt zu allem bereit bin.

Es ist der gefallene Engel, der den Kuss schließlich enden lässt. Er weicht sogar etwas vor mir zurück und blickt wieder fort, zu Boden. Mit aller Macht reißt er sich zusammen und bringt mühsam seine entgleisten Emotionen wieder unter Kontrolle. Kurz brandet in mir Frustration auf, die sich aber sofort an Verständnis bricht und wieder verschwindet.
"Warum," frage ich leise, "warum nicht? Es wäre freiwillig geschehen."
Er sieht mich wieder an und tief in seinen Augen lodert das Feuer nun hell und heiß. Der Hunger, erkenne ich, ist noch immer da. Doch der Blick des Mannes ist schrecklich traurig.
"Glaube nicht, dass ich es nicht möchte. Aber es könnte dich beflecken," flüstert er, "könnte dir diese ganz besondere Reinheit nehmen, die du besitzt und dann.... dann könnte es sein, dass auch deine Berührungen Schmerz für mich bedeuten. Außerdem möchte ich nicht daran denken, was die engel oder der Schöpfergott mit dir anstellen, wenn du dich mir so hingibst."
Die Stimme des Engels ist leise und sehr traurig.
Nun begreife ich, dass er wirklich Angst davor hat, dass ich diese Fähigkeit ihn zu berühren, ohne dass ich ihm dabei Schmerz bereite, verlieren könnte. Erst jetzt wird mir klar, wie wichtig diese Umarmung und der damit verbunden Trost für ihn geworden sind. So sehr, so dass er sogar seine Begierde mit Macht unterdrückt und ich kann selbst jetzt erfühlen, wie schwer ihm das fällt.
Langsam hebe ich meine Hand und berühre ganz sacht sein Gesicht.
Der Mann hält etwas angespannt still. Einen Augenblick später schmiegt er seine Wange in meine Hand und legt seine eigene darüber. Langsam ziehe ich meine Hand nun fort und als der Engel fast enttäuscht hochblickt, strecke ich beide Arme weit aus und biete das Zweitbeste an, die Umarmung. Ohne zu zögern schlingt Lucifer die Arme um mich und vergräbt sein Gesicht an der rechten Seite meines Halses. Langsam lasse ich mein Kinn auf seine Schulter sinken und minutenlang verharren wir, Wange an Wange, in dieser Haltung. In dieser Haltung kann er auch die Tränen nicht sehen, die mir in die Augen gestiegen sind. Sie fließen nicht, weil er mich körperlich zurückgewiesen hat, sondern sie fließen für diesen Mann, diesen gefallen Engel, der gegen seine eigene Natur ankämpft um so etwas schlichtes wie eine Umarmung, eine sanfte Berührung nicht zu verlieren.
Schließlich hebe ich den Kopf wieder ein wenig. Die Tränen trocknen schnell und ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Beinnahe hätte ich es vergessen in all den turbulenten Geschehnissen dieser Nacht und ich bin mir sicher, dass es den Mann etwas aufmuntern wird..
"Lucifer,” meine ich leise, ” ich habe Deine Schwester kennen gelernt, Shanael. Wir sind Freunde geworden und ich habe versprochen, dass ich dir sage, das es ihr gut geht."
Er antwortet erst nicht, sondern drückt mich nur fester. Schließlich scheint der Mann die Stimme wieder gefunden zu haben und dankt mir dafür. Erneut vergehen Minuten, in denen wir nur schweigen und die Gegenwart des anderen genießen.
Doch bald werde ich ernst. Ich muss den schwarzen Engel von den Geschehnissen in der Welt, von den Kreaturen und alle dem erzählen. Irgendwie muss ich ihn auch warnen, denn es kann gut möglich sein, dass diese Kreaturen auch hinter ihm her sind.
“Ich muss dir etwas erzählen,” flüstere ich endlich, “denn du hast oben auf der Felsnadel etwas wahrgenommen, oder?”
“Ja,” antwortet Lucifer ebenfalls flüsternd, “ich weiß nicht was, aber ich denke ich habe ähnliches schon in der Hölle kurz erspürt.”
Ich hole tief, fast erschrocken Luft, obwohl ich es eigentlich schon geahnt habe. Schließlich seufze ich tief und fahre ernst fort.
“Es sind Kreaturen, die nicht hier her gehören. Sie sind falsch, verzerrt und bösartig. Erst seit wenigen Tagen tauchen sie auf. Sie verschlingen Licht, wo immer sie es finden und lassen nichts als eine leere, mit Finsternis und Bösartigkeit gefüllte Hülle zurück.”
Meine Stimme zittert und ich kann fühlen, wie sich seine Schultern kurz anspannen, aber er lässt mich nicht los. Nach wenigen Sekunden bittet mich der gefallene Engel zu erzählen, was in dieser Welt geschieht und ich komme dieser Bitte nach.
Die ganze Zeit, die ich dafür brauche und noch lange danach, liegen wir einander in den Armen und lasen nicht los. Ich will ihn nicht wieder gehen lassen!
Das wird mir klar und krampfhaft versuche ich eine Lösung zu finden. Vielleicht würde ja Uriel mit sich reden lassen? Oder sollte ich Lucifer einfach wieder hier wegbringen mit den Schritt? Möglich ist es mir ja, aber im Moment bezweifle ich, dass ich weit kommen werde. Er hat Recht, ich habe viel meiner magischen Energie aufgebraucht und es wird Tage dauern, bis ich wieder ganz bei Kräften bin. Außerdem würde ich damit den Engel dazu verdammen ewig auf der Flucht zu sein und ich würde einen Freund, den ich sehr lieb gewonnen habe verlieren.
Irgendetwas muss ich doch tun können? Aber was nur?
Schließlich breche ich die Stille zwischen mir und dem gefallenen Engel.
"Lucifer," meine Stimme zittert ein wenig," wie kann ich es verhindern?"
Er löst sich ein wenig von mir, um mich anzusehen und ich sehe, dass der Mann weiß wovon ich spreche. Sachte schüttelt er den Kopf.
"Du kannst es nicht verhindern," meint er in einem sanften, leisen Ton, "jedenfalls noch nicht."
Der Engel hält kurz inne, sieht mich an und versteht, dass ich mehr wissen will.
Seufzend löst er sich von mir und berührt kurz das Metal, dass um seinen Hals liegt.
"Das hier, das schränkt mich nicht nur in meinen Möglichkeiten sehr ein. Die Ketten verschwinden, aber diese Fesseln," nun berührt er das Band am linken Handgelenk, zeigt es mir, "die kann mir keiner abnehmen. Sie, die Engel finden mich damit überall. Außerdem bereiten sie mir Schmerzen, diese Fesseln, wenn ich der Hölle zu lange fernbleibe. Verstehst du?"
Langsam und unglücklich nicke ich.
"Ich...," meine Stimme zittert noch immer ein wenig, "ich mach mir nur Sorgen. Ich weiß ja nicht, wie viele Möglichkeiten du in der Hölle hast, aber wenn dort auch eine der Kreaturen ist..?"
Ich lasse den Satz unbeendet, denn Lucifer schüttelt bereits den Kopf.
"Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich komme schon damit zurecht."
Er hebt vorsichtig die Hand und streichelt meine Wange.
Der Mann macht das so zögerlich, als wäre er darauf gefasst, dass er dafür bestraft werden würde. Schließlich spricht er weiter.
"Aber du musst gut auf dich aufpassen, versprich mir das. "
Nun klingt seine Stimme fest und bestimmt. Ich erkenne, dass er sich wirklich um mich sorgt.
Nur zögerlich verspreche ich es, denn ich weiß ja noch nicht, was noch alles auf mich zukommt.

Unvermittelt hebt der Engel seinen Kopf, sieht hinauf in den Himmel und wirkt irgendwie angespannt.
Dabei fällt mein Blick auf die Fessel um seine Kehle und ich entdeckte plötzlich blase, feine Linien im Metal, die im dunklem Rotschwarz schimmern. Bevor ich fragen kann, wendet Lucifer mir sein Gesicht wieder zu, beugt sich etwas nach vorne und ergreift sanft meine Schultern.
"Hör mir jetzt gut zu," flüstert er heiser, mit schnellen Worten, "denn die Zeit läuft uns jetzt davon. Es gibt ein Buch, das Buch der Prophezeiungen. Frag Shanael, die kann dir die Geschichte seiner Entstehung erzählen.”
Er blickt sich nervös um und fährt dann hastig fort.
“Dieses Buch, nicht einmal die Engel wissen wo es jetzt ist, nur dass es sich irgendwo in dieser Welt befindet. Ich selbst kenne nur eine Passage daraus, die vom letzten Licht handelt. Also von dir! Aber ich glaube es gibt da mehr über das letzte Licht, als diese eine Passage und es kann dir vielleicht Antworten geben.”
Wieder hält Lucifer inne und blickt ängstlich um sich.
“Wenn es jemand finden kann, das Buch der Prophezeiungen, dann bist du das! Such es, finde heraus was es mit dem letzten Licht auf sich hat und bitte,” nun fixiert er mich mit seinem intensiven Blick, “erzähle keinem Engel davon. Ich glaube nämlich, dass es ihnen nicht Recht sein wird.”
Ich nicke ernst und als der Mann erneut in den Himmel sieht entdecke ich, dass die Linien auf dem Metal um seinen Hals nun schon deutlicher und dunkler sind. Sie formen Schriftzüge und plötzlich wird mir klar, dass es wohl genau das ist, von dem er zuvor schon gesprochen hatte.
Er sieht mich wieder an und dann bestätigt sich meine Vermutung, denn der Engel zuckt heftig zusammen und sein Körper spannt sich kurz vor Schmerz an. Nur wenige Momente scheint dies zu dauern, dann ist es schon wieder vorüber. Ich vermute, dass sich das eben geschehene in immer kürzeren Intervallen wiederholen wird, bis es für den Mann unerträglich wird.
“Ich finde einen Weg,” verspreche ich nun leise, “irgendeinen Weg muss es geben und ich werde ihn finden. Vielleicht weiß ja auch dieses Buch eine Lösung für uns beide.”
Lucifer sieht mich völlig erstaunt an, nur einen Moment lang. Seine Hände liegen noch immer um meine Schultern. Ganz unvermittelt und heftig zieht der schwarze Engel mich nun an sich und fordert einen dritten, sehr langen, sehr intensiven Kuss ein.
Als ich spüre, wie sich die drei Erzengel durch den Wald nähern bin ich es, die den Kuss beendet.
“Sie sollten,” wispere ich atemlos, “noch nichts von dieser Entwicklung wissen.”
Lucifer nickt nur stumm. Er reißt sich zusammen, denn auch diesmal konnte ich den wilden Hunger unter seinen Gefühlen spüren. Es muss schwer sein dem nicht einfach nachzugeben und dafür bewundere ich ihn einfach.

Nur kurze Zeit später sind die Engel bei uns und zerren den gefallenen Engel grob aus meinen Armen. Lucifer, der die Augen geschlossen hatte, öffnet sie nun wieder und wirft mir noch einen letzten, unsäglich traurigen Blick zu.
Warum wehrt er sich nicht?
Das ist mir schon öfters aufgefallen und ich frage mich, ob das auch Teil der magischen Zwänge ist, unter denen der gefallene Engel steht.
Wider besseren Wissens springe ich nun doch auf und will noch einmal zu ihm, werde aber von Raphael, vielmehr von der Spitze seines Speers aufgehalten. Uriel runzelt nur die Stirn und ich schenke dem Todesengel einen vorwurfsvollen Blick. Er wendet die Augen ab und einen Augenblick später sind sie alle verschwunden. Ich bleibe alleine auf meiner geliebten Waldlichtung zurück und höre, wie der erste Vogel anfängt zu singen.
Lange Sekunden stehe ich nur da, wie erstarrt, dann löst sich meine Bewegungslosigkeit und ich, nicht mehr länger fähig still zu stehen, beginne aufgebracht auf der Lichtung herumzuwandern. In meinem Kopf herrscht ein einziges Chaos aus Emotionen, Gedanken und Ideen.
 
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Kommentare  

Hallo Jingizu,

wie schön, dass auch dich dieses besondere Kapitel so sehr anspricht.
Das freut mich.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (02.05.2010)

Ja dieses Kapitel ist dir wirklich zauberhaft gelungen. Viel Gefühl und intensive Interaktionen der Charaktere - gleich mal weiterlesen!

Jingizu (02.05.2010)

...und nun lieber Jochen, bis du da, wo du angefangen hast und ich freue mich über all deine Kommentare sehr.

Es macht mir gewaltige Freude, dass dir (und nicht nur dir, wenn ich das ganze Grün anseh) gerade dieser Teil so gut gefällt. Es steckt einiges Herzblut in dem ganzen Roman, aber in einigen Kapitel steckt beonders viel. Dies ist eines davon.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (19.04.2010)

Und nun bin ich endlich dort angelangt, wo ich eigentlich begonnen hatte zu lesen. Ein meisterhaftes Kapitel, zärtlich und erotisch und ...Mensch, der arme Luzifer, der tut mir echt leid. Da können einem ja glatt die Tränen kommen. Sehr mitreißend geschrieben. Spitzenmäßig.

Jochen (18.04.2010)

Liebe Jeiy,
ich weiß ja wie sehr dir dieser Teil gefällt, über deinen Kommentar freue ich mich trotzdem sehr.
Tja nu, sie hat sich verliebt, da wärst du auch nicht mit einverstanden, wenn derjenige welche wieder in die Versenkung muss...;)

Liebe Grüße


Tis-Anariel (15.04.2010)

Ah, dieses Kapitel ist so schön, da schließ ich mich
doska an. Schade nur, dass ER jetzt erst einmal
wieder von der Bildfläche verschwunden ist. Das
sieht 'Hoffnung' bestimmt genauso, nicht wahr?
^^


Jeiy (14.04.2010)

Hallo Doska,

es freut mich sehr, dass dir gerade dieser Teil so gut gefällt. Die nächsten Teile werden wohl nicht mehr ganz so sinnlich sein. Dafür aber spannend.Ich hoffe zumindest, dass ich sie spannend hinbekommen habe.

Liebe Grüße


Tis-Anariel (14.04.2010)

Sehr schön. Ich denke, dass ist wohl dein bisher bestes Kapitel. Man kommt keine Minute zum Atmen, so spannend, sinnlich und einfühlsam ist es geschrieben. Einfach toll.

doska (13.04.2010)

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