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10 Seiten

Ahrok - 20. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Zwanzigstes Kapitel: Die große Totenstelle

Sein Schlaf war unruhig gewesen, erst Recht nachdem ihn Ragnar mitten in der Nacht schon einmal aufgeregt geweckt und mit seltsamen Geschichten bombardiert hatte, die im Halbschlaf alle keinen Sinn ergaben. Am nächsten Morgen erwachte er also weit weniger erholt und entspannt als er es sich gewünscht hatte. Ob das nun an seinen vielen Verletzungen lag oder dem Wissen, dass Sandra im Zimmer gegenüber mit einem anderen lag, wollte er gar nicht so genau hinterfragen. Er konnte sogar ihr gekünsteltes Gestöhne hören, wenn er ganz genau aufpasste – glaubte er zumindest.
Nicht normal. Pah.
Die dumme Kuh hatte sie doch nicht mehr alle! Erst sich hinter seinem Rücken durch die ganze Gastwirtschaft vögeln und ihm dann noch Vorwürfe machen. Das kleine Miststück sollte dem Namenlosen und am besten gleich noch allen anderen Göttern dafür danken, dass er noch immer kein Schwert besaß.
Wieso hatte sie ihm das nur angetan?
Sie hatte ihn ersetzt. Einfach so, wie man eine rostige Klinge auswechselt. Er wollte sie doch nicht verlieren. Vielleicht gab es ja noch Möglichkeiten, sie wieder zurück zu gewinnen. Irgendwo zwischen dieser Hoffnung, Verzweiflung und mörderischen Wut hatte er wohl ein oder zwei Stunden geschlafen.
Obwohl er sich also immer noch wie gerädert fühlte, war er nun froh, dass die ersten Sonnenstrahlen durch die Spalten seines vernagelten Fensters fielen und die beschissene Nacht damit endlich ein Ende hatte.
Ohne großen Elan schwang er seine Gliedmaßen aus dem Bett. Als er noch gelegen hatte, hatte das alles weitaus weniger wehgetan. Die Nachwirkungen des Intensivtrainings waren an diesem Morgen besonders schlimm. Jede Stütze nutzend, sei es nun Bettpfosten oder Wand, tastete er zu Ragnars Zimmer hinüber.
Ein ohrenbetäubendes Schnarchen überzeugte ihn noch auf dem Gang davon, dass der Zwerg es heute nicht so eilig mit dem Aufstehen hatte.
Wenn Ahrok während seiner Zeit mit dem Valr eines gelernt hatte, dann das Taktgefühl hier nur unnütz Zeit vergeuden würde. Noch immer mit einem ganzen Haufen Restwut im Bauch trat er in den Schlafraum ein und begann den Zwerg solange zu rütteln und zu schütteln, bis dieser endlich aus seinen Träumen erwachte.
„Wie...? Was? Ich hab das Bier nicht verschüttet, ehrlich Mama… Was ist denn los?“ Der Valr brauchte eine Weile, ehe er registrierte, dass er sich in seinem Zimmer in der Taverne befand. „Sag mal, hast du sie noch alle, hier so einen Aufriss zu machen?“
Die kleinen Zwergenaugen waren immer noch von tieffurchigen Falten verhangen und blinzelten mürrisch in die ebenso frisch erwachte Welt.
„Hey, du weißt doch... Wir wollten heute irgendwelche Echsen schlachten. Du hast gestern Nacht gesagt, wir müssen besonders zeitig aufbrechen.“
Das zusammengefallene Gesicht des Zwerges straffte sich sofort.
„Wollten wir wirklich so früh los? Scheiße, mein Kopf... dann mal los“, gähnte er und räkelte sich. In einer flüssigen Bewegung griff er gleich dabei nach seinem Hammer, der am Bettpfosten lehnte.
„Äh warte, warte!“, unterbrach Ahrok den Tatendrang des Zwerges. „Sollten wir uns vorher nicht noch etwas ausrüsten? Ich meine, dies wird bestimmt kein Kinderspiel.“
„Hm, da könntest du durchaus Recht haben.“ Ragnar kratzte sich unterm Kinn und gähnte ausgiebig. „Wahrscheinlich wird es nicht ganz so einfach wie das letzte Mal.“
So einfach wie das letzte Mal? Die Worte des Zwerges waren wie ein Schlag in den Magen. Er wäre auf ihrem letzten Ausflug beinahe drauf gegangen, ein Teil seines Körpers war von entstellenden Brandnarben übersät und der Zwerg meinte, dass es heute „nicht so einfach“ werden würde.
„Was wolltest du dir denn eigentlich kaufen?“, hakte Ragnar nach.
„Na, was wohl? ´Ne Waffe! Iss doch wohl klar.“
Ragnar nickte sofort zustimmend: „Ja, richtig. Du verbummelst deine Schwerter ja so oft, wie andere Leute Unterhosen.“
„Mann, bist du heute wieder witzig.“
„Hier, guck dir Umti an. Der ist schon seit drei Generationen im Familienbesitz, weil wir Zwerge nicht bei jeder Gelegenheit unsere Waffen verlieren.“
„Fein. Fein! Kauf ich mir eben kein Schwert.“
„Nu mach dich nicht lächerlich. Ohne Waffe wärst du mir heute so nützlich wie ein Bierkrug ohne Boden. Wir finden schon was für dich - vielleicht etwas mit Kettchen, das du dir am Arm befestigen kannst.“
Ahrok schüttelte nur den Kopf und verkniff sich die vielen bissigen Erwiderungen, die ihm auf der Zunge lagen.

Seine letzten paar Münzen verschlang dann auch schon der Besuch beim Schmied.
Dieser raffgierige Bastard verlangte doch tatsächlich zwei Silberthaler für einen alten, unscheinbaren Zweihänder, der kaum besser war als ein knorriger Knüppel. Mürrisch warf ihm Ahrok das sauer verdiente Geld in lauter Kupferstücken vor die Füße und stapfte hinaus zu Ragnar auf die Straße.
Verdammte Handwerker.
Er hätte das Silber besser in einen dieser wundervollen Heiltränke investieren sollen. Dieses göttliche Zeug war wenigstens jedes einzelne Kupferstück wert, das man dafür ausgab.
„So, alles erledigt. Wir können los!“, nickte Ahrok dem Valr zu.
Dieser stieß sich von der Hauswand ab. Ohne den Blick von den Passanten zu wenden fragte er: „ Na dann... wir müssen zu einer ´großen Totenstelle im Westen´. Weißt du, was damit gemeint ist?“
„Keine Ahnung. Vielleicht ein verlassener Stadtteil? Hat´s nich neulich da drüben im Westen ´n großes Feuer gegeben? Sind sicher ´ne Menge Leute bei gestorben.“
„Ja, das könnte sein... Wenn wir mal so richtig am Arsch sind, dann meinte der Kerl eines der alten Schlachtfelder außerhalb von Märkteburg. Davon gibt´s mehr als genug. Scheiße, ich hätte etwas weiter nachbohren müssen.“
„Ja, herrlich. Und was machen wir jetzt?“
Ratlos stand er in der kleinen Gasse, in der sich mittlerweile immer mehr Leute blicken ließen und sah sich um. Die Menschen um ihn herum schlurften Untoten gleich im üblichen, morgendlichen Elan eines Mondtags von hüben nach drüben. Keiner von denen sah aus, als wäre er überhaupt schon wach, geschweige denn bereit für ein Gespräch.
Totenstelle, Totenstelle...
„Hm...“, unterbrach Ragnar seine bislang ohnehin fruchtlosen Gedankengänge, „Na ja, also... Wir gehen erst mal Richtung Stadtmitte. Dort werden wir uns umhören. Ich bin mir sicher, da werden wir schon einen Ausrufer oder ´nen alten Kauz finden, der uns weiterhelfen kann. Im schlimmsten Fall gehen wir ins Stadtarchiv. Die Schreiberlinge dort werden uns schon Auskunft darüber geben, wer hier alles im großen Stil gestorben ist.“
Ahrok rollte mit den Augen... das war weit mehr Aufwand als er angenommen hatte. Vermutlich wurde dann auch noch die Zeit bis zu ihrer nächsten Schicht sehr knapp. Er wollte doch einfach nur ein paar Monster umbringen, aber dieses ganze Laufen und Suchen war einfach nichts für ihn.
„Bei so einem scheiß weitem Weg sollten wir vielleicht eine Kutsche...“ Ragnars hielt ihm mit bösem Blick ihr letztes Silberstück unter die Nase. „Ähm ja. Schon gut, dann laufen wir halt. Ist eh viel gesünder als das ewige Herumkutschieren.“
Ahrok kannte mittlerweile das innige Verhältnis, welches Ragnar zu ihrem Geld hatte und war überrascht, dass dieser überhaupt so viel für eine Waffe ausgegeben hatte, die er nicht einmal selbst benutzte.
Der Valr betrachtete Ahroks neuen Bidenhänder.
„Das ist dann also dein neues Schwert.“ Ahrok nickte säuerlich. „Na ja... verlier´s einfach nich.“ Der Zwerg fuhr sich mit der Hand über die Augen und spuckte einen dicken Schleimbrocken auf die Straße. „Folg mir einfach. Ich werd uns da schon hinbringen.“
Schweigend folgten die zwei Krieger den immer voller werdenden Straßen Richtung Martkplatz.

Der Ausrufer senkte die Schriftrolle und blickte gleichsam irritiert und genervt von seinem Podest auf Ahrok herunter.
„Was willst du von mir?“
„Ich suche einen Platz, an dem viele gestorben sind. Im Westen von Märkteburg. Kannst du mir da weiterhelfen?“
Der Mann lachte kurz.
„Wofür hältst du mich denn? Ich brülle hier nur in der Gegend rum. Wer heute besonders billige und gute Waren anbietet, welche Verbrecher gesucht werden und wenn du mir ´n paar Silberstücke zusteckst, dann ruf ich auch aus, dass du hier den Längsten von allen hast.“
„Ist ja schon gut, war ja nur ´ne Frage.“
„Wenn du so was wissen willst, dann geh doch in die Bibliothek von Êowîgart, da steht so ziemlich jedes Buch mit jeder Information die es gibt.“
„Ja, danke, danke...“
Ahrok wandte sich ab und starrte wieder hilflos auf die riesige Menge um ihn herum. Hinter ihm nahm der Ausrufer seine Arbeit wieder auf und schrie etwas von Steuerentlastungen im kommenden Jahr.
Eine Bibliothek also... Lesen war nicht gerade seine Stärke.
Seit Stunden lief er nun schon hier herum. Sie hatten sich vor einer Weile aufgeteilt, um effizienter Informationen zu beschaffen, aber zumindest bei ihm war der Erfolg bisher ausgeblieben. So viele Leute liefen hier herum, aber keiner von denen war hier besonders scharf auf ein Gespräch und wenn doch, dann nur zu dem Zweck, ihm etwas zu verkaufen. Bislang hatte er nicht den Hauch einer Auskunft darüber bekommen, wo sich diese besagte Totenstelle denn nun befinden würde, oder was das überhaupt für ein Ort war.
Hoffentlich hatte Ragnar mehr Glück gehabt bei seiner Suche. Es war schon beinahe Mittag und damit Zeit, ihren verabredeten Treffpunkt aufzusuchen - den Fischstand neben dem halbverfallenen Haus an der Südseite des Marktplatzes.
Zu allem Überfluss hatte man ihm inmitten des ganzen Gedränges heute seinen Geldbeutel gestohlen. Dieses Diebespack machte ihn krank. Wenigstens besaß er die Genugtuung, zu wissen, dass sich der Dieb nicht wirklich an diesem leeren Beutel erfreuen würde.
„Kaufst du nun endlich was? Wenn nicht, dann verschwinde. Du vertreibst mir die Kundschaft.“
„Halt jetzt endlich deinen Mund, Menschling, oder ich schieb dir deine Fische dorthin, wo es noch schlimmer stinkt als hier!“
Das war Ragnars Stimme. Er wartete offensichtlich schon eine Weile auf ihn an ihrem Treffpunkt. Sofort schob sich Ahrok noch energischer durch die Menge voran.
„He, Ragnar, was...“
„Mann, da bist du ja endlich, hast du was herausgefunden?”
„Nein, nichts... und du?“
„Abgesehen davon, dass man Fische besser woanders kauft, auch nichts.“ Er warf dem Händler einen bösen Blick zu, den dieser bedrohlich eine Makrele schwingend erwiderte.
„Und nun? Was jetzt? Wir geben doch noch nicht auf, oder?“
„Nein, das Stadtarchiv ist unser nächstes Ziel. Ist ein paar Straßen weiter nahe bei der Wachstation.“
„Wach-was?“
„Das ist das Hauptquartier der Stadtwache. Ich wollte nicht dorthin laufen, wenn nicht unbedingt notwendig.“
„Hm... mir hat jemand gesagt, in der Bibliothek von Êowîgart könnten wir auch Antworten finden.“
Ragnar nickte.
„Ja, sicher, aber die liegt einige Tagesreisen von Märkteburg entfernt Richtung der Berge da hinten. Nein, ich denke wir haben hier keine Wahl.“
Ahrok schürzte die Lippen. Das war mies. Aber die Stadtwächter hatten doch kein Bild von ihnen und außerdem hatte er seit keinen Ärger mehr verursacht. Sicher war das Ganze ungefährlicher, als Ragnar vermutete.
„Na dann, geh voran – und wehe dieses Archiv weiß auch nichts, dann hau ich aber irgendetwas kaputt.“

Ragnar pflügte wieder achtlos durch die Menge. Rempelte, stieß Leute beiseite und beschimpfte all jene, die nicht schnell genug gingen. Kurz gesagt, der Zwerg verhielt sich wie jeder andere hier auf dem Marktplatz.
Auf den Gassen abseits des Marktes wurde es dann zum Glück merklich ruhiger und auf dem kleinen Platz vor der Wachstation war außer den Wächtern in ihren gelb-schwarzen Uniformen kaum noch jemand zu finden.
Ahrok hielt inne, um sich einmal umzusehen. In diesem Teil der Stadt war er noch nie gewesen. An drei windschiefen Fahnenmasten, welche direkt vor dem Gebäude der Stadtwache standen, wehten drei verschiedene Fahnen.
Die Erste war das Banner des Königreichs, die Zweite die Stadtflagge und die Dritte die der Stadtwache, erklärte Ragnar wie üblich ungefragt. Der Pranger darunter war leer und der Richtplatz daneben wurde soeben von einem unmotivierten Zwerg dürftig gereinigt.
„Es ist noch zu früh für Hinrichtungen, die finden erst in ein paar Stunden statt, wenn die meisten Bürger auch die Zeit haben, sich das Ganze anzusehen“, erläuterte der Valr trocken.
Ahrok hielt inne starrte wie gebannt auf diesen Ort, an dem schon so viele Leute ihr Leben ausgehaucht hatten. Diese Richtstätte hatte eine widerliche und gleichsam magische Anziehungskraft.
„Nu los, komm weiter“, drängte Ragnar, aber da kam auch schon einer der Stadtwächter auf sie zu.
Demonstrativ stellte er seine Hellebarde auf und nickte ihnen zu: „Guten Tag, Bürger. Kann ich Ihnen weiterhelfen? Möchten Sie jemanden anzeigen oder denunzieren? Wir nehmen auch gern jegliche Hinweise auf Magiebegabung entgegen und leiten sie dann an die Hexenjäger weiter. Falls Sie jedoch gekommen sind, um etwas Zerstreuung suchen... zu den offiziellen Hinrichtungen sind Sie derzeit noch etwas früh dran und es werden seit diesem Monat auch keine Platzreservierungen mehr durch die Stadtwache vorgenommen.“
Der Mann vor ihnen war um die vierzig Jahre alt. Sein Helm saß marginal schief und die dunklen Bartstoppeln an Wange und Kinn ließen ihn sympathisch verwegen aussehen. Sein Auftreten war ehrfurchtgebietend, aber dennoch freundlich.
Ahrok erwiderte das Nicken: „Eigentlich suchen wir die große Totenstelle im...“
„Wir suchen das Stadtarchiv“, fiel Ragnar ihm sogleich ins Wort. „Man sagte uns, das wäre hier in der Nähe.“
„Völlig richtig, Bürger. Es ist das Gebäude da drüben. Aber bringen Sie am besten etwas Zeit mit. Die Beamten dort sind um die Mittagszeit nicht gerade die Fleißigsten.“
„Vielen Dank.“
„Keine Ursache, Bürger. Einen schönen Tag noch.“
Ragnar schob Ahrok sofort weiter.
„Sag mal, spinnst du“, zischte er leise. „Wie kannst du der Stadtwache verraten, wo wir hin wollen? Das grenzt doch an Blödheit, die ich nich mal von einem Troll mit Hirnschaden erwarten würde.“
„Was ist denn schon dabei?“
„Was dabei ist? Was da...? Na, hör mal. Wenn das da wieder aus dem Ruder läuft und die sich fragen, wer damit zu tun hat, wessen Gesichter kennen die jetzt?!“
„Na ja... jetzt wo du´s sagst...“
„Ja! Jetzt wo ich es sage. Hör auf, da rüber zu starren und halt ab jetzt den Mund! Ich rede nur noch für uns beide klar?“
Ragnar stapfte wütend an ihm vorbei auf das Archiv zu.
Ahrok war versucht, dem Zwerg etwas Beleidigendes hinterher zu brüllen, aber er wollte dann doch lieber nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Stadtwächter hatte den Streit zwischen ihnen aufmerksam beobachtet und blickte ihnen noch immer nach.
Es war das Beste, Ragnar zu folgen und ihm in einem passenden Moment einen kräftigen Schlag zu verpassen.
Der Valr marschierte während dieser Überlegungen ungebremst weiter durch das geöffnete Tor hinein ins Archiv, also folgte ihm Ahrok.
In dem großen Gebäude herrschte überraschenderweise eine angenehme Wärme.
Der Boden bestand aus abgelaufenen Steinplatten, die schon vor langer Zeit ihren Glanz verloren hatten. Wände und Decken waren mit einfachen, hölzernen Platten getäfelt, die das Archiv schmucklos und trist wirken ließen. Nur ein paar aufgehängte Schilde und gekreuzte Schwerter in Augenhöhe verliehen dem Raum einen offiziellen Anstrich und direkt neben dem Eingang stand eine große Holztafel, an welcher schätzungsweise einhundert verschiedene Zettelchen mit Bekanntmachungen, Gesetzesvorlagen oder Anträgen ausgestellt waren.
Ein einzelner Schreiber saß in der Mitte des Raumes hinter einem Tisch voller Dokumente. Vier ähnlich voll bepackte Tische neben ihm waren nicht besetzt. Vor der hageren Gestalt reihten sich schon fünf Leute auf und als sein Blick auf Ahrok und Ragnar fiel, verlor der gute Mann jegliche Beherrschung.
„Sagt mal, könnt ihr alle nicht lesen? Da draußen steht groß und breit dran, dass von elf bis vierzehn Uhr Mittagspause ist. Kommt später wieder!“
Die anderen fünf in der Reihe blickten die beiden Krieger sogleich tadelnd an, aber Ragnar machte keine Anstalten, wieder zu gehen. Seufzend wandte sich der Beamte den Formularen wieder zu.
„Nun gut, Herr äähhhm... Müller. Wie gesagt fehlt Ihrer Beschwerde die Anlage B. Sie können das entsprechende Formular nächsten Dienstag im zweiten Stock beantragen. Der Nächste dann.“

Ahrok trat unruhig von einem Bein auf das andere. Das Warten in dieser gereizten Atmosphäre voller Tristesse war bereits nach Minuten zur Qual geworden und jetzt waren schon Stunden vergangen.
Erst das ganze Umherlaufen und dann jetzt dieses andauernde Stehen zwischen Leuten, die es angestrengt vermieden, sich anzusehen oder ein Wort mit anderen zu wechseln. Seine Füße taten weh. Zwei Stunden waren bereits ins Land gegangen. Die letzte davon hatte er auf sein Schwert gestützt verbracht, um seine schmerzenden Füße und Beine zu entlasten, die sich immer noch nicht von den Anstrengungen der letzten Tage erholt hatten.
Endlich hatte auch der Letzte vor ihnen sein Problem geschildert und war nach langem Hin und Her abgefertigt worden. Der Schreiber schob seine Brille zurecht, atmete tief durch und legte die Feder nieder.
In freudiger Erwartung traten die beiden Krieger zu ihm an den Tisch.
Der Beamte blickte sie beinahe feindselig durch seine Gläser hindurch an: „Und? Was wollen Sie?“
„Wir suchen Informationen zu einer großen Totenstelle im Westbezirk und hatten gehofft...“
„Halt. Reden Sie gar nicht erst weiter. Der Kollege aus dem Westbezirk ist heute nicht hier. Der gute Herr ist krank, weil er sich wahrscheinlich wieder mit irgendwelchen pestverseuchten, unautorisierten Syphilisschleudern eingelassen hat und ich deswegen jetzt hier alleine hocken muss. Möge der Namenlose den krummen Schwanz des alten Hurenbocks abfaulen lassen. Versuchen Sie es morgen oder am besten erst nächste Woche noch einmal, wenn Sie Fragen zum Westfriedhof haben. Vielleicht ist er dann wieder anwesend. Guten Tag.“
Erleichtert lehnte sich der Mann zurück in seinen Stuhl.
„Sagten Sie gerade... Westfriedhof?“
„Nein, Sie sagten gerade Westfriedhof, wenn auch in Ihrem komisch dümmlichen Zwergen- oder Bauerndialekt, wie ich annehme. Wie dem auch sei, das ist nicht mein Aufgabengebiet. Da ich weder für post vitae Angelegenheiten, noch Vorkommnisse, die den Westbezirk betreffen, zuständig bin, bitte ich Sie, Ihren Interruptus Mittagspausus zu beenden, wie der Gelehrte sagt.“
Der Beamte bückte sich unter den Tisch und wühlte in seiner Tasche. Als er einige Zeit später mit einem Stück Brot, einem Apfel und einer gebratenen Hühnerkeule wieder nach oben kam, standen die beiden noch immer vor seinem Tisch.
„Meine Herren. Was soll das? Ich kann und will Ihnen bei Ihrem Problem nicht weiterhelfen. Also gehen Sie doch bitte einfach, bevor ich Sie von der Stadtwache entfernen lassen muss.“
„Können Sie uns wenigstens noch sagen, wie wir zum Westbezirk kommen?“
Der Schreiber seufzte und legte sein Essen auf den Tisch.
„Gehen Sie nach Westen!“
Auf Ahroks bösen Blick fügte er noch hinzu: „Einfach immer die Münzgasse entlang. Dann beim Geldwechsler links abbiegen und dann am besten dort noch einmal nachfragen. Guten Tag, meine Herren.“
„Danke, wir...“
„Guten Tag. Meine Herren“, unterbrach ihn der Beamte und biss dann in seine mitgebrachte Mahlzeit.

Hauptmann Bernhard hatte eher zufällig aus dem Fenster geblickt, so dass er die beiden Gestalten aus dem Stadtarchiv kommen sah. Einer der Stadtwächter grüßte sie und wechselte noch ein paar Worte mit ihnen.
Das konnte nicht wahr sein.
Die beiden Bastarde aus der Kanalisation wagten sich hier her, um ihn anzuzeigen. Hier her, in sein Reich, in sein Wohnzimmer! Er hatte nicht erwartet, dass die Wächter ihn damals erkannt, geschweige denn überlebt hatten. Das konnte gefährlich werden. Wenn erst die Hexenjäger davon erfuhren und eine Untersuchung einleiten würden, dann wäre er verloren.
Gebannt starrte er aus dem Fenster auf die Unterhaltung.
Die zwei, ein junger blonder Kerl und ein Valr, gingen wieder fort und verschwanden in der Münzgasse. Der Stadtwächter, mit dem sie geredet hatten, war Ottfried gewesen. Er machte jedoch keine Anstalten, zur Wachstation zu laufen, sondern setzte seine übliche Runde fort, als wäre nichts gewesen.
Was war da gerade passiert?
Bernhard fiel zurück in seinen Sessel, aber selbst in dieser gemütlichen Sitzgelegenheit gab es keine Ruhe für ihn. Er schnellte wieder hoch und wanderte unruhig auf und ab. Sein ohnehin schon malträtiertes Herz schlug schneller als gewöhnlich und seine Augen huschten rastlos umher. Er geriet nicht in Panik, dafür war er zu erfahren, zu abgebrüht, aber es gab Fragen, die dringend nach einer Antwort schrien. Hatte man ihn nun erkannt und verraten oder nicht? Was wollten die beiden von ihm? Wohin wollten sie? Was sollte er jetzt tun?
Ein weiterer, hastiger Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass Ottfried immer noch stoisch seine Runde lief.
Hätte man dem Mann etwas gesteckt, dann wäre er längst auf dem Weg hierher gewesen... es sei denn... Ottfried wollte sich damit gleich an die Hexenjäger wenden, oder ihn erpressen.
Verdammter Hund Ottfried.
Tat immer so scheinheilig, als könnte er kein Wässerchen trüben und jetzt wollte er ihn erpressen. Ihn! Hauptmann Bernhard Schreiber. Seinen Freund und Vorgesetzten, den Paten seiner erstgeborenen Tochter.
Es war nicht schön, was nun folgen musste und es würde ihm auch sicher keine Freude bereiten, aber Bernhard konnte nicht zulassen, dass diese Gefahr weiter herumlief.
„Sergeant Schmidt!“
Der Beamte aus dem Vorzimmer stürzte sofort mit dem für ihn so typisch überzogenem Pflichtbewusstsein in das Büro des Hauptmanns.
„Jawohl, Herr Hauptmann.“
„Sorgen sie dafür, dass Wachmann Ottfried Vogel umgehend zu mir gebracht wird.“
„Jawohl, war das dann Alles, Herr Hauptmann?“
„Ja, das war...“, plötzlich schoss Bernhard etwas durch den Kopf. „Warten Sie. Bringen Sie mir bitte auch noch die Akte Ablibah.“
„Jawohl, Herr Hauptmann.“
Der Sergeant salutierte kurz und verließ dann den Raum.
Nichts würde so einfach zwischen ihn und seine Pläne kommen, die Stadt von Grund auf zu sanieren. Nichts und niemand.
 
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Kommentare  

Danke an euch drei für eure anhaltenden und aufmunternden Kommentare.

Am nächsten Kapitel wird derzeit noch ein bisschen geschraubt - das dauert also noch ein paar Tage.


Jingizu (17.09.2010)

War wieder schön athmosphärisch geschrieben. Ich liebe Kleinigkeiten, konnte mir zum Beispiel den Fischhändler sehr gut vorstellen, wie der bedrohlich seine Makrele Richtung Ragnar schwingt- köstlich! In diesem Teil taucht auch wieder der fiese Hauptmann Bernhard auf. Freue mich schon auf das nächste Kapitel.

Jochen (16.09.2010)

von elf bis vierzehn uhr mittagspause? nicht schlecht. ;))
und wie nennt man das? ach ja, cliffhanger... immer wenn’s am spannendsten ist, dann ist finito.
lieben gruß


Ingrid Alias I (14.09.2010)

Schade, dass es nun endgültig aus ist, zwischen Ahrok und Sandra. Die beiden waren doch so ein süßes Paar. Aber vielleicht kommen sie ja doch irgendwann einmal wieder zusammen. Es sieht inzwischen ziemlich gefährlich aus, für unsere beiden Helden, denn Hauptmann Bernhard ist auf sie aufmerksam geworden. Er konnte sie sich nicht mehr schnappen, aber er hat wohl einen fiesen Einfall, nehme ich stark an?

Petra (13.09.2010)

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