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2 Seiten

frei sein

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten
Sie atmet schwer.
Der salzige Schweiss beginnt langsam, schleichend, ihren gesamten Körper zu bedecken. Wieviele Kilometer schon hinter ihr liegen? Viele - oder nur ein paar? Keine Ahnung. Sie weiss es nicht. Will es auch nicht wissen. In ihrem Kopf dreht sich alles. Wie bei einem Glücksrad, das mal stoppt, nur um ihr einen quälenden Gedanken oder den schmerzenden Fetzen einer Erinnerung zu zeigen, nur um dann gleich wieder von alleine anzufangen zu drehen und dann wieder zu stoppen, sie wieder zu foltern.
Durch die Kopfhörer dröhnt der Bass irgendeines Raps in ihre Ohren. Ihr Herz schlägt mit ihm. Ihr Kopf konzentriert sich für wenige erholsame Sekunden auf den Text. Sie kennt ihn auswendig. „Look, if you have one shot and one opportunity, to seize everythi…“. Schon dreht es weiter und das nächste Bild erscheint: Netze, gespannt in den Hohlräumen zwischen den einzelnen Treppen eines Treppenhauses, Gitter vor den Fenstern, draussen eine Terrasse mit überhohen Geländern. Wieder dreht es und das Bild verschwindet. Der nächste Song läuft. „…come take my hand…“. Wieder dreht es. Ein Bild, darauf eine Frau mit Tränen in den roten, vom Weinen geschwollenen Augen. Die Frau nimmt ihre Hand, klammert sich an sie.
Und wieder…
Es dreht.
Hasserfüllt stampft sie auf.
Dieser Hass, er hält sie fest.
Sie wird schneller, schneller als sie sollte. Wuttränen werden sichtbar in ihren Augen. Stur blinzelt sie sie weg. Nun wird der Weg vor ihr für eine Weile gerade sein. Sie schliesst die Augen, atmet tief ein. In ihren Gedanken wird es klarer und für einen Moment fühlt sie sich leichter. Sofort sind die Augen wieder offen. Entschlossen auf die Dunkelheit vor ihr gerichtet. Nur die Lichter des Dorfes dringen zu ihr. Doch - sie will nicht mehr dort hin. Sie will nur weg...

Ihre Füsse beginnen zu schmerzen. Die Beine werden schwerer, schwächer. Einzig eine leise Vernunft bringt sie dazu, auf die Lichter zuzusteuern.
Allmählich breitet sich die Erschöpfung aus. Jeden Milimeter nimmt sie ein. Ihre Schritte werden wieder kleiner, sie wird langsamer. Die gesamte Aufmerksamkeit richtet sich nun auf die Schwere und die ablenkenden Schmerzen; ein Brennen im Mund, die Mühe beim Schlucken und wie es immer wieder einen Stich gibt, wenn sie mit einem Fuss auf dem Boden auftritt. Die unablässig drehenden und wechselnden Gedanken werden kaum noch beachtet, denn die letzte Energie muss für die Rückkehr gebraucht werden.
Sie gelangt ins Dorf, ihre Hände, vorhin noch eiskalt, sind nun warm. Wohlig warm.
Das Haus tritt in ihr Blickfeld. Noch wenige Meter, wenige Sekunden, um die letzte Schwere aus ihrem Kopf und ihrem Herzen zu bringen. Ein letztes Mal beschleunigt sie, ihre Schritte werden abermals grösser. Von der anderen Strassenseite her johlen ihr ein paar betrunkene Männer zu. Diese Stimmen nimmt sie nur kurz wahr. Beim Haus angekommen, schwingt sie die Tür auf und verschwindet aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Aber statt sich gleich auszuruhen, macht sie noch ein paar rastlose Schritte, damit ihre Muskeln nicht einer allzu abrupten Veränderung ausgesetzt sind. Dann legt sie sich hin, auf den nackten Boden. Immer mehr entspannt sich so auch ihr Körper, immer weniger fühlt sie sich. Frei. Wäre da nicht noch ihr schwerer Atem, so hätte sie das Gefühl, nicht mehr in einem Körper zu sein. Wäre da nicht noch die einsetzende Müdigkeit – so würde sie sich so leicht fühlen, als könne sie schweben. Weg. Frei
sein.
 
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Kommentare  

Ein trauriger aber auch sehr ausdrucksstarker Text.

Gerald W. (19.04.2011)

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