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25 Seiten

Drei Tage bis Weihnachten

Aktuelles und Alltägliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
© Tintentod
Drei Tage bis Weihnachten

1. Der Anruf.
Drei Tage vor Weihnachten erreichte der Funkspruch die Polizeizentrale von einer der Streifen, die am frühen Abend durch die ruhigen Straßen patrouillierten. Gary legte die Zeitung beiseite und nahm den Ruf entgegen. Er hatte sich auf einen weiteren ruhigen Abend und eine noch ruhigere Nacht eingerichtet, aber als er die Stimme eines Kollegen hörte, verabschiedete er sich von dieser Vorstellung.
„Gary, wir sind in der Warden Street, gegenüber der alten Kleiderfabrik. Da sitzt jemand auf der Plakatwand und weigert sich, herunterzukommen.“
„Könnt ihr sehen, wer es ist?“, fragte Gary.
„Er trägt eine Weihnachtsmütze“. Im Hintergrund sagte sein Kollege etwas, der neben dem Streifenwagen stand und er wiederholte die Worte. „Harry sagt, es ist Ewan O’Shea.“
„Was, zum Geier, macht er dort oben?“ Gary rutschte auf die Kante des wackeligen Bürostuhls und beugte sich dem Funkgerät entgegen. Er kannte Ewan und seine seltsamen Einfälle.
„Er sagt, er ist noch nicht fertig mit der Plakatwand.“


2. – Die Woche davor.

Nachdem sie ihre Nachtschicht in der Fabrik beendet hatten, fuhren Ewan und Duckie in Duckies Wagen nach Hause, zogen sich um und gingen wieder auf die Rolle. Es war früh am Morgen, ein paar Hausfrauen und verspätete Schulschwänzer waren in den Straßen unterwegs und an jeder Ampel, die sie zum Anhalten zwang, debattierten sie darüber, wo sie hinfahren sollten. Sie diskutierten sehr laut und in einem aggressiven Ton, den sie sofort unterbrachen, wenn sie weiterfuhren. Duckie benutzte den alten Pick-up seines Vaters und wusste, dass der ihm umbringen würde, wenn er aus Unachtsamkeit einen Unfall baute.
Aus dem Radio plärrte laute Weihnachtsmusik und der Schneematsch auf den Straßen in Verbindung mit den abgefahrenen Allwetterreifen des Pick-ups machten die Angelegenheit nicht einfacher.
„Vic“, sagte Ewan. Er kratzte in seinem unrasierten Gesicht herum, rutschte auf dem Beifahrersitz hin und her und fügte hinzu: „Der Schwachkopf schuldet mir noch ein ganzes Päckchen. Fahren wir zu Vic.“
Duckie behielt es für sich, dass er die Idee alles andere als brillant fand. Erst vor zwei Tagen hatte Ewan einen Streit vom Zaun gebrochen, in dem es um nichts gegangen war und Ewan trug das blaue Auge mit der ihm üblichen Gelassenheit herum. Zum Abschied an diesen denkwürdigen Abend hatte Vic ihnen hinterher gerufen, sie sollten sich in diesem Jahrhundert nicht mehr blicken lassen und hatte ihnen ein schönes Weihnachtsfest gewünscht.
„Reißt du dich am Riemen?“
„Was meinst du damit?“
„Ich hab keine Lust, dich bei Vic wieder aus der Scheiße zu holen, wenn Vic uns überhaupt rein lässt. Starr mich nicht so an, du Komiker. Wirst du dich wieder mit jemandem anlegen, der dir keinen Grund dafür gegeben hat?“
Sie hielten vor der nächsten Ampel und Duckie setzte den Blinker. Wollten sie zu Vic, mussten sie geradeaus über die Kreuzung.
„Mahatma ist mein zweiter Vorname“, sagte Ewan, brüllte unvermittelt hinterher: „Versprochen, du Arschloch. Und jetzt fahr endlich!“
Duckie war schneller als die Ampel und fuhr geradeaus, mit noch immer gesetztem Blinker. Hinter ihnen hupte jemand.
„Wenn du dich nicht daran hältst, Freund, werde ich dir wehtun.“
Darüber grinste Ewan nur, aber er hatte einen friedlichen Tag nach einer langen Nachtschicht, und weil er so tat, als habe er den Vorfall längst vergessen, ließ Vic sie ins Haus und sie tranken zum Frühstück das erste Bier aus der Privatbar.

Duckie und Ewan waren sechsundzwanzig. Sie hatten zusammen im Sandkasten gespielt, zusammen das College abgebrochen und zusammen die Scheißjobs in der Fabrik angenommen. Jobs waren immer Scheiße, aber wenigstens stand die Fabrik noch und es reichte, um eine Bruchbude zu bezahlen und ab und zu einen trinken zu gehen.
Sie sahen sich so ähnlich, dass Fremde sie für Brüder hielten und selbst die Freunde häufig ihre Namen verwechselten.
Ewan hatte etwas dagegen unternommen und sich das Haar färben lassen. Es sah scheußlich aus und selbst seine Mutter hätte ihn nicht mehr wiedererkannt. Wenn sie ihn gesehen hätte. Ewan war seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen.
Vic war zehn Jahre älter als die Beiden und arbeitete enthusiastisch an einer nahen Zukunft mit Schlaganfall und Raucherbein, konnte es nicht einmal damit entschuldigen, dass er gleichzeitig reich, berühmt und erfolgreich sein würde. Seine Bar und Nachtclub standen kurz vor dem Aus und er machte seit dem Sommer Geld an der Steuer vorbei mit den privaten Hauspartys. Er dealte nicht – er stellte Partyausstattung zur Verfügung. Er ließ jeden und jede hinein, fragte nicht nach dem Alter und hatte kein Auge darauf, wer sich auf seinen Partys den Verstand wegschoss.
Vic war ein Freund aus der Hölle, den es einen Dreck scherte, was mit allen anderen geschah, solange Geld in seine Taschen floss. Von sich behauptete er, er sei DJ, aber Ewan behauptete, seine taube Grandma habe mehr Gefühl für Rhythmus als er.
„Was ist los mit ihm?“, fragte Vic, als Duckie ihm half, Kisten mit billigem Whisky aus dem Lagerraum hinter die Theke zu tragen. Er hatte eine Zigarette in seinem Mundwinkel hängen und tat so, als brenne der Qualm nicht in seinen Augen.
„Ist es immer noch wegen seinem Dad?“
Daddy O’Shea war vor fünf Wochen beerdigt worden und die halbe Fabrikbelegschaft und die ganze Nachbarschaft hatte ihm die letzte Ehre erwiesen. Bis auf viele lebhafte Erinnerungen an einen großen kräftigen Mann, der in der Fabrik als Vorarbeiter alles im Griff und zu Hause zu nichts eine Meinung hatte, war von ihm nicht viel übrig geblieben. Sein Sessel stand noch immer am Fenster, in dem jetzt ungestört der Hund schlief, seine Anzüge und Hemden verstaubten im Schrank, bis seine Witwe nach angemessener Zeit einen Abnehmer dafür finden würde. Im ganzen Haus gab es nicht viele Fotos, weder von ihm noch von den Kindern, allerdings achtete Ewans Mom sehr pingelig darauf, dass seine Pfeife neben dem Modellschiff der Küstenwache lag.
Die O’Sheas stammten aus einer Reihe von Seefahrern ab und wenn er es sich hätte aussuchen können, wäre er wohl gerne während eines Sturms über Bord gegangen und in schweren Gummistiefeln ertrunken.
Aber wer konnte sich die Umstände schon aussuchen, es sei denn, man stieg auf das Dach eines Hochhauses oder steckte sich den Lauf eines Revolvers in den Mund.
„Es hat nichts mit seinem Dad zu tun“, sagte Duckie, setzte die Kiste Alkohol ab, drückte seinen Rücken durch, „er hat seine eigene Hochzeit geschmissen. Sprich ihn bloß nicht darauf an.“
„Teufel werd ich tun“, murmelte Vic, „interessiert mich ja sowieso nicht. Ich hätte ihm nur kein blaues Auge verpasst, wenn ich es gewusst hätte.“
Das war eine Lüge. Vic hatte schon ganz andere für weniger verprügelt.

Ewan und Duckie waren nicht die einzigen Gäste an diesem Morgen, nur die Ersten, die zur Tür hereingekommen waren. Alle anderen kamen gerade so weit von ihren Trips herunter, dass sie gegen Nachmittag einigermaßen sicher nach Hause fahren konnten. Wenn nicht, blieben sie einfach.
Ewan saß auf der Rückenlehne des Ledersofas, zu seinen Füßen lag jemand, der aussah wie das Drogendouble von Keith Richards und sie teilten sich eine Flasche Rotwein. Das würde wehtun. Ewan schätzte, dass er von der Bier-Wein-Mischung innerhalb der nächsten halben Stunde in den Vorgarten kotzen würde, er hatte noch nichts gegessen und der Alkohol war sofort da, wo er hinsollte – in seinem Kopf.
Aus der oberen Etage des Hauses kam laute Musik, jemand stampfte auf dem Boden herum und schrie abgehackt. Als würde man jemandem den Hals rhythmisch zudrücken, um im Takt der Musik zu bleiben. Keith zu seinen Füßen forderte die Weinflasche ein und nannte Ewan einen Idioten, weil er die Flasche am Flaschenhals angefasst hatte. Ewan tat so, als würde er ihm die Flasche überreichen und ließ sie ein Stück vorher los. Es waren nicht die ersten Flecken, die das Sofa abbekam.
Von oben schrie noch immer jemand. Es ertönte ein Knall und die Musik verstummte. Boxenplatzer.
David Bowie war verstummt und irgendwo im Raum diskutierten zwei Stimmen darüber, weshalb sie Theaterwissenschaft studierten und dass sie nicht verstanden, dass stand-up comedian clubs mehr Zulauf hatten als Improvisationstheaterbühnen. Ewan hätte diese nervigen Stimmen sehr gerne ebenfalls mit einem Boxenplatzer abgestellt. Oder ihnen die Hälse zugedrückt.
Er stieg von dem Sofa, suchte nach Duckie und dachte, er könnte nach oben verschwunden sein. In den oberen Zimmern des Hauses hatten die Gäste der Hauspartys Sex oder versuchten Sex zu haben oder schliefen ihren Rausch aus. Im Moment schrie noch immer jemand und es war nicht erkennbar, ob es eine Frau oder ein Mann war und Ewan machte sich auf den beschwerlichen Weg, die Treppe nach oben zu finden. Wie meist war das Haus nur spärlich beleuchtet, weil Vic nicht immer nur die hübschen Mädchen einlud, wie Duckie gerne behauptete und wenn alle ihre Tüten entzündeten, sah man in dem Qualm erst recht nichts mehr. Aus allen Feuermeldern waren die Batterien herausgenommen worden.
Sollte der trockene Weihnachtsbaum, der in der Ecke stand, durch einen Kurzschluss der Lichterkette in Flammen aufgehen, würde es ein Großteil der Gäste in diesem Haus nicht einmal bemerken.
Auf der Suche nach der Treppe ging Ewan systematisch vor, erst tastete er sich zur Theke vor, dann durch die Öffnung in der Wand nach links und fand den Flur. Beim letzten Besuch war dort noch eine Tür gewesen, aber die war verschwunden, ebenso wie der Türrahmen und Teile der Wand. Sein Ausraster, der einer Lampe und einigen Gläsern das Leben gekostet hatte, war offensichtlich nicht der Einzige und nicht der schlimmste gewesen.
Ewan mochte in einer Krise stecken, aber er war schlau genug, bei Vic keine Drogen einzuschmeißen, die er nicht selbst mitgebracht hatte. Nichts von dem, was es in diesem Haus gab, war das, was es vorgab zu sein.
Im Flur stieg er über einen schlafenden Kerl hinweg, der auf dem Läufer vor der Treppe ein großes X bildete. Hätte er Tafelkreide gehabt, hätte er seine Konturen nachgezogen. Die Stufen, ausgetretene Holzbohlen, waren eine wahre Herausforderung, denn er hatte in den letzten Tagen kaum drei Stunden am Stück geschlafen, sich während der Nachtschicht nur mit den guten alten Pharmazeutika auf den Beinen gehalten und noch weniger gegessen. Ein gefüllter Teller erinnerte ihn an gemeinsame Mahlzeiten mit der Familie und das erinnerte ihn an die Feier der O’Sheas und den Beaumonts in dem angemieteten Saal des besten Hotels am Ort und dann verlor er jeden Appetit. Was für ein Albtraum.
Er würde sich noch eine Weile mit Kartoffelchips und Schokoladenriegel über Wasser halten, die Nachtschicht nutzen, um in der Dunkelheit nicht über diese Sache nachdenken zu müssen und in Duckies Ein-Zimmer-Appartment auf der Couch unter dem Fenster schlafen, mit den Füßen an der Küchenspüle. Er würde es durchhalten, bis ihm etwas anderes einfiel, was er tun konnte. Duckie war der Einzige, der Verständnis für ihn hatte und nicht solche Sätze abließ wie „Reiß dich zusammen, mein Junge“ (seine Mutter) und „Du solltest mit ihr darüber reden“ (seine ältere Schwester). Sein Dad hätte ihm keinen guten Ratschlag gegeben und er hätte ihn verstanden, dass er nach dem Debakel so reagiert hatte. Aber Dad war nicht mehr da.
Er wollte nicht vernünftig sein, er wollte sich nicht zusammenreißen und er wollte ums Verrecken auch nicht darüber reden. Seit dem Vorfall konzentrierte er sich darauf, nur an das zu denken, was er gerade tat. Seine Schuhe anziehen. In Duckies Wagen sitzen, während Duckie tankte. Nicht neben das Becken zu pissen. Die Treppe nach oben steigen.
Seine Knie taten weh und seine Füße waren so schwer, dass er sich mit einer Hand am Geländer hochzog. Wenn er sich zu sehr beeilte, könnte er die Kotze hochschwappen lassen, die er im Moment noch mutig unterdrückte.
In der jüngsten Vergangenheit hatte er sooft das Porzellan umklammert, dass man hätte meinen können, er hätte die Laufsteg-Krankheit. Nach einer kleinen Ewigkeit, gefangen in giftig grünen Wellen und Zement an den Füßen, stand Ewan am Treppenabsatz, der Quelle der abgehackten Schreie deutlich näher und wandte sich nach rechts durch die erste Tür. Er kotzte in die Dusche, weil auf dem Klo bereits jemand saß, und entschuldigte sich beiläufig. Die Frau im Batikkleid aus den Siebzigern und mit einer Santa-Claus-Mütze auf dem Kopf und ihrem Slip an den Knöcheln reagierte nicht.
Ewan hätte gewettet, dass sie geschrien hatte, aber er starrte in ihr bewegungsloses Gesicht und hörte die Schreie noch immer. Nach der Rückgabe von Bier und Wein fühlte sich sein Kopf nicht klarer an, aber er konnte zielstrebig das Zimmer suchen, aus dem die Schreie kamen. Seltsamerweise kam ihm eine der vielen Ermahnungen seiner Mutter in den Sinn und er klopfte höflich an die Tür, bevor er den Türknopf herumdrehte. Die Tür war abgeschlossen. Auf sein Klopfen hin verstummten die Schreie abrupt und Sekunden später klickte das Schloss und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.
„Was ist?“, fragte eine weibliche atemlose Stimme. So atemlos wie nach einem Marathonlauf. Ewan legte den Kopf schief, versuchte, außer diesem Auge hinter blondem Haar noch etwas zu entdecken, und sagte: „Hast du dich mal gefragt, weshalb Bowie auf allen Plattencovern wie eine Fummeltriene aussieht?“
„Was?“
„Ich würde mir das Gesicht nicht auf weibisch schminken und mich dann fotographieren lassen, wenn ich doch ’ne Frau zu Hause hab.“
Der Spalt zwischen Türrahmen und Tür wurde etwas breiter, das blonde Mädchen strich sich das Haar zurück und über ihre Schulter hinweg sah Ewan herumliegende Kleidung und ein paar nackte behaarte Männerbeine. Die Zehen bewegten sich, anscheinend war dort noch niemand gestorben.
„Dir könnte ein wenig Make-up auch nicht schaden“, sagte die Blonde, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte, „du siehst aus wie der Hund von den kleinen Strolchen.“

Duckie fand ihn zwei Stunden später in einem der Schlafzimmer, wo er reglos in einen Wandspiegel starrte, der so aufgestellt war, dass man sich bei akrobatischen Bettlakenaktionen selbst beobachten konnte, bei ihm saß die Hippielady in dem weiten Kleid, die etwas über ihre spirituellen Erfahrungen in Indien vor sich hinmurmelte. Ewan zeigte einen verzweifelt konzentrierten Gesichtsausdruck, als erwartete er, dass sein Spiegelbild ihm seine dringendsten Fragen beantworten könne.
Wie konnte alles nur so den Bach runtergehen? Weshalb hat Des nicht einfach sein blödes Maul gehalten?
Duckie sagte, er solle seine Schuhe wieder anziehen. Er wolle nach Hause, vorher noch was einkaufen und dann schlafen gehen. Ewans Socken waren verschwunden und er lief sich dicke Blasen in seinen Arbeitsschuhen. In seiner Jackentasche fühlte er den weichen Plüsch der Weihnachtsmütze, der sich feucht anfühlte. Obwohl er nicht wusste, weshalb die feucht in seiner Jackentasche steckte, ließ er sie dort.
Vic rief ihnen hinterher, dass sie in den oberen Räumen nichts zu suchen hätten.
„Knutsch mir die Kimme“, rief Ewan zurück.
Er wollte schlafen, er wollte die hämmernden Kopfschmerzen loswerden und dann bis zur nächsten Schicht nichts mehr tun als sich eine alberne Fernsehshow ansehen. Aber wenn Duckie für den Tag noch etwas anderes vorhatte, würde er nicht Nein sagen.
„Was hast du da oben getrieben?“, fragte Duckie.
Sie parkten längst vor seiner Wohnung in der Brimmer Street, der Pick-up stand wie immer mit zwei Rädern auf der Fahrbahn, um nicht auf den heiligen Rasen zu treten, wenn sie ausstiegen.
Mrs. Moore, die Vermieterin, liebte ihren Rasen und sie ließ sogar einen Gärtner kommen, den sie dafür teuer bezahlte, dass er ihn trimmte, düngte und vom Moos befreite. Selbst die schmalen Ränder wurden säuberlich geschnitten und vom Unkraut befreit. Der Witz dabei war, dass der Rasen nicht besser aussah als die angrenzenden Rasenflächen der Nachbarn rechts und links, die sich einen Dreck um das Grün scherten und ihre Hunde draufkacken ließen.
Ewan überlegte angestrengt, was er mit der Hippiebraut angestellt hatte und weshalb seine Socken verschwunden waren.
„Keine Ahnung“, sagte er, obwohl er sich plötzlich daran erinnerte, etwas mit den Socken angestellt zu haben.
„Keine Ahnung? Deine Klamotten sehen aus, als hättest du sie schnell wieder angezogen, nachdem du irgendwas mit dem Hippie getrieben hast, aber irgendwie in der falschen Reihenfolge.“
„Selbst wenn, würde es dich nichts angehen.“
Duckie stellte den Motor ab, riegelte die Tür auf der Fahrerseite auf und sagte: „Wenn du nicht schon ein blaues Auge hättest, würde ich dir jetzt eins draufkloppen, du Arsch.“
Ich hab nichts gemacht, dachte Ewan, ich bin an der ganzen Scheiße nicht schuld. Alle tun so, als müsse ich jetzt plötzlich etwas tun oder etwas nicht tun, als müsse ich Entscheidungen treffen und Konsequenzen ziehen. Vorher haben sie uns alles abgenommen, aber kaum haben sie die Karre in die Scheiße gefahren, soll Ewan sehen, was er draus macht.
Er stieß Duckie hart gegen die Schulter und sagte: „Wenn du nicht so ein stinkendes Stück Scheiße wärst, würde ich dir in den Hintern treten.“
Duckie knallte die Tür ins Schloss. Mrs. Moore erschien an ihrem Fenster im Erdgeschoss, aber sie wollte nur sichergehen, dass sie nicht den Rasen betraten. Über den sehr häufigen Lärm der beiden hatte sie sich noch nie beschwert.
„Raus aus meinem Wagen“, schrie Duckie, Ewan stieg aus, knallte ebenfalls die Tür ins Schloss und brüllte zurück: „Das ist ja nicht mal deiner.“
Er drehte ab, zurück zur Straße, während Duckie zum Haus ging, sich auf den letzten Metern umdrehte und rief: „Krieg dich wieder ein.“
Ewan zeigte ihm den Stinkefinger und war bereits hinter der Hecke des Nachbarn verschwunden. Er lief in Richtung der Geschäftsstraße und in Luftlinie der Fabrik, aber in genauer Gegenrichtung seines Elternhauses. Es war nicht die Frage, wo es ihn in seiner Wut hinzog, sondern was ihn am meisten abstieß.
Duckie wartete drei Atemzüge, ob er zurückkommen würde, ging dann ins Haus. Er hatte vergessen, dass er noch was aus dem Supermarkt hatte mitbringen wollen, sie hatten keinen Kaffee mehr und die letzten beiden Mikrowellengerichte hatten sie vor einer Woche gegessen.
Scheiß drauf, dachte er, wenn ich Hunger hab und der Kühlschrank ist leer, kann ich nach Hause fahren und mich zum Essen einladen. Soll Ewan sehen, wo er was herbekommt.
Er stellte seinen Wecker und kroch ins Bett.

Vic hatte zwar das versprochene Päckchen Gaulloires überreicht, was ihm in seiner Position nicht wehgetan hatte, aber er hatte Ewan gleichzeitig wieder gedrängt, ein paar Dinge für ihn zu erledigen. Er nutzte die Tatsache, dass Ewan abgebrannt war und ständig Geld brauchte. Was war einfacher, als für Vic ein paar Dinge zu erledigen und sich was zu verdienen? Aber Ewan zierte sich noch immer, obwohl es dafür keinen Grund gab.
Ich krieg dich schon noch, dachte Vic, und rief den beiden zum Abschied nach, dass sie sich das nächste Mal aus der oberen Etage fernhalten sollten. Er hatte ab und zu Gäste, die bei ihren Aktivitäten nicht gestört werden wollten. Dann machte er eines der Telefonate.
„Ja“, sagte Vic, „er war wieder hier. Nein, nicht sehr lange. Sie haben ein paar Bier getrunken und sind dann wieder verschwunden.“

Ewan fand sich recht schnell in einem Diner um die Ecke wieder, weil für einen langen Fußmarsch seine Füße zu weh taten, so ohne Socken. Dort erschnorrte er sich einen Kaffee und blieb an der Theke sitzen. Einige Arbeitskollegen seines Vaters tauchten auf, sprachen ihn an und ließen ihn dann wieder in Ruhe. Er rührte unverdrossen in seinem Kaffee, sah kaum auf, wenn ihm wieder jemand die Hand auf die Schulter legte und ihn fragte, wie es ihm ginge. Nur die Bedienung, eine Schulfreundin von Gillian, goss seinen Kaffee nach und sagte, er solle sich nicht so gehen lassen.
„Halt die Ohren steif“, sagte sie nicht unfreundlich, „du bist nicht der Einzige, dem es schlecht geht.“
„Ach ja? Hat dein Boss dir dein Gehalt gekürzt?“
„Ich rede nicht von mir, Schnellmerker. Gillian ruft mich ab und zu an und manchmal fahr ich zu ihr rüber. Wir quatschen stundenlang und bestimmt nicht über den letzten Film, den wir gesehen haben. Sie fragt mich ständig, wie so was passieren kann.“
Ewan wollte darauf nicht antworten, aber vielleicht war er einfach nur wütend darüber, dass ihm jemand sagte, Gillian ginge es ebenso schlecht wie ihm.
Sie hatte allen Grund, dass es ihr schlecht ging, schließlich war es ihre Familie, die die geplante Hochzeit hatte platzen lassen. Desmond hatte ihm erzählt, was passiert war, zu einem denkbar ungünstigen Augenblick, während die beiden Familien gerade mit dem gemeinsamen Essen begonnen hatten und Des und er auf eine schnelle Zigarette vor die Tür gegangen waren. Auf Des konnte er nicht wütend sein, er hatte nur aus Versehen ausgeplaudert, wovon er dachte, Ewan sei eingeweiht gewesen. Ewan arbeitete nachts und schlief kaum, um nicht darüber nachzudenken, ob Gillian es ebenfalls vor ihm gewusst hatte.
„Wir wissen alle, wie das passiert ist. Es war verdammt-nochmal kein Amokläufer, der in den Saal gestürzt ist und der Feier ein Ende bereitet hat. Was glaubt sie, wie ich darauf hätte reagieren sollen?“
„Gillian konnte nichts dafür.“
„Gib mir noch einen Kaffee, dann verschwinde ich.“
„Wieso lässt du sie dafür büßen?“
„Sie meldet sich ja auch nicht bei mir.“
„Wie denn auch? Du rennst vor ihr davon und gehst nicht ans Handy.“
Ewan wischte sich durch das Gesicht, berührte ungewollt das blaue Auge und sah für einen Moment nur Sternchen. Sie goss ihm gnädig noch einen Kaffee nach und er nahm sich so viel Zucker, dass es einen Diabetiker umgehauen hätte. Vielleicht konnte er so den Hunger noch etwas unterdrücken.
Er wünschte sich, es würde alles wieder in Ordnung kommen, aber wie konnte er zu ihr gehen und ihr verzeihen, wenn er noch nicht einmal Kontakt zu seiner Familie hielt deswegen?
Er trieb sich noch stundenlang in der Stadt herum, traf ein paar seiner neuen Bekannten (Freunde waren es sicher nicht und würden es auch nie werden), rauchte unablässig und hockte mit ihnen dort herum, wo man sie immer antreffen konnte. Vor der Spielhalle, auf dem Parkplatz vor dem Schnellimbiss, vor dem Wettbüro. Sie gehörten der Spezies der Draußen-Steher an, weil sie sich aus Überzeugung für nichts interessierten, was andere in ihrer Freizeit taten. Freizeit hatten sie genug, denn reguläre Jobs hatten sie alle nicht. Sie quatschten über Mädchen und Sex, obwohl sie kaum eine abschleppten am Samstagabend. Ein halbes Dutzend Leben angefüllt mit verpassten Gelegenheiten.
Ewan hing mit ihnen herum, weil sie keine Fragen stellten und sich nicht einmal dafür interessierten, wieso er zu ihnen gestoßen war.
Ihr Anführer, John, einen Kopf größer als Ewan und etwas jünger, immer in seiner abgeschabten schwarzen Lederjacke, hockte auf einem Stapel Autoreifen, die anderen Jungs hatten sich um ihn geschart und erweckten zusammen den Eindruck, als seien sie vollkommen hirnlos von einem außerirdischen Raumschiff abgesetzt worden. Ewan sagte „Wie läuft’s, ihr Stinktiere“, und trat in die Runde. John erwiderte grinsend, er habe letzte Nacht einen Hasen klargemacht und habe ihr Jubeln noch immer im Ohr.
Klar, dachte Ewan und grinste zurück, sie hat gejubelt, als du sie für die fünfzehn Minuten bezahlt hast.
Er quatschte und lachte mit den herumhängenden Jungs, sie boxten sich gegen die Bizeps und fluchten über alles, was ihnen gerade in den Sinn kam. Kam eine Streife vorbei, rollte diese langsam kontrollierend an ihnen vorbei, um sie in Augenschein zu nehmen, drehte Ewan sich grundsätzlich zur Straße hin und saß ein weiblicher Cop am Lenkrad, grüßte er mit winkender Handfläche. Die anderen mutmaßten, dass er es darauf anlegte, festgenommen zu werden.
Irgendwann humpelte er zu Duckies Wohnung und legte sich in der Küche schlafen, ohne die Klamotten auszuziehen. Er schlief schlecht und wachte eine Stunde später mit einem unkontrollierten Zucken wieder auf. Sein Herz raste, er blinzelte in die Sonne und stöhnte auf, als die Kopfschmerzen schlagartig wieder einsetzten. Er schielte auf die Küchenuhr, warf sich auf die andere Seite und drückte sich das Kissen auf den Kopf. Er spielte mit dem Gedanken, sich in der Fabrik krankzumelden, aber Duckie hatte ihn davor gewarnt, das zu tun.
„Wer saufen kann, kann auch arbeiten“, hatte er gesagt, einer der Vater Sprüche, die sie beiden gehört hatten, seit sie Bier konsumierten, „und glaub nicht, ich würde für dich lügen oder dich krankmelden.“
Ewan wollte sein Leben wieder in Ordnung bekommen, aber augenblicklich wusste er noch nicht, wo er anfangen sollte und deshalb schob er das noch auf die lange Bank. Noch zwei Stunden, bis sie wieder los mussten. Duckie mochte noch sauer auf ihn sein, aber schon zur nächsten gemeinsamen Pause wären sie wieder ein Herz und eine Seele.

Mit dem Kissen auf dem Kopf, als wolle er die Kopfschmerzen einpacken und verschwinden lassen, schlief er wieder ein, aber es war nur ein leichter Schlaf und er hatte das Gefühl, bei jedem Geräusch auf der Straße wieder aufzuwachen. Als Duckie ihn weckte, brummte er, er brauche noch eine halbe Stunde und Duckie sagte: „Ich hab dich schon eine Stunde länger schlafen lassen. Komm schon, wir kaufen unterwegs einen Kaffee. Wir kommen jetzt schon zu spät.“
Seine Stimmlage bewies, dass er den Streit längst vergessen hatte. Ewan fühlte sich wie ein alter Mann, mindestens zweihundert Jahre alt, als er sich von der Couch erhob, mit allen Fingern durch das Haar fuhr und antwortete: „Okay, lass uns fahren.“

Noch eine Schicht und sie hatten drei freie Tage vor sich. Drei Tage, in denen er sich etwas fangen konnte. Die Schicht brachte er im Halbschlaf hinter sich, trank Kaffee, bis sein Magen rebellierte und als er sich endlich für die Heimfahrt wieder umzog und ein Kollege fragte, was er mit seinen freien Tagen anfangen würde, sagte er: „Keine Ahnung. Vielleicht fahr ich an den See.“

Am See hatten Gillian und er sich kennengelernt. Sie war mit ihren Freunden da gewesen, er mit seinen und sie war zu ihnen ans Feuer gekommen, um nach einem Korkenzieher zu fragen. Sie hatten Wein mitgebracht, Ewans Freunde hatten Dosenbier den Vorzug gegeben und konnten nicht weiterhelfen, aber Ewan hatte einen kleinen Korkenzieher an seinem Taschenmesser und öffnete ihre Weinflaschen. Gillian lud ihn auf ein Glas ein, und nachdem sie sich etwa zwei Stunden unterhalten hatten, tauschten sie ihre Telefonnummern aus. Ewan erinnerte sich an die Worte, die er und Gillian gewechselt hatten, als er ihr Weinproblem gelöst hatte, und er erinnerte sich an ihr Lachen. Ihr Lachen, ihre Augen und ihr Hintern an diesem Abend waren ihm sehr deutlich in Erinnerung. Wie konnte er das jemals vergessen. Und er konnte auch nicht vergessen, wie seltsam es war, dass sie ihre halbe Kindheit gemeinsam in derselben Gegend und in derselben Schule verbracht hatten und sich ständig aus dem Weg gegangen waren.

„Viel Spaß dann“, sagte der Kollege, griff nach seiner Tasche und verschwand und Ewan stand vor seinem Schrank, starrte hinein und überlegte so angestrengt, wie er diese drei Tage überleben sollte, dass es ihn lähmte.
„Hey!“, rief Duckie von der Stahltür, die in den Flur und aus der Fabrik führte, „bist du endlich fertig?“
Er konnte sich losreißen, schlug die Schranktür zu und rief zurück: „Sofort.“
Es war klar, dass er nicht an den See fahren würde, nicht bei diesem Wetter und zu dieser Jahreszeit, aber er dachte an den See und an Gillian und während der Autofahrt sagte er kein einziges Wort.
„Widersprich mir nicht, wenn ich dir jetzt sage, dass du dich endlich mal wieder ausschlafen solltest“, sagte Duckie und bekam keine Widerworte. Ewan brauchte kein Bier und Tabletten, um auf der Couch einzuschlafen und während er knocked-out dalag, bekam Duckie Besuch von Desmond.

Ewans Bruder hatte eine Sporttasche unter dem Arm, einen vorsichtigen Ausdruck auf dem Gesicht, als müsse er sich für sein Dasein entschuldigen.
„Er schläft“, sagte Duckie und machte eine Kopfbewegung in Richtung Küche.
„Ich hab auch sein Handy eingepackt“, sagte Desmond, „wir sind’s leid, ständig die Anrufe für ihn anzunehmen. Mom ist noch immer mit den Nerven runter und sie weiß nicht, dass ich ihm ein paar Klamotten zusammengepackt habe. Wie ich ihn kenne, hat er den Waschsalon noch nicht von innen gesehen, was?“
Duckie nahm die Tasche entgegen.
„Willst du mit ihm reden?“ Er trat einen Schritt zur Seite, machte den Hausflur frei. Desmond hatte einen freien Blick auf die Ecke, in der sich an einer stabilen Garderobe aus Holz und Messing diverse Regenmäntel, Gummistiefel, Wachsjacken, Schals und Arbeitsoveralls angesammelt hatten. Dieses Sammelsurium kam jeden Herbst und Winter zum Einsatz und blieb in Ermangelung von Ordnung auch während des Frühlings und Sommers dort hängen. Ewan und Gillian hatten geplant, im Indian Summer zu heiraten, um die schönste Jahreszeit zu nutzen, daraus war allerdings die Vorweihnachtszeit geworden und daraus dann ein dickes großes Nichts.
„Lass ihn bloß schlafen“, sagte Desmond.
„Komm rein und wir trinken was“, erwiderte Duckie, „wir setzen uns hinten auf die Veranda.“
Desmond zögerte deutlich und Duckie setzte hinzu: „Komm schon. Er wird schon nicht aufwachen.“
Sie setzten sich mit zwei Dosenbier auf die Veranda, prosteten sich zu und leerten die Dosen mit wenigen Zügen.
„Ich hab es längst aufgegeben, ihn zu etwas überreden zu wollen. Wir passen nur noch darauf auf, dass nichts Schlimmeres passiert als das letzte blaue Auge. Hinter seinem Rücken hab ich allen Bescheid gesagt.“
„Ich weiß“, antwortete Desmond ungerührt, „Gillian hat’s mir erzählt. Wenn sie nicht arbeiten müsste, würde sie ihm Tag und Nacht auflauern.“
„Warten wir noch ein paar Tage, ob er sich wieder einkriegt.“
„Mom wird ihn zu Weihnachten zu Hause haben wollen.“
„Und ich will ihn zu Weihnachten aus meiner Bude haben.“
Beide rechneten nicht wirklich damit, dass das sobald geschehen würde – Ewan war ein netter Kerl aber dickköpfig wie ein Esel.
„Am liebsten würde ich ihn sofort nach Hause schleifen.“
Er deutete mit der leeren Dose ins Haus zurück und machte dabei ein Gesicht, als wolle er es direkt in die Tat umsetzen, dann sah er leutselig zu Duckie hinüber und setzte hinzu: „Allerdings würde er mir die Nase brechen, wenn ich es auch nur versuche.“

Er war der gelassene ältere Bruder, verheiratet und wieder geschieden, seine Ex-Frau hatte die beiden Kinder nach der Trennung mitgenommen, allerdings war sie nur bis in den nächsten Nachbarort gekommen und hatte kein Problem damit, die Kinder immer wieder zu ihrer Ex-Schwiegermutter zu bringen.
„Sally hat wieder deine Kinder geparkt“, sagte Mom zu Desmond, wenn er nach Hause kam. Er war Zimmermann, hatte sich die alte Scheune auf dem Grundstück zu einem kleinen gemütlichen Haus ausgebaut und spielte dann mit seinen Kindern, bis Sally sie wieder abholte. Manchmal war sie nur einkaufen, manchmal war sie wegen ihres Jobs unterwegs und manchmal wollte sie die Beiden einfach nur für ein paar Stunden loswerden. Das sprach sie nie aus, aber Desmond wusste es. Er erkannte es an ihrem schuldbewussten Blick, wenn sie sie wieder abholte.
„Wie geht’s deiner Mom?“, fragte Duckie.
„Fährt jeden Tag ans Grab und setzt sich zu ihm. Sie hält ihn auf dem Laufenden, glaube ich. Ich hab ihr gesagt, ich würde wieder ins Haus ziehen, wenn es ihr zu einsam ist, aber das wollte sie nicht. Sie will nicht, dass wir es mitkriegen, wenn sie nachts ihre Fassade fallen lässt.“
„Sie kann gar nicht anders, Des. Seit ich sie kenne, musste sie immer die Familie zusammenhalten und für alle da sein.“ Er grinste. „Und dazu noch für die Hälfte der Nachbarskinder, um die sich im eigenen Zuhause niemand kümmerte.“
Duckie hatte seine halbe Kindheit bei den O’Sheas verbracht und es hätte niemanden in Brewer verwundert, wenn er irgendwann gar nicht mehr nach Hause gegangen wäre. Aber seine Mom hatte ihre Probleme irgendwann in den Griff bekommen (wofür er sie noch immer bewunderte) und sie hatte sogar wieder einen Job bekommen, in einem Schreibbüro auf der anderen Seite des Penobscots in Bangor und hatte wieder Geld nach Hause gebracht.
„Sie hat ein viel zu großes Herz“, murmelte Desmond, „und sie hat sich überhaupt nichts Schlimmes dabei gedacht, als sie das Angebot der Beaumonts angenommen haben.“
Er schlug sich mit beiden Handflächen auf die Oberschenkel und drückte sich hoch.
„Ich muss weiter. Gib Ewan die Tasche. Er weiß ja, wo er uns findet. Danke fürs Bier.“
Duckie warf die Tasche neben die Couch, auf der Ewan schlief, auf den Bauch gedreht und mit einem heruntergerutschten Bein, und obwohl die Tasche mit einem satten Geräusch direkt neben seinem Kopf landete, wachte er nicht auf. Endlich war er so ausgepumpt, dass er mehr als nur ein oder zwei Stunden schlief und Duckie vermutete, dass der ausbleibende Nachschub an Aufputschern ebenfalls Schuld daran war.
„John? Bist du zu Hause?“ Mrs. Moore stand im Flur und rief die Treppe herunter. Sie nannte ihn nie bei seinem Spitznamen aus Kindertagen und in Brewer war sie die einzige Person, die ihn John nannte. Selbst seine Lehrer und der Boss bei Lemforder nannten ihn Duckie.
Wo sollte ich schon sein, wenn die Karre vor der Tür steht, dachte Duckie, öffnete die Haustür und rief nach oben: „Kann ich ihnen helfen, Mrs. M.?“
Sie rief nie, um ihn auf einen Kaffee einzuladen und zu fragen, ob er ein Stück Kuchen probieren wollte. Sie antwortete mit einer angestrengten hohen Stimme: „Ich habe hier ein kleines Problem in der Küche, John.“
Er stieg zu ihr die Treppe hinauf, machte sich nur kurz Gedanken darüber, dass Ewan aufwachen und aus dem Haus verschwinden könnte.
Er wird weiterschlafen, bis ich ihn zum Essen wecke, dachte er.

Ewan wachte mit Rückenschmerzen auf, als draußen ein Auto mit knatterndem Auspuff vorbeifuhr, setzte sich mühsam auf und rieb sich das Gesicht. Duckie hatte Nudeln mit Pastasoße gekocht und es standen bereits zwei Teller bereit.
„Wie lange hab ich geschlafen?“ Sein Blick fiel auf die vollgestopfte Tasche.
„Fühlst du dich gut genug für einen Ausflug?“
„Ich hab keinen Ausflug geplant und ich sag dir was – ich werde auch keinen planen.“
„Ich wollte nur verhindern, dass du dir den Hintern auf der Couch platt liegst.“
„Wir kommen gut zurecht, mein Hintern und ich.“
Sie schaufelten die Nudeln rein, schmeckten kaum, dass sie teils angebrannt und teils matschig gekocht waren. Die Tomatensoße riss das Ganze wieder raus, was auch Duckies Verdienst war. Es war seine starke Seite, eigene Missgeschicke wieder glatt zu bügeln.
Ewan holte Bier aus dem ratternden Kühlschrank, trank seines noch im Stehen und stellte die andere Dose vor Duckie auf den Tisch, zog sie blitzschnell wieder weg, als Duckie danach griff. Duckie sah ihn fragend an, während er ohne hinzusehen die restlichen Nudeln auf dem Teller zusammenkratzte.
„Wer hat die Tasche hergebracht?“, fragte Ewan, hielt die Dose auf Schulterhöhe vor Duckies Nase.
„Welche Tasche?“
„Ich rede von der Tasche, die da neben der Couch steht wie hingebeamt und die ich aus dem Sammelsurium meiner Schwester kenne.“
„Desmond hat ein paar Klamotten für dich vorbeigebracht. Ich wollte dich wecken, aber wenn ich dich jetzt so sehe, war’s wohl richtig, dich weiterschlafen zu lassen.“
„Hat er was gesagt?“
„Was hätte er sagen sollen?“
Statt einer weiteren Gegenfrage schüttelte Ewan die Bierdose und knallte sie auf die Tischplatte zurück.
„Na vielen Dank, du Arschloch.“
Duckie ließ dem Bier keine Zeit, sich in der Dose wieder zu beruhigen, knackte den Verschluss und ließ den zischenden Bierschaum über den Küchentisch laufen. Ewan würde hier schlafen und morgen im Kneipengeruch aufwachen, nicht er.
„Nimm dein Handy und ruf zu Hause an“, sagte er, nachdem Ewan sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, „dann kannst du Des alles fragen, was inzwischen zu Hause passiert ist. Du kannst das nicht ewig von dir wegschieben.“
„Ich schiebe das nicht weg, ich warte nur auf den richtigen Moment.“
„Den hast du längst verpasst.“
Ewan beendete die Diskussion, indem er aufstand und die Küche verließ. Er gönnte der Tasche nicht einen Blick und überließ es Duckie, den Abwasch zu erledigen oder alles so stehen zu lassen, um die Teller für die nächste Mahlzeit zu benutzen. Duckie entschied sich für das Letztere, holte seine Jacke und fuhr mit seinem Wagen davon.
Ewan verbrachte eine kurze nervöse Zeit vor dem Fernseher, schaltete hin und her und fand keine Sendung, die ihn von seinen Gedanken hätte ablenken können. Nach einer Weile gab er es auf, warf die Fernbedienung in die Ecke und setzte sich auf die Treppe vor der Tür. Er hätte abgestritten, auf Duckies Rückkehr zu warten, aber das war genau das, was er tat. Vielleicht würden sie noch eine Runde durch die Gegend fahren und alles Weitere auf sich zukommen lassen. Und dann hatte er doch sein Handy in der Hand, spielte mit den Einstellungen herum und hatte kurz den Gedanken, alle Kurznachrichten und gespeicherten Telefonnummern zu löschen.

Lösche alles und fang von vorne an, dachte er, aber dann, als er schon fast bereit war, sein Handy in das schwarze Loch zu stoßen, entdeckte er ein Handyfoto, was er von sich und Gillian gemacht hatte – eines dieser schrecklichen unscharfen schiefen Fotos, mit denen man nichts weiter anfangen konnte, als sie an ein anderes Handy zu schicken. Sie hatten ein wenig getrunken an diesem Abend, waren dazu an den See gefahren, allerdings hatte sie ein heftiger Regenschauer überrascht und sie vollkommen durchnässt, noch bevor sie sich in das Auto hatten retten können.
„Mein Haare sind ruiniert“, hatte Gillian gesagt, aber in Wirklichkeit hatte sie phantastisch ausgesehen, denn bei Nässe kamen ihre Naturlocken wieder zum Vorschein, die sie jeden Morgen zu Tode föhnte. Seit ein anderes Mädchen in der Vorschule ihre Haare als „Negerhaare“ bezeichnet hatte, hasste sie ihre Lockenpracht. Zunächst hatte sie Zöpfe geflochten, dann ihr Haar kurz abgeschnitten und später, als sie die kurzen Haare satthatte, hatte sie begonnen, langes glattes Haar vorzutäuschen. Sie fand es in Ordnung, es war nichts anderes als Färben oder Extensions, es sei denn, sie kam in den Regen.
Der See, dachte Ewan, warum kann ich nicht die Zeit zurückdrehen bis zu unserer Begegnung am See und alles viel besser machen.

Die drei freien Tage waren wie ein Gebirge vor seinem inneren Auge. Sie hatten auch etwas Gutes, denn sie verhinderten die Sicht auf das sich nähernde Weihnachtsfest. Er hatte es bei allem Chaos und bei aller Geldknappheit niemals versäumt, seiner Familie kleine Geschenke zu machen, selbst in dem Jahr nicht, als sie das College abgebrochen hatten und beinahe noch vor dem Richter gelandet wären, weil sie bei ihrem Auszug aus dem Studentenwohnheim ein paar Dinge hatten mitgehen lassen, die ihnen nicht gehörten. Sie hatten behauptet, in der Hektik des Einpackens sei ihnen ein Fehler unterlaufen und zum Glück waren die anderen Studenten so freundlich gewesen, nicht auszusagen, dass sie zuvor einige der Schränke aufgebrochen hatten, um fremdes Eigentum in die eigenen Kartons zu verfrachten.
Weihnachtsgeschenke gehörten zum Familienfest. Kleine Aufmerksamkeiten, die über Monate liebevoll behandelt wurden und die Ehrenplätze auf dem Kaminsims bekamen, weil sie die Liebe in der Familie symbolisierten.
Desmonds Kinder würden im Haus sein, ob seine Ex der Verführung des guten und reichhaltigen Essens den ganzen Tag lang widerstehen würde, war fraglich. Entfernt lebende Verwandte würden sich einladen und vermutlich würden einige wieder auf der Couch und auf Matratzen übernachten, weil sie am Likör kein Ende gefunden hatten.
Jedes Jahr würde Ewans Mom am Tag danach herumjammern, dass sie nächstes Jahr in ein Hotel verschwinden und den Telefonstecker ziehen würde, um einmal ihre Ruhe zu haben, um einmal nicht stundenlang in der Küche stehen zu müssen, aber diese Drohung machte sie nie wahr.
Und jetzt, wo Dad nicht mehr da war, würde sie es erst recht nicht tun.
Das erste Weihnachten ohne Dad. Das erste Weihnachten ohne Gillian, die unter normalen Umständen bereits seine Frau und vielleicht schon schwanger wäre.
Sie hatte unter Lachanfällen damit gedroht, sofort nach der Hochzeit die Pille abzusetzen und alles dafür zu tun (und ihn dazu zu bringen), augenblicklich schwanger zu werden. Weshalb? Weil sie Kinder liebte? Nein, sie wollte aus ihrem beschissenen Job raus und gleichzeitig dafür sorgen, dass Ewan in der Fabrik einen besseren Arbeitsvertrag bekam. Verheiratet und Vater hieß Aufstieg.

Mit dem Handyfoto vor Augen, das er sich direkt vor die Nase hielt, obwohl er wusste, dass es dadurch nicht schärfer wurde, sondern verpixelte, überlegte er, ob er in der Lage war, das Weihnachtsfest in der Familie O’Shea zu retten.
Er dachte an seine Mutter und an seine Geschwister, als er endlich Gillians Kurzwahlnummer drückte. Es klingelte ein einziges Mal und ihre Stimme war an seinem Ohr.
„Ewan, es tut mir so leid, wirklich, es tut mir so leid …“, sagte sie, ließ ihm nicht einmal Zeit, sich zu melden. Die Frage, woher sie wusste, dass er das Handy zurückhatte, tauchte in seinem Kopf nicht auf.
„Hast du davon gewusst?“, fragte er. Er hatte das Gespräch anders beginnen wollen, mit ein wenig mehr Geplänkel und vorsichtiges Herantasten, aber diese drängende Frage, die ihn seit Wochen beschäftigte, platzte aus ihm heraus.
Gillians Antwort kam sofort, etwas atemlos und ohne eine Spur falscher Entschuldigung.
„Mein Dad hat es mir erst hinterher gesagt. Glaubst du nicht, ich hätte es ihm ausgeredet, wenn ich davon gewusst hätte? Ich kenne dich und deine Familie lange genug, du Idiot. Können wir uns sehen? Ich will das nicht am Telefon mit dir besprechen.“
„Ich komm vorbei“, sagte Ewan und dachte sofort: Oh nein, das wirst du nicht tun.
„Ich bin zu Hause.“
Er drückte das Gespräch weg und warf das Handy auf den Rasen. Sollte der Gärtner ruhig mit dem Rasenmäher drüberfahren. Dann fiel ihm ein, dass der im Winter nicht kommen würde, stand auf und sammelte es wieder ein.

Obwohl Duckie fragte, ob sie eine Runde durch die Gemeinde drehen sollten, blieben sie zu Hause und leerten den Kühlschrank. Als das Dosenbier aus war, fuhr Duckie los, um Nachschub zu besorgen, kam aber nach zwei Stunden noch immer nicht zurück und Ewan argwöhnte, er könne bei Vic eingefallen oder wegen Trunkenheit am Steuer eingebuchtet worden sein.
Ihm geisterte noch immer Weihnachten durch den Kopf und sein spontanes Gespräch mit Gillian. Sie wartete sicher auf ihn. Er hatte sein Handy auf der Veranda liegen gelassen, als er zum Pinkeln in den Hinterhof gegangen war und war auch nicht nachsehen gegangen, ob sie versucht hatte, ihn zu erreichen.
Ich hab gesagt, ich komme vorbei, dachte er, aber nicht, wann.

Dabei traf Gillian überhaupt keine Schuld. Es waren ihre Eltern gewesen, die sich Sorgen um das Ansehen ihrer Tochter und ihrer Familie gemacht hatten. Die O’Shea’s waren kein white trash, aber sie waren weit davon entfernt, im Country Club einen Tisch neben den Beaumonts zu bekommen. Und weil so eine Hochzeit ein Aushängeschild war, eine öffentliche Zur-Schau-Stellung, als hätte sich seit der Zeit, als man Jungs und Mädchen verheiratete, um Königreiche zu vergrößern oder vor dem Untergang zu retten (oder um weitere Inzucht zu verhindern), nichts geändert, machten Daddy Beaumont und Daddy O’Shea einen Deal.
Obwohl es ganz klar war, dass die Kosten der Hochzeitsfeier und alles Drum und Dran von der Familie des Bräutigams getragen wurden, oder man einigte sich gütlich darauf, die Kosten gerecht aufzuteilen, versprach Daddy O’Shea, nichts davon zu erzählen und Daddy Beaumont würde die gesamten Kosten tragen.
Er würde ein besseres Hotel aussuchen, um die anreisenden Gäste unterzubringen, er würde ein besseres Restaurant aussuchen, das bessere Essen bestellen. Es gäbe mehr zu trinken an dem Tag, schönere Geschenke, ganz zu schweigen von dem Hochzeitskleid und Anzug für Ewan.
Hatte Ewan bislang immer geglaubt, keinen ausgeprägten Sinn für Stolz und Selbstachtung zu besitzen, kam genau das explosionsartig zum Vorschein, als er während der Vorbereitungen im angemieteten Hotelsaal von seinem Bruder davon hörte. Daddy O’Shea hatte vergessen, sich an die Silentium-Klausel zu halten, bevor er so vollkommen überraschend mit einem Herzanfall in der Küche umgefallen war.
Es wäre das Gleiche gewesen, hätten sie einen bedruckten Banner an die Kronleuchter des Saals gehängt, auf dem in roten Buchstaben zu lesen war:
Die O’Sheas sind so verflucht arm, dass sie sich nicht einmal die Ausrichtung einer Hochzeit leisten können.
Und etwas kleiner, damit es noch auf den Banner passte:
Hätten die O’Sheas es bezahlt, säßen wir jetzt alle bei einem Burger im Diner die Straße runter und meine Tochter würde im fünfzig Jahre alten Brautkleid ihrer Schwiegermutter heiraten.
Daddy Beaumont hatte es nur nett gemeint, ganz klar, trotzdem hatte es einige Männer gebraucht, um zu verhindern, dass Ewan seinem zukünftigen Schwiegervater die Nase nach innen schlug.
Weihnachten?, dachte er, wenn ich Gillian zu uns einlade, kann ich mich zu später Stunde bei ihr entschuldigen, ohne, dass es zu peinlich wird. Aber ich kann sie jetzt nicht anrufen, um sie einzuladen. Sie würde sofort fragen, wo ich stecke und weshalb ich sage, ich komme vorbei und dann nicht auftauche.

Aus welchen Gründen auch immer, dachte er plötzlich an Gillians Haus und an ihren Arbeitsplatz. Sie fuhr jeden Morgen die kurze Strecke mit dem Kleinwagen, den sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, und kam dabei an der alten Kleiderfabrik vorbei, die vor fünf Jahren zugemacht hatte. Seitdem stand das Gebäude leer und verfiel langsam. Vor dem Gebäude, auf der überwucherten freien Fläche, stand eine riesige Plakatwand, die ab und zu mit neuen Werbeplakaten beklebt wurde, die von den Kids unverzüglich mit Graffitis und hingeschmierten Namenskürzeln verschönert wurden.
Das brachte ihn auf eine Idee. Hirnrissig, aber eine wahnsinnig gute Idee.

3. Diese wahnsinnig gute Idee
Farbe und Roller besorgte er bei den Eckenstehern, die immer alles organisieren konnten, die sich nur darüber wunderten, was er damit anfangen wollte.
„Bist du unter die Sprayer gegangen?“, fragte John. Sie luden die Farbeimer, weiß und knallrot, aus dem Transporter und warfen die Rollen daneben, von denen John behauptete, sie sähen aus wie übergroße Tampons.
Ewan wollte ihm nicht erklären, was er vorhatte, er wollte, dass John so schnell wie möglich wieder verschwand, damit er endlich anfangen konnte. John nahm es nicht persönlich, stieg in seinen Wagen und fuhr zu seinen Jungs zurück, mit denen er vorgab, so viel Spaß zu haben, wie es gerade zu ertragen war.
Verlierer, dachte Ewan. Er stellte sich vor die Plakatwand, starrte nach oben und versuchte sich das Ergebnis vorzustellen. Es musste einfach genial werden, sofort ins Auge stechen und Gillian dazu bringen, ihm alles zu verzeihen, was er verbockt hatte.
Vielleicht konnte auch sein Dad es von da oben sehen und ihm ein „gut gemacht, mein Junge“ schicken. Das war so ziemlich das Einzige, was Ewan von Daddy O’Shea gehört hatte; es war entweder ehrlich gemeint gewesen oder mit der besonderen Betonung auf „gut“ konnte es auch schon mal das Gegenteil bedeutet haben. Ewan vermisste ihn. Selbst, wenn er alles wieder hinbiegen konnte, würde Weihnachten nicht mehr so sein wie früher.
Er begann mit der Arbeit. Vorbeifahrenden Pendlern, die ihr Auto neben ihm anhielten und durch das runtergekurbelte Fenster fragten, was er da anstelle, sagte er, er habe die Werbefläche gemietet für eine private Nachricht. Einer der Autofahrer rief: „Schon mal was von SMS gehört, du Hirnie?“ und Ewan warf ihm eine der tropfenden Farbrollen hinterher.
Den unteren Teil der Nachricht, die er sich auf einem Stück Papier skizziert hatte, rollte und pinselte er schnell an die Wand, allerdings bekam er Schwierigkeiten beim oberen Teil. Er hatte keine Leiter. Die Rollen ließen sich nur für ein kurzes Stück auf den Stangen verlängern und brachten ihn nicht bis nach oben.
Deshalb kam er auf die Idee, an den Stahlstangen, die die Plakatwand verankerten und aufrecht hielten, nach oben zu klettern und von dort weiterzupinseln. Es dauerte Stunden, bis er es geschafft hatte, mit einem Seil den Farbeimer nach oben zu ziehen und auf der hölzernen Querstange, die breit genug war, um einen festen Halt zu finden, und dann noch die fehlenden Buchstaben in der passenden Größe und auf dem Kopf stehend auf die Wand zu bringen.
Eine Leiter wäre einfacher gewesen, dachte er, rollte das schräge Wort auf der rechten Seite der Wand nach und beugte sich dabei gefährlich nach unten. Die Querstange drückte in die Unterseite seiner Oberschenkel, sein Hintern reichte weit ins Leere auf der abgewandten Seite der Werbewand, damit er das Gleichgewicht halten konnte. Seine Hosenbeine und Schuhe waren mit roter und weißer Farbe beschmiert.
Weil es zu schneien begonnen hatte und ihm die nassen Flocken in die Augen gekommen waren, hatte er die rot-weiße Weihnachtsmann-Mütze aufgesetzt und tief ins Gesicht gezogen. Der weiße Bommel am Ende der Mütze, der ihm ständig im Gesicht hing, roch fischig. Er war zu konzentriert bei der Sache, um sich daran zu stören.
Er betonte noch ein paar Buchstaben, begradigte krumme Linien, und wollte sich gerade an die letzten drei Worte machen, als er das blaue Licht auf dem Autodach sah.
So eine Scheiße, dachte er, schob sich den pendelnden Bommel aus dem Gesicht und beobachtete, wie ein Polizist aus dem Wagen stieg und zu ihm hinaufstarrte. Er kannte den Mann vom Sehen, aber ihm fiel der Name nicht ein.
Als er sich wieder den Mützenrand aus dem Gesicht schob, verlor er den farbbeschmierten Griff der Rolle aus den Fingern und sie fiel mit einem nassen Platschen auf den Boden.
„Was wird das da oben?“, rief der Cop und Ewan antwortete, dass er nur noch die wichtigen drei Worte pinseln müsse, dann wäre er fertig und würde herunterkommen.
„Junge, du kommst da sofort runter.“
„Ich bin noch nicht fertig. Das Wichtigste fehlt noch.“
Er beugte sich etwas nach vorn, um die leere Stelle auf der Plakatwand anzuzeigen, wo diese wichtigen drei Worte hinsollten, verlor das Gleichgewicht und musste mit beiden Händen an die Querstange greifen, um nicht abzustürzen.
„Fall mir da nicht runter!“, rief der Cop und drehte sich zu seinem Kollegen in dem Wagen herum. Ewan konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Körperhaltung sagte sehr deutlich, dass er angenervt war.
Hätte Ewan die Rolle nicht fallen gelassen, hätte er die drei Worte noch schnell ergänzen können, während der Cop mit seinem Kollegen sprach; aber so wartete er auf die passende Gelegenheit, den Cop zu bitten, ihm die Rolle wieder raufzuwerfen.
Er wartete erst einmal ab.

Ewan hockte nach einer Stunde auf der Werbewand, dann eine zweite und noch immer weigerte er sich, herunterzukommen. Inzwischen war ein dritter Cop eingetroffen, und auch ein paar Schaulustige hatten sich dazu gesellt. Langsam wurde es dunkel, kalt war es schon seit Stunden und Ewans Hände und Füße waren bereits eingefroren.
Im Licht eines vorbeifahrenden Wagens entdeckte er Duckie, aber bevor er zu ihm hinüberrufen konnte, dass er verdammt noch mal die Farbrolle brauchte, drehte der ab und verschwand.
„Prima, du Affe“, rief er ihm hinterher, kippte gefährlich hintenüber und fing sich wieder.
„Komm endlich da runter, Ewan!“, rief Gary. Er war bereits so angesäuert, dass er Ewan am liebsten von der Wand geschossen hätte, aber er redete sich ein, dass er es nicht tat, weil er den alten Daddy O’Shea gut gekannt hatte. Mittlerweile hatte er kein Verständnis mehr für diese Aktion da oben.
Duckie war der Einzige, der ein wenig Verstand bewies und bei den Beaumonts vorbeifuhr.

Als Gillian auftauchte, nur halb angezogen unter ihrem Wintermantel, blieb sie neben Duckie stehen und schien bereit zu sein, so schnell wie möglich umzudrehen und zu flüchten, weil sie unsicher war, ob er sie überhaupt sehen wollte. Schließlich hatte sie auf ihn gewartet und er war nicht aufgetaucht.
„Gillian?“, rief er von der Wand herunter, „was machst du denn hier?“
Er klang, als habe er etwas getrunken, vielleicht war ihm aber auch nur teuflisch kalt da oben.
„Was treibt er da, Duckie?“, flüsterte Gillian und bemerkte jetzt erst die Schrift auf der Wand. Sie drückte sich durch die Schaulustigen nach vorn.
„Lies das nicht“, rief Ewan, „ich bin noch nicht fertig damit. Keiner von diesen Arschlöchern will mir die Rolle wieder hochschmeißen und mittlerweile ist mir mein Hintern eingefroren.“
Wie soll ich es nicht lesen, wenn die Worte fast einen Meter hoch sind? dachte Gillian. Was er da in mühevoller Arbeit gepinselt (oder gerollt) hatte, war sehr süß und es trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. Sie musste sich sehr darauf konzentrieren, weiterhin wütend und enttäuscht zu sein.
GILLIAN, MÖCHTEST DU BITTE VERZEIHE EWAN IC
X-MAS MIT MIR VERBRINGEN? MIR MEINE BLÖDHEIT.

Gillian erahnte, wie die letzte Worte nach seinem Namen aussehen sollten und dass er sie so dringend schreiben wollte.
„Ich hab’s gelesen, Ewan“, rief sie, „natürlich verbringe ich Weihnachten mit dir. Komm bitte da runter, Okay?“
Ewan nickte, wischte sich mit dem Ärmel unter die laufende Nase und die herumstehenden Cops seufzten vor Erleichterung.
„Du hast es geschafft!“, rief Duckie zu ihm hinauf und zur Antwort machte Ewan den touchdown!, riss beide Hände zur Siegerpose nach oben, hatte aber vergessen, dass er schwankend auf der Werbewand saß. Er verlor das Gleichgewicht, schwankte und hätte sich halten können, wenn er nicht steif gefroren gewesen wäre.
Er machte ein überraschtes Geräusch, das sich wie ein „Oops“ anhörte und verschwand rückwärts hinter der Wand, seine Schuhsohlen flippten hoch und außer Sicht. Auf der anderen Seite schlug er auf Gras und Schnee auf.

4. Die Weihnachtsfeier
Die Weihnachtsfeiertage bei den O’Shea’s standen immer schon unter dem Chaoten-Stern und dieses Mal war es nicht anders.
Mom O’Shea hatte den ganzen Vortag in der Küche gestanden und mit der Hilfe von Töchter und Schwestern das Menü gezaubert, das alle als „das Beste überhaupt“ bezeichnen würden, was sie allerdings jedes Jahr behaupteten.
Nur ein einziges Mal hatten sie versucht, Mutter ein ruhiges Weihnachtsfest zu bereiten, hatten die Küche abgeschlossen und einen Tisch in einem Restaurant reserviert, und obwohl das Essen teuer und hervorragend gewesen war, hatte Mom sich die Bemerkung nicht verkneifen können, dass sie es mindestens genauso gut hinbekommen hätte. Wenn man sie gelassen hätte.
Die Kinder freuten sich auf ihre Geschenke und konnten kaum den nächsten Morgen erwarten, die angereisten Verwandten brachten nicht nur Geschenke und selbst gemachten Kuchen mit, sondern auch Hunde, die sich rauften und über die man ständig fiel.
Daddy O’Shea’s alter Collie, der den Verlust seines Herrn mit einem traurigen Gleichmut ertrug und den ganzen Tag in seinem Lieblingssessel schlief, brachte es fertig, sich zum Fest aufzuraffen und eines der Geschenkpakete anzuknabbern, das er unter dem Weihnachtsbaum gefunden hatte.
Das gemeinsame Essen begann mit einem Gongschlag, für den Jahre zuvor Ewan zuständig gewesen war. Diesmal übernahm ihn Duckie, der in seinem neuen Anzug wie ein verzweifelter Banker vor dem Fenstersprung aussah. Nach dem Gong nahmen Familie und Freunde an dem großen Tisch Platz, Schüsseln und Platten wurden herumgereicht, aus der Küche wurde Nachschub geholt. Die Hunde lagen unter dem Tisch, wichen den Füßen aus und warteten gespannt darauf, dass etwas aus Versehen herunterfiel.
Der angeheiratete italienische Teil der Familie hatte Rotwein mitgebracht, der seine begeisterten Liebhaber fand, aber die Stimmung wurde erst außergewöhnlich, als der irische Whiskey auf den Tisch kam.
Zum Nachtisch begann Daddy O’Shea’s Bruder mit einer Gedenkrede, die allen das Wasser in die Augen trieb und sie spontan „Danny Boy“ anstimmten.
Gillian und Ewan saßen eng beieinander am unteren Ende des Tisches und nur Gillian hatte einen Teller vor sich stehen. Mit seinen beiden gebrochenen Armen und der starren Halskrause konnte Ewan weder Messer noch Gabel halten und ließ sich von Gillian füttern. Am Anfang war es ihm peinlich gewesen, aber nachdem niemand in der Familie mehr Witze darüber riss, genoss er es. Sie hatten ihn aus dem Krankenhaus entlassen, nachdem sie eine üble Stauchung aber keinen Bruch der Wirbelsäule festgestellt und seine gebrochenen Arme eingegipst hatten und Gillian war als spontane Krankenschwester bei den O’Shea’s eingezogen. Ihre Eltern waren nicht begeistert gewesen, aber sie hatten nichts dagegen unternommen. Ihr Vater war noch immer pikiert darüber, was sein freundlich gemeinter Vorschlag angerichtet hatte.
„Wenn doch nur dein Dad noch hier wäre, um das zu erleben“, sagte Mom O’Shea, als sie für einen letzten Kaffee in der Küche zusammensaßen. Ewan hockte auf einem der alten Küchenstühle, beide Arme vor der Brust angewinkelt im weißen Gips, auf dem sich bereits alle mit Markern und Kugelschreibern verewigt hatten, selbst die Cops, sah von einer immobilen Hand zur nächsten und sagte: „Ich glaube, es ist besser, dass er das nicht miterlebt hat.“
 
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Kommentare  

Einfach süß und anrührend, so wie deine Protas meist in deinen Stories herüber kommen. Eine tolle - und wie Dieter schon geschrieben hat - ungewöhnliche Weihnachtgeschichte.

Petra (27.12.2011)

Ich musste schniefen. Kommt sehr überzeugend rüber. Romantische Weihnachtgeschichte ohne schnulzig zu sein.

Else08 (19.12.2011)

Eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte. Originell und ergreifend zugleich. Exzellenter Schreibstil und sehr authentisch. Hat mir Freude gemacht diese amüsante Story zu lesen.

Dieter Halle (13.12.2011)

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