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11 Seiten

Ahrok 2.Band - 10. Kapitel

Romane/Serien · Fantastisches · Fan-Fiction/Rollenspiele
© Jingizu
Zehntes Kapitel: Weißklippe

Erst als sein Kopf durch das Rumpeln des Wagens hin und her geschaukelt wurde und dadurch innige Bekanntschaft mit dem Holz des Wagens machte, erwachte Ahrok. Sie hatten bis zum Morgengrauen hin gelacht, getrunken und laut gefeiert. Es war der letzte, ruhige Abend für sie alle gewesen, also hatten sie die letzten Wein und Bierreserven vernichtet und sich gegenseitig die abenteuerlichsten Geschichten erzählt. Hatten gelacht, gesungen und getrunken. Es war ein so wunderbarer Abend gewesen. Zum ersten Mal seit über einer Woche waren sie wieder unter Leuten gekommen und all der Frust der Reise war von ihnen im Nu abgefallen.
Eine ungewöhnlich warme Nachmittagssonne streichelte seine Wangen. Entspannt lehnte er sich zurück und gedachte des gestrigen Abends. Nur zu gut erinnerte er sich noch, wie nahezu alle Anwesenden, aber insbesondere der blöde Elf, sich über ihre Verwundungen durch das Reiten halbtot gelacht hatten. Der rosahaarige Mistbock hatte jede Stunde aufs Neue davon angefangen, bis er ihnen dann weit nach Mitternacht einen Pflanzenbrei aus frisch gepflücktem Spitzwegerich zusammengerührt hatte, der die Heilung ihrer blutigen Schenkel begünstigen sollte. Warum er sich den Brei jedoch vor versammelter Mannschaft auf den Hintern geschmiert hatte, konnte er jetzt nicht mehr beantworten.
Später dann hatten er und Ragnar ihre zwei Gäule an ein paar der Söldner verkauft. Wenn er doch nur noch wüsste an wen… Ahrok war sich ziemlich sicher, noch kein müdes Kupferstück für die beiden Mistviecher erhalten zu haben. Das Dunkel seiner Erinnerung begründete sich wie so oft auf seinen unvernünftig überzogenen Bierkonsum am gestrigen Abend. Er hätte es besser wissen müssen.
Als er seine Gedanken endlich geordnet hatte, wurde er der Tatsache gewahr, dass er abgesehen vom Fahrer der Einzige war, der nicht mehr schlief.
Ihr ganzer Wagenzug holperte gemächlich eine steinige Straße entlang, die von einer Handvoll hoher Apfelbäume gesäumt wurde. Er konnte von seiner Position aus hören, dass die vordersten Wagen von fröhlichem Gesang begleitet wurden, welcher jedoch nur noch leise und vereinzelt bis zu ihm drang. Stolze Bannerträger galoppierten dort voller Elan neben herausgeputzten Wagen entlang und die ehrfurchtgebietenden Ritter in ihren silbrigen Rüstungen trabten majestätisch vorweg.
Ab dem dritten Wagen nahm dieser zur Schau gestellte Enthusiasmus merklich ab. Die Kutscher wirkten schlaff und übermüdet, alle Mitreisenden schliefen oder dösten friedlich auf der Ladefläche und kein Ritter oder Bannerträger begleitete sie.
Vor allem weil er nichts Besseres zu tun hatte, besah sich Ahrok erneut seine Gefährten. Ragnar schlief irgendwo unter dem gewaltigen Troll namens Ark´Torr und nur die Spitzen seiner hin und wieder zuckenden Stiefel zeugten davon, dass sie ihn nicht beim Aufbruch zurückgelassen hatten. Auffallend war, dass sich Vater Pride seinen Schlafplatz besonders weit von ihm entfernt gesucht hatte. Nachdem Ahrok gestern mehrmals erfolglos versucht hatte, mit ihm ein paar religiöse Diskussionen über die beschissenen Götter aber auch seine Schuld an dem Tod der Bauern zu führen, war ihm der Priester dann beharrlich aus dem Weg gegangen. Der sollte sich nur nicht so viel auf seine enge Verbindung zum Namenlosen einbilden.
Schließlich er hatte sich doch nur mit dem abgegeben, weil er einer der wenigen Menschen auf dieser Reise war, die überhaupt mit ihm sprachen. Alle anderen waren viel zu distinguiert, um sich in der Gesellschaft eines simplen Bauernsohns aufzuhalten, selbst wenn dieser gar kein Bauernsohn und mit einer schnuckeligen Komtess verlobt war.
Normalerweise hätte er jetzt Ragnar geweckt, um mit ihm zusammen noch die irgendwo verstauten Reste vom gestrigen Braten zu suchen, aber dieser schlief wie gesagt mit einem Troll als Bettdecke und Ahrok hatte kein Interesse daran, einen übellaunigen Troll für den Rest des Tages am Hals zu haben. Also lehnte er sich resigniert und hungrig an die Rückwand des Wagens und blickte stattdessen hinaus in die Umgebung.
Nur wenige Meilen vor Ihnen zogen bereits die Umrisse einer gewaltigen Stadt herauf, welche Märkteburg überhaupt nicht ähnlich sahen. Die üblichen Heerscharen von Tunichtguten, Aussätzigen und Reisenden verschandelten auch hier seinen Blick auf die Landschaft vor der Stadtmauer.
Dreckige Kinder in zerschlissenen Kleidern rannten neben den Reitern her und lachten vergnügt. Mindestens ebenso viele Bettler wie Kinder humpelten neben ihren Wagen her und streckten ihre zittrigen Hände nach einer milden Gabe aus oder versuchten etwas in den Taschen der fest schlafenden Reisenden zu ergattern. Ganze Familien hausten auf dem freiem Feld. Viele von ihnen lebten davon, allerlei nutzlosen Tand an Vorbeireisende zu verkaufen.
Unter ihnen machte eine ganze Sippe Gaukler vor den Toren Weißklippes halt und unterhielt mit Kunststücken und Magie schaulustige Passanten.
Ahrok war sich mittlerweile sicher, dass es sich bei der Stadt um die hochaufragende Festung auf diesen Klippen vor ihm nur um ihr vorläufiges Reiseziel handeln konnte, also wandte er sich wieder den Gauklern zu. Ein fröhliches, dunkelhäutiges Mädchen balancierte gerade auf einem dünnen Seil, welches zwischen zwei Bäumen gespannt war. Voller Staunen hing er an ihrer halsbrecherischen Vorführung, bis sein Wagen unverhofft anhielt.
Der vorderste Wagen ihres Trosses hatte das Stadttor erreicht.
„Halt.“ Glaubte Ahrok zu hören. „Weißklippe ist Kriegsgebiet. Einlass nur mit Genehmigung.“
Er erhob sich, konnte von seiner Position aus dennoch nur wenig von der Stadt erkennen. Die enorme Stadtmauer erstreckte sich in beide Richtungen mehrere hundert Schritt weit und hinter dem fast sechs Schritt hohen Steinwall lugte neben ausgeblichenen Dachziegeln und Kaminsimsen nur diese schmucklose, steinalte Feste hervor, die hoch oben auf den höchsten Klippen thronte.
Vor der Stadtmauer türmten sich, anders als in Märkteburg die Berge von Müll, welche praktischerweise von den Einwohnern einfach hinüber geworfen worden waren. Viele der Kinder hier draußen spielten in diesen Müllhaufen oder suchten darin nach Essbarem. Gerade schwenkte ein dünner Junge fröhlich einen zerschlissenen Schuh in der Luft. Sofort stürzte sich eine ganze Horde Kinder auf ihn, um ihm diesen Schatz streitig zu machen.
Ahrok sank zurück auf seinen Platz. Alles war fremd hier, selbst der Geruch der Stadt war ein anderer. Natürlich gab es auch hier den Gestank verrotteter Lebensmittel sowie der verwesender Tiere am Straßenrand und es mischte sich mit dem ebenfalls vertrauten Duft ausgeschütteter Nachttöpfen, welche einfach aus dem Fenster auf die Straße hinaus entleert wurden, aber da war noch etwas Anderes, Frischeres, Salzigeres.
Das Gespräch mit den Torwächtern näherte sich dem Ende. Alle Wachleute verbeugten sich tief und machten den Weg frei für Ahroks Expedition.
„Willkommen, die Herren.“, hieß es. „Bitte folgen Sie dieser Straße hinab bis zum Schrein des Namenlosen, dort wird man Ihnen weiterhelfen können.“
Einer nach dem Anderen ruckten die Wagen an und holperten wieder vorwärts.
Schwärme von Schaulustigen und Bettlern, welche die Karawane nun schon seit Minuten begleiteten, drängten ebenfalls in die Stadt und wurden sogleich rüde von den Stadtwächtern zurückgestoßen.
„Verschwindet ihr Gesindel! Kein Zutritt ohne Genehmigung!“, brüllten die Wachleute.
Ahrok war den ruppigen Soldaten heute ausnahmsweise einmal dankbar. Der schiefe Gesang und die ewige Bettelei zehrte an seinen Nerven.
Endlich passierte auch sein Wagen das Stadtor und es überraschte ihn, als er feststellte, dass Weißklippes Straßen weit sauberer waren, als es der Schmutz und Gestank vor der Stadt vermuten ließen. Die Innenstadt mit ihren gepflasterten Straßen und den kleinen Durchgänge erinnerte ihn nun doch wieder unweigerlich an Märkteburg. Abgesehen davon, dass hier weit weniger zwergische Einflüsse vorhanden waren. Weißklippes Häuser bestanden nur selten aus Stein. Zumeist durchbrachen schwere Holzbalken die Mauern, es wurde viel mit Lehm gearbeitet und die Dächern waren fast ausschließlich mit Schilf gedeckt. Alles hier wirkte auch etwas größer, dichter, enger als in Märkteburg.
Neben der breiten Hauptstraße zogen sich verwinkelte, enge Gassen links und rechts wie kleine Schluchten durch die Häusermassen. Eine feste Architektur war nicht zu erkennen. Es ging mal auf mal ab, ein altes verwittertes Gemäuer grenzte an Neubauten und überall liefen Katzen herum.
Jetzt endlich konnte Ahrok den für Weißklippe typischen Geruch einordnen – es stank nach Salz und Fisch. Mit einem Mal war ihm unverständlich, wie sich eine ganze Stadt erbauen ließ, wenn andauernd solch widerliche Fischgerüche durch die Straßen krochen. Entweder waren die Einwohner hier alle recht abartig oder… ihm fiel einfach keine Alternative ein.
Passanten und Leute hinter den Fenstern beobachteten sie ebenso neugierig wie er seine Umgebung.
Schnell war klar, dass Weißklippe bei Weitem nicht die Ausmaße eines Märkteburgs besaß. Nach nur einer halben Meile erreichten sie einen großen Platz, auf dem mehrere hundert Männer in voller Rüstung und schweren Waffen in den Händen eine Parade zu veranstalten. Vor den Soldaten stand ein groß gewachsener Mann und dieser brüllte sie ständig an.
„Stillgestanden! Liiiiiinks um! Marsch!“
Hier hielten die Wagen.
Links von ihnen erstreckte sich die unverkennbare Architektur eines Tempels des Namenlosen. Eine dreißig Fuß hohe Statue vor den weit geöffneten Eingangstoren zeigte den Schutzpatron der Menschen in aller Herrlichkeit.
Der Namenlose war wie üblich als älterer Mann dargestellt. Ein dichter Vollbart umrahmte seine grimmigen Züge. Muskelbepackten Arme waren nach oben gerichtet und in der linken Hand hielt er ein grobschlächtiges Breitschwert. Sein mit Fellen behangener Oberkörper zeigte jede einzelne Muskelpartie und Ahrok kam nicht umhin, das Abbild des Gottes neidisch zu betrachten und die Darstellung insgeheim mit seinen eigenen Muskeln zu vergleichen.
„Ihr zwei da hinten. Steigt von dem Wagen runter.“
Ahrok blickte sich nach dem Sprecher um.
Es war einer der Ritter. Jener winkte ihn ungeduldig heran.
„Ja, du. Dich meine ich. Glotz nicht so dämlich aus der Wäsche und komm endlich her.“
Just in diesem Moment wälzte Ragnar den Troll von sich.
„Weißt du wo…?“, gähnte er ausgiebig.
„Deine Axt liegt weiter hinten.“ Ahrok deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung der Waffe. „Beeil dich. Die anderen Grafen rufen nach uns.“
„Warum? Gibt´s Frühstück?“
Ahrok antwortete nicht. Er sprang stattdessen mit dem Rucksack in der Hand vom Wagen und sofort schoss der Schmerz in seine Glieder. Um seine mit verkrustetem Pflanzenbrei bestrichenen Schenkel wieder zu schonen, marschierte er breitbeinig auf die Ritter des ersten Wagens zu.
„Was gibt es denn?“
Der Mann verwies ihn auf den vordersten Wagen.
„Ihr zwei steigt jetzt dort mit auf, denn hier trennt sich unser Weg von dem der anderen. Während die Söldner hier schon am Ziel sind, werden wir bis zum Hafen weiter reisen. Also beeilt euch gefälligst, nicht dass wir euretwegen unnötig Zeit verlieren.“
Ahrok ertrug nur schwer, wie herablassend der Kerl mit ihm redete, aber es war dieses Mal wohl angebracht, einfach darüber hinweg zu sehen. Für Onkel Herbert und Ariane. Denn wenn er, wie seit Neustem geplant, wieder zu ihnen zurückkehren wollte und sie auch Stolz auf ihn sein sollten, dann musste er sich wahrlich gräflich benehmen. Also nickte er dem Ritter mit einem sauren Lächeln zu und folgte seinen Anweisungen.
Zwanzig umständliche Schritte trugen ihn zum besagten Wagen. Nur ein paar Armlängen hinter ihm schnaufte ein lustloser Zwerg, der seine Axt ungewohnt achtlos bei jedem Schritt über die Pflastersteine schrammen ließ. Ahrok beachtete ihn gar nicht, denn er staunte nicht schlecht, als die Plane des Wagens beiseite stieß und das Innere des überdachten Gefährts erblickte.
Gelächter und Gespräche verstummten, als er seinen Kopf in des Innere schob.
Der schlichte Holzboden war hier derart aufwendig mit Teppichen und Kissen belegt, dass man ihn nicht einmal mehr erahnen konnte. Eine ihn herablassend musternde Dienerschaft saß zufrieden wie fette Katzen zu Füßen ihrer jeweiligen Herren und schenkte großzügig nach, wenn wieder einmal jemand seinen mit Edelsteinen versehenen, goldenen Weinkelch gelehrt hatte.
Ein undefinierbar stechender Duft umgab ihn, seit er den kleinen Vorhang beiseite geschoben hatte, welcher diese Welt von der Wirklichkeit trennte. Ahrok machte unter all den Gerüchen den Duft von Rosenöl aus. Er lächelte, als die Erinnerung aufkam, wie Ariane ihm ein halbvolles Fläschchen mit diesem Öl nach einer langen, unvergesslichen Nacht überlassen hatte. Immer wenn sie etwas Zeit für sich gehabt hatten, war er bemüht gewesen, diesen Duft zu tragen.
„Ihr seid also die Abgesandten derer von Lichtenstein“, begrüßte ihn endlich ein junger Mann, der kaum älter sein konnte als Ahrok selber. Er gähnte und räkelte sich ausgiebig zwischen samtenen Kissen, von denen die meisten mit goldenen Stickereien besetzt waren. „Bitte, so setzt euch doch“, wies er die beiden Krieger an. „Sicherlich werden Eure Arschbacken über dieses Mindestmaß an Komfort recht erfreut sein.“
„Mein werter Herzog“, mischte sich ein älterer Mann ein, „Ihr zieht doch nicht ernsthaft in Erwägung, dass sich dieses Fußvolk zu uns gesellt. Ihr offensichtlicher Mangel an Etikette, Geschmack und vor allem Hygiene ist geradezu abstoßend.“
„Da sprecht Ihr ein wahres Wort, guter Graf, dennoch sollten wir für die nächsten Minuten unserer Reise großzügig über diese Unzulänglichkeiten hinwegsehen und sie am Rande unserer Gesellschaft willkommen heißen. Es sind immerhin die Vertreter eures guten Freundes, des Grafen von Lichtenstein. Jemand möge den Beiden einen Kelch Wein reichen. Sie sehen aus, als hätten sie das bitter nötig.“

Die darauffolgende, kurze Fahrt hatten sie beide betreten auf einem himmelblauen Seidenkissen am Heck des Wagens gekauert wie verstoßene Hunde und hatten dabei den Gesprächen der Edelleute gelauscht. Ahrok war sich noch nie so unwichtig vorgekommen wie in dieser halben Stunde. Selbst die Dienerschaft behandelte sie wie übelriechende Luft, nachdem ein schlaksiger Wicht ihnen einmal von dem süßen Wein eingeschenkt hatte.
Vereinzelt hatte man über sie gesprochen, so als befänden sie sich noch immer außer Hörweite auf einem anderen Wagen.
Soeben lachte die ganze Gesellschaft herzlich über die Naivität einer Konkubine, die ernsthaft den Versprechungen des Grafen glaubte, sie eines Tages zu ehelichen. Abgesehen davon, dass diese Leute nur allzu oft Wörter verwendeten, die er nicht kannte, so besaßen sie auch eine völlig andere Art von Humor.
Kleidung, Aussehen, Sprache, ja selbst die Gesprächsthemen unterschieden sich von dem, was Ahrok bisher in seinem Leben begegnet war – Herbert und Ariane mit eingeschlossen. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass sich einer von ihnen Gedanken um die Frühjahrssaat oder Schweinezucht machen würde, aber dass diese Leute wirklich so sehr verschieden waren, war ihm bisher noch nie so bewusst gewesen.
In den südlichen Grafschaften bahnte sich ein Krieg an und sie befanden sich inmitten eines gewaltigen Abenteuers, welches zu einer der bedeutendsten Entdeckungen der letzten Jahrzehnte führen konnte… wie konnte man dabei nur ernsthaft darüber diskutieren ob slawischer Flieder in diesem Frühling Pastellfarben als Modefarbe ablösen würden.
Mit „Mauve ist das neue Schwarz – und da diskutiere ich auch nicht weiter!“ wurde das Streitgespräch dann beendet.
Über ihre Expedition wurde nur wenig geredet. Ab und zu schwärmte zwar jemand davon, was er mit dem Gold oder dem verdienten Ruhm alles anfangen würde, ansonsten schwieg man sich hartnäckig über dieses Thema aus.
„Und was werdet Ihr mit dem Gold anfangen, welches euch der gute Graf von Lichtenstein zweifelsohne für dieses Abenteuer versprochen hat?“
Es war das erste Mal das jemand überhaupt Notiz von ihm nahm.
„Ich schätze, er wird sich erst einmal ordentliche Kleidung zulegen und den Rest in einem Bordell verhuren“, antwortete einer der Grafen für ihn.
Künstliches Gelächter folgte diesen Worten.
„Nichts für ungut“, fügte der Gepuderte schmunzelnd hinzu.
Ragnar ignorierte diese Sticheleien, aber ihm ging langsam aber sicher die Galle über. Er war noch keine Stunde mit diesen Leuten zusammen und würde der Hälfte von ihnen am liebsten gewaltig eine reinhauen. Nur so zum Spaß und weil ihm einfach keine schlagfertige Antwort einfiel.
„Doch jetzt einmal Spaß beiseite. Sagt es uns, denn ich wüsste zu gern, was jemand wie Ihr mit dermaßen viel Gold anfangen würde.“
Noch bevor Ahrok dem frechen Bengel mit seiner Faust antworten konnte, wurde der dunkle Vorhang zum Kutschbock hin beiseite geschoben.
„Meine Herren, wir sind soeben am Hafen angelangt“, durchbrach der Fahrer die angespannte Stille.
„Wunderbar.“ Der junge Herzog Salinis klatschte in die Hände. „Genug geplaudert. Nun dann, werte Herren, verlassen wir dieses ungemütliche Gefährt. Sicherlich werden wir schon sehnsüchtigst erwartet.“
Es war geradezu befreiend für Ahrok, von diesem Wagen zu springen und einige Schritt Distanz zwischen sich und diese seltsamen Menschen zu bringen, welche seine gewalttätigste Seite heraufbeschwören wollten. Noch einige Minuten länger und es wäre ihm schwer gefallen, seine gräfliche Verpflichtung gegenüber Onkel Herbert zu erfüllen.
An der frischen, salzgeschwängerten Luft beruhigte sich sein Temperament jedoch wieder erstaunlich schnell.
Das war nun also Weißklippe.
Was ihn hier erwartete, war ein überwältigender Anblick.
Normalerweise ließ er sich von solch Kleinigkeiten wie der Landschaft nicht aus der Fassung bringen, aber der Blick hinaus auf das endlos weite Meer war so atemberaubend schön und der Wind sang von so viel Freiheit, dass es ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb. Er stand nur wenige Schritt von der Hafenmauer entfernt und konnte bis zum Horizont hin nur die aufgeregt peitschenden Wellen des Meeres sehen. Für einen Burschen vom Land war es eine wunderbar fremde, neue Welt.
Als das Grüne Meer hatte Herbert es bei mehreren ihrer Gespräche bezeichnet, dennoch war das Wasser hier so tiefblau und unergründlich wie Ahrok es noch nie zuvor gesehen hatte. Weißer Schaum kräuselte sich auf den Kronen der Wellenberge, wenn sie immer wieder gegen die Hafenmauer oder die Rümpfe der vielen Schiffe schlugen, welche hier ankerten. Vereinzelt glaubte Ahrok auch einige Fische zu erkennen, die unter der sich ständig verändernden Wasseroberfläche ihre Beute fanden.
Über ihnen zogen unentwegt kreischende Möwen ihre Bahnen und überall streunten Katzen herum. Manche davon waren wunderschön, die meisten jedoch eher weniger. Zwischen all dem Getier schleppten ganze Heerscharen von Hafenarbeitern Fässer, Stoffballen und Körbe von hier nach dort. Beluden Schiffe, löschten die Fracht oder schafften den heutigen Fang zu sich nach Hause.
Inmitten dieser Arbeiter fühlte sich Ahrok gleich viel sicherer. Er hatte schon langsam angefangen, zu zweifeln, ob es in dieser Welt überhaupt noch normale Leute gab, die nachts nicht davon träumten, Pferde zu töten oder unentwegt über die Vorzüge iberischer Kochkunst lamentierten.
„Bei Frikkas hängenden Zitzen, ist das ein widerlicher Gestank!“ Ragnar baute sich neben ihm auf und spuckte in die See. „Meinst du nicht auch?“
Gerade diese Seeluft war für ihn endlich einmal eine willkommene Abwechslung. Die letzten Wochen hatten weder er noch Ragnar die Möglichkeit zu einem Bad gehabt und im Gegensatz zu ihm hatte der Zwerg auch gänzlich darauf verzichtet, sich von Zeit zu Zeit mit etwas Wasser aus dem Wasserschlauch zu waschen.
„Ja, genau das hab ich auch gedacht“, nickte Ahrok, der heute keine Lust auf ein weiteres Gespräch hatte.
Er betrachtete nämlich schon seit einer kleinen Weile das Schiff, welches direkt vor ihnen im Seegang tanzte. Eine vollbusige Schönheit diente dem Boot als Galionsfigur. Irgendwie hatte die etwas. Das goldbemalte Haar wehte im imaginären Wind und umrahmte ihr ebenmäßig schönes Gesicht. Dummerweise blätterte die Farbe von ihrer Stirn und verdarb damit den Eindruck. Wäre nicht urplötzlich ein alter Seemann fluchend die Planke des Schiffes herunter gewankt, hätte er sicherlich noch stundenlang auf die halbnackte Schönheit aus Holz gestarrt.
„Biem dreemol vorfluchdn Oostenwind, dat wör awer ook langsom Tiet, dat ehr vorfluchdn Landraddn eentlik huir ankömm.“
„Mein verehrter Kapitän.“ Der junge Herzog vom Wagen empfing den Alten und deutete spöttisch eine kleine Verbeugung an. „Ich bin untröstlich, dass ihr unseretwegen warten musstet.“
„Dat iss ja woll ook dat Minniste. Ik un miene Lüd sünnt uplesd de eenzigst, de im Fröhjohr na Kasam sailen.“ Er spuckte einen Brocken Kautabak aus, um seinen Unmut zu demonstrieren. „So eene Vorzeejerung köst mi bannig Penunsen.“
„Wir bitten Sie demütig um Verzeihung, werter Kapitän. Wir werden Ihnen natürlich alle Auslagen ersetzen und für sämtliche Unannehmlichkeiten aufkommen“, lächelte der Herzog ihm zu.
Der Mann stockte in seiner einstudierten Rede. Offenbar hatte er erwartet, bedeutend mehr feilschen zu müssen. Sein Gesicht entspannte sich und lauthals lachend klopfte er dem jungen Edelmann auf die Schulter: „Käppn Peters un siene Lüd steihn jooch alltiet to´r Verfögen.“ Er machte eine einladende Bewegung in Richtung seines Schiffes. „Sall ik jooch Saaken op de Soepiel bringen laten?“
„Darum soll sich ruhig die Dienerschaft kümmern. Können wir dann sofort aufbrechen?“ Herzog Salinis bewahrte sich sein diplomatisches Lächeln und wischte sich dabei den Dreck von der Schulter seiner Tunika. Mit einer weiteren Geste bedeutete er seinen Bediensteten, die Taschen, Kissen und Gepäckstücke auf das Schiff zu schaffen.
Kapitän Peters grinste verlegen.
„We reken mit noch eene Levern Proviant in een poor Stünnen. Morn fröh weren we dann ünnerwegens sien. Awer dat iss ook een wunnerbare Mööglichkeit för jooch, denn hüt Avend iss huir an´t Haven een grootet Fess.“
„Nein danke.“ Der Herzog rümpfte die Nase, als ob er die bürgerlichen Ausschweifungen schon vor sich sah. „Wir werden die Nacht ein letztes Mal in einem warmen Bett verbringen. Es wäre also wunderbar, wenn Ihr uns eine hervorragende Herberge empfehlen könntet.“
Ahrok hatte dieses schwer verständliche Gespräch mit nur wenig Interesse verfolgt.
Immer wieder glitt sein Blick hinauf auf das Meer oder zu den Möwen, die sich untereinander um jeden einzelnen Zoll der Kaimauer stritten. Manchmal beobachtete er auch die Matrosen der Seepfeil, wie sie Dinge unter Deck schaffen. Einmal meinte er sogar, eine junge Frau unter denen entdeckt zu haben. Doch das grazile Geschöpf war zu schnell wieder unter Deck verschwunden, als dass sich Ahrok wirklich sicher hätte sein können. Vermutlich war es doch nur ein Elf gewesen. Die sahen schließlich auch immer alle so weibisch aus.
Ein deftiger Stoß in die Rippen riss ihn aus seinen Gedanken: „Hey, Ahrok, denkst du das gleiche wie ich?“
„Klar doch“, nickte er.
Das Schiff war kaum fünfzig Schritt lang und dabei etwas mehr zehn Schritt breit. Es war also unvermeidlich, dass sie auf der langen Reise ständig diesen hochnäsigen Grafenärschen über den Weg laufen mussten und natürlich hatte kein Einziger aus dieser arschkriechenden Dienerschaft auch nur einen Gedanken daran verschwendet, die Rucksäcke von ihnen beiden ebenfalls an Bord zu schaffen. Es würde unendlich schwer werden, Herbert unter diesen Umständen nicht zu verärgern.
„Ein Fest! Das bedeutet Bier, wenn nicht sogar Freibier! Meinst du die haben hier auch gutes Zwergenbier? Ich hab noch nicht allzu viele Zwerge hier gesehen.“
„Ich glaub schon, dass sie was von eurem Zwergenbier hier haben.“
„Ja. Ja, das glaub ich auch“, nickte Ragnar zufrieden.
Der Zwerg nestelte seinen Brustbeutel vom Hals und begann sein Silber zu zählen.
Ahrok verfolgte mit seinem Augen, wie die kleine Gruppe von Edelleuten, begleitet von ihrer Dienerschaft, den Rittern und dem Kapitän der Seepfeil schnurstracks an ihnen vorbei Richtung Innenstadt marschierten, ohne sich auch nur einen Augenblick um sie beide zu scheren.
Nicht, dass er oder Ragnar sie begleitet hätten, aber dass die Kerle sie einfach so ohne ein Wort am Hafen stehen ließen, wurmte ihn gewaltig. Dass man ihn, den Helden von Weidenstolz, den Schlächter von Märkteburg, für ein minderwertiges Mitglieder auf dieser ganzen Unternehmung hielt, war nicht zu übersehen und für ihn kaum zu ertragen.
„Du sag mal, Ahrok, hast du noch ein paar Silberstücke? Denn wenn nicht, wird dies ein ziemlich lahmes Fest für uns werden. Ich wusste, wir hätten bei der ganzen Weidenstolz-Sache noch ein paar Silberstücke rausschlagen sollen.“
 
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Kommentare  

ein bisschen versteh' ich es schon, aber platt ist nicht platt, und meine oma im weserberglandsprach ein ganz anderes platt...
wie auch immer platt ist der teil nicht. ;-)


Ingrid Alias I (04.05.2012)

Ja... so etwas hab ich schon hier und da befürchtet. Ich bin durch meine Großeltern mit Kontakt zu Plattdeutsch aufgewachsen, mein liebster Cousin ist Berliner, ein sehr guter Freund seit Jahren ein Bayer und durch eine langjährige Beziehung ist mir auch das Sächsisch nicht fremd.
Ich mag Sprache und Dialekte und die Vorstellung das innerhalb eines so winzigen Landes wie Deutschland so viele Variationen von Deutsch gesprochen werden, die sich alle derart gewaltig unterscheiden, dass der normale Deutsche kaum 200 km in irgendeine Richtung fahren kann ohne Schwierigkeiten mit dem dortigen Dialekt zu haben, wenn nicht gerade gezwungen hochdeutsch gesprochen wird.


Jingizu (03.05.2012)

Also diese "Edelleute" sind in der Tat alles andre als edel. Eingebildet und hochnäsig kommen sie rüber und sehr unsympatisch. Das Ahrok diese Leute sehr gerne schlagen würde, ist ihm nicht zu verdenken.
Das Platt fand ich stellenweise schon recht schwierig zu verstehen, bzw ei mehr als einem Wort musste ich die Bedeutung erraten.


Tis-Anariel (03.05.2012)

Ach so, ja , das Platt ist nicht unbedingt für jeden gut zu verstehen. Das macht aber gar nichts, sondern nur die Story umso lebensechter.

Jochen (03.05.2012)

Sehr gut beschrieben, die Unterschiede zwischen arm und reich. Und wie man voreingenommen ist, beim Anblick deiner beiden Helden. Auch mir war der Herzog damals höchst unsympathisch. Und auf die Elfe wird der Leser geschickt vorbereitet.

Jochen (03.05.2012)

Ich frag mich grade: Ist das Platt eigentlich schwer zu verstehen?

Jingizu (30.04.2012)

Der junge Herzog ist wohl so ein richtiger Kotzbrocken, aber ich glaube so hattest du ihn damals auch beschrieben. Ahrok reißt sich aber zusammen obwohl er ihn ganz bestimmt gerne so ein bisschen verprügelt hätte. Und ein Matrose von diesem Schiff wirkt irgendwie weiblich. Da habe ich ja Hoffnungen, dass das die junge Elfe sein könnte, die mir damals sehr gut gefallen hat. Sehr schönes Kapitel.

Petra (30.04.2012)

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