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4 Seiten

Feindberührung (Dritte Weihnachtsgeschichte)

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Winter/Weihnachten/Silvester
Die folgende Geschichte habe ich zwar geschrieben, aber es handelt sich um eine Nacherzählung einer ähnlichen wahren Begebenheit, die schon in anderen Varianten besteht und auch in einem etwas anderen Ablauf bereits verfilmt wurde:
(Foto links: Schlacht von Verdun. Feindliche Soldaten helfen sich gegenseitig).
*
FEINDBERÜHRUNG.
Mit klammen Fingern hielt er den Bleistiftstummel und schrieb im letzten Licht des lothringischen Wintertages. Noch war kein Schnee gefallen und die Franzmänner hatten schon seit mehr als einer Stunde das Dauerfeuer der Granaten eingestellt. Die Soldaten waren aus dem Graben zurück in den Unterstand gekrochen, hatten auf ihrem Weg ein paar Leichen in den Graben gezogen, an Geist und Körper zu müde, um sie gleich zu verscharren. Also blieben sie liegen, mit dem Gesicht nach unten, denn man wollte nicht in diese starren Augen schauen, aber auf dem toten Rücken ausruhen oder sich dahinter verstecken gegen die feindlichen Granatsplitter, das konnte man schon.
Den kleinen Erfurter aus dem dritten thüringischen Füsilierregiment hatte es erwischt, in drei Teile war er zerrissen, ein Schrapnell steckte im Kopf, ein anderes in der abgerissenen Hand. Aber das würde er nicht nach Hause schreiben, sie sollten sich nicht ängstigen, sondern stolz sein auf den Sohn, der hier für Volk und Vaterland und natürlich für den Kaiser auf der Höhe zwischen Maas und Somme dem Franzmann tapfer die Stirn bot.
„Liebe Mutter“ kritzelte er auf das graue Feldpostpapier, das er auf dem Tornister ausgefaltet hatte. „Liebe Mutter, wir sind alle guten Mutes. Es geht vorwärts. Heute Morgen hat der Herr General von Falkenhayn in einem Tagesbefehl den Soldaten noch einmal das Ziel erklärt: Wir müssen die Höhen von Verdun erobern und die Franzosen und alle Feinde binden, damit das deutsche Heer ungehindert und möglichst ohne Verluste weiter nach Paris vorrücken kann, siegreich wie Anno 1870, und wenn wir das bald geschafft haben, dann ist der Krieg zu Ende und ich komme nach Hause, liebe Mutter …!“
Als das Pfeifen der französischen Granaten wieder einsetzte und die verbrannte Erde zwischen den mürben Holzbalken in den Unterstand hereinbrach, stopfte er den Brief in die Uniformtasche. Seit zwei Tagen hatten er und die Kameraden kaum eine Stunde geschlafen. Wie Schatten rannten sie geduckt in den Graben zurück, die Bajonette aufgepflanzt, die Feindberührung erwartend.
Die Einschläge kamen näher. Er dachte an den Tod und an seine Mutter und an die Braut in Weimar, als die ersten französischen Grenadiere im Stacheldrahtverhau auftauchten und schreiend auf ihren Graben losstürmten. Instinktiv, wie er es gelernt hatte, hob er das Bajonett, spießte den ersten Franzmann auf, zog das Gewehr aus dem Körper, schob den röchelnden Mann zur Seite und stürmte weiter. „Hurra!“ schrie er. „Hurra!“
*
Ein Jahr war vergangen.
Nahezu unverändert lagen sich die Feinde auf den Höhen über Verdun gegenüber. Es hatte ein paar bedeutungslose Geländegewinne auf beiden Seiten gegeben, sie wurden zurückerobert, die Kameraden waren gefallen, am Gas erstickt, von den Bajonetten aufgespießt, von Kanonenkugeln und Handgranaten zerstückelt, vor Hunger, Nässe und Übermüdung umgefallen wie Eintagsfliegen, lagen sie herum, bergeweise, überall Leichengeruch, man munkelte von über einhunderttausend Mann auf jeder Seite, aber neues Kanonenfutter war gekommen; der Kaiser und seine Generäle waren Organisationstalente und Marschall Petain auf der anderen Seite wollte ihnen nicht nachstehen.
Aber die Soldaten hatten das Heldentum und das große Ziel längst aufgegeben und hielten nur noch die Stellung, um zu hoffen und vielleicht zu überleben.
So kam der Heiligabend heran.
Ohne klaren Befehl und ohne Absprache war es auf beiden Seiten ruhig geblieben. Man hatte die Toten zusammengetragen, in einen großen Granattrichter gelegt und mit Kalk überstreut. Er und die Kameraden hatten ein paar Stunden unruhig geschlafen, auf eisigem Boden in stinkenden Klamotten, die man seit ungezählten Wochen am ungewaschenen Körper trug, immer in der Erwartung des Feindes; ein unruhiger Halbschlaf, von wirren Albträumen zerrissen.
Aber alles war ruhig geblieben und nun war Heilige Nacht über den Höhen von Verdun. Das Dorf, in dem sie sich verschanzt hatten, war längst ausgeblutet, nur noch das zerschossene Mauerwerk der Kirchenruine war im Mondlicht zu erkennen, die verbrannte Erde hatte die Toten bedeckt; ein paar Gewehrbajonette ragten wie letzte Hilferufe aus dem fauligen Laub und ihre Träger verfaulten darunter.
„Liebe Mutter“, schrieb er. „Es ist schon wieder Weihnachten! Ich habe mich rasiert. Auch die Kameraden sind guten Mutes. Manche flicken ihre Uniformen oder lesen die Briefe ihrer Lieben von zu Hause. Es hat heute eine Extraration Erbsensuppe, Zigaretten und sogar etwas Schnaps gegeben. Bestimmt wird sich alles zum Guten wenden. Ich bin wohlauf und werde sicher bald nach Hause kommen, lange kann dieser Krieg nicht mehr dauern. Auch wenn wir diesmal nicht bis Paris kommen, so werden wir doch hoffentlich bald glücklich wieder zu Hause bei euch Lieben sein …!“ Von seiner Angst und der trostlosen Lage schrieb er nichts; das brauchten die Lieben in der Heimat nicht zu wissen ...
Die Stille dieser Nacht war so verlockend, dass sie zuerst die Köpfe über den Grabenrand streckten, noch immer das Gewehr sichernd im Anschlag. Aber auch bei den Franzosen blieb es ruhig; man konnte sogar die ersten Feinde schattenhaft sehen, wie sie vor ihren Gräben saßen, fast andächtig, nachdenklich, den Kopf in die Hände gelegt oder in den Himmel gerichtet. Einige liefen sogar unbekümmert herum und schüttelten die Glieder aus; sie schienen so nahe, dass man ihnen zurufen oder sie fast mit den Händen hätte herbei ziehen können.
Nirgends war ein Mörser zu hören oder sonst ein Kriegsgeräusch. Man konnte die Bäume rauschen und unter den Füßen das winterliche Knirschen der Erde hören. Es war, als hätte diese Heilige Nacht einen unerwarteten geheimnisvollen Frieden über die Menschen gebracht, als wäre der Krieg zu Ende und alle Beteiligten könnten sich befreit und glücklich ohne die geringste Feindseligkeit in die Arme fallen.
In diesem Moment hörten sie die Musik.
Ein Soldat hatte einen Lautsprecher auf den Grabenrand gestellt. Wie zarte Schwingungen aus einer verzauberten Welt schwoll das Lied an und schickte seine Botschaft über Freund und Feind: „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ Die ersten Männer stimmten in das Lied ein. Französisch auf der einen, Deutsch auf der anderen Seite des Stacheldrahtes; schließlich drang die Melodie bis zu den Grenadieren hinüber, die an der südlichen Flanke lagen.
Leise, zaghaft, fast scheu kamen die rauen, unbeholfenen Stimmen aus der Dunkelheit heraus. Stille Nacht, Heilige Nacht! Es war, als würde der schwarze Himmel aufbrechen und Licht senden, um die Herzen der Menschen zu erwärmen und die Sinne zu erleuchten.
Und dann lösten sich die Schattengestalten; wie von einer unbekannten Kraft gezogen rappelten sie sich auf, gingen von jeder Seite auf den Stacheldraht zu, schnitten ihn durch, schoben ihn zur Seite, und plötzlich, noch zögernd aber dann wie eine befreiende Erkenntnis, nahmen sich deutsche und französische Soldaten in die Arme, legten ihre müden Hände um müde Schultern. Und sie weinten.
Bonne fete noel!
Frohe Weihnachten!
Sie brachten Rotwein herüber, tranken und rauchten gemeinsam und sie sprachen mit den Augen, holten Fotos ihrer Lieben aus den Brusttaschen und zeigten sie herum, stolz und liebevoll, und sie wurden sich der Absurdität dieses Krieges und aller Kriege bewusst.
Am ersten Weihnachtsfeiertag trafen sie sich erneut zwischen den Fronten und bildeten eine Fußballmannschaft. Sie kickten mit zusammengebundenen Lumpen, das Spiel endete unter großem Jubel mit vielen Toren, man hatte das Zählen vergessen, dann trank man wieder Rotwein und Schnaps, teilte die Plätzchen und Kuchen aus den Weihnachtspaketen, bis von den Offizieren das Signal für den Rückzug ins eigene Lager ertönte.
In der gleichen Nacht kam es zur Feindberührung und bei Granatangriffen kamen auf beiden Seiten über zweitausend Soldaten ums Leben; darunter vierzehn der zweiundzwanzig Fußballspieler. Fünf anderen wurden Füße und Beine abgerissen, mit denen sie sich ein paar Stunden zuvor wie übermütige Kinder um den Ball gestritten hatten.
Der letzte Brief an die Mutter wurde nie abgeschickt; man fand ihn halb fertig in seinem Tornister. Der Brief hängt heute eingerahmt zwischen anderen Erinnerungen in der Gedenkstätte von Verdun. Schulklassen absolvieren ihre Pflichtbesuche. Aber es kommen weniger Menschen als zu einem Sportereignis, doch wer kommt, wird nachdenklich.
 
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Kommentare  

Ja, lieber Francis, ich kann deine Gedanken und dein Anliegen nachvollziehen. Eine solche Geschichte kann man um X-Seiten ausweiten; da hätte es viele einzelnen Szenen gegeben, die man hätte ausschmücken und "charaktervoller" gestalten können. Zum Beispiel Szenen aus dem Fußballspiel, wo sie wie die Kinder herumgetollt sind, oder der Moment des Zerschneidens des Stacheldrahtes, oder das langsame Aufsichzugehen, oder wie sie zusammen tranken, oder wie sie sich die Familienfotos zeigten, oder sich in die Augen schauten, oder, oder...

Letztendlich hätte man einen ganzen langen Roman daraus machen können. Mir kam es aber WIEDER EINMAL darauf an, mit meiner üblichen Prosa-Verknappung auf wesentliche Punkte hinzuweisen und die Kurzgeschichte so kurz wie möglich zu halten. Aber ich kann dich verstehen. Ich finde aber auch, dass zehn unterschiedliche Autorinnen oder Autoren aus dieser Basisgeschichte zehn unterschiedliche Geschichten machen könnten, und jeder der anderen Neun könnte anmerken: "Dies oder jenes hätte ich anders gemacht oder mehr hervorgehoben...!"

Ich danke dir aber, dass du dir solche subtilen Gedanken um das Thema und entsprechende Vorschäge gemacht hast.


Michael Kuss (14.12.2012)

Zweifelsohne gut geschrieben, Michael, trotzdem hätte ich es mir von dir erwünscht, dass du diese wahre Geschichte etwas ausführlicher geschildert hättest, weil sie es wert ist.
Mir persönlich fehlt der Charakter, den ich für einen Moment in meinen Herz schließen kann. Zudem, weil es sich um eine Weihnachtsgeschichte handelt, fehlt meiner Meinung nach dieses gewisse Flair. Sicher, es handelt vom Krieg, aber dies wäre dir sicherlich gelungen, hättest du mindestens 1,2,3 Seiten mehr geschrieben.


Francis Dille (14.12.2012)

Ja, Jingizu, jetzt im Nachinein betrachtet, kann mein Kanonen-Wort tatsächlich zu dem Bild verleiten, da würde eine Kanone geschwungen, womit jemand zerstückelt wird. Es war also richtig, mich darauf aufmerksam zu machen, damit ich die präziseren Ausdrücke "Kanonenkugel" bzw. "Handgranaten" einsetzen konnte. Möglich wäre auch noch der Begriff "Mörsergranaten" oder "Mörsergeschosse" gewesen. Deine "Meckerei" war also berechtigte "Aufmerksamkeit".

Michael Kuss (29.10.2012)

Hallo Michael,

das Wort "Geländegewinn" ist mir tatsächlich noch nie untergekommen. Da es das aber wohl wirklich gibt und auch in dieser Zeit so verwendet wurde, hab ich hier wieder was gelernt.

Um auf das "von Kanonen zerstückelt" zurückzukommen. Dies erweckt das Bild von jemandem, der eine Kanone schwingt, um den Feind vor sich in Stücke zu hacken.
In Phrase wie "von Kanonen in Stücke geschossen" oder "von Kugeln zerfetzt" passen die Verben zu den jeweiligen Tötungsarten - darum ging es mir eigentlich. Nicht um die Ganzheit der Menschen, die sich solch Kriegsgerät entgegenstell(t)en.


Jingizu (26.10.2012)

Hallo Jingizu, diesmal kann ich leider nicht mit dir übereinstimmen: "Geländegewinn" ist ein militärischer Ausdruck, der auch in den Kriegsberichten des Ersten Weltkrieges nachzulesen ist und noch heute als militärischer Begriff angewendet wird. (Aber auch der Begriff "Raumgewinn" wird verschiedentlich verwendet).

Und ich weiß nicht welchen Unterschied es macht, ob Menschen von "Kanonen" oder "KanonenKUGELN" zerstückelt werden. Ähnlich wie bei Sägen, Häcksler oder Äxten bleibt das Ergebnis das gleiche: Der Körper, also der Mensch, ist zerstückelt und liegt in Stücken, also in zerstörten Einzelteilen, herum. Da ich aber deinen Einwandt ernst nehme (und um GANZ GENAU zu sein), habe ich den Begiff "Kanonen" durch "KanonenKUGEL" und "Handgranaten" ersetzt. Das Wort "zerstückelt" werde ich allerdings nicht durch einen anderen Begriff ersetzen, denn wer die entsetzlichen Dokumente und Bilder in Verdun gesehen hat, kann die Zerstückelung eines Menschen (und die Zerstückelung aller menschlichen Werte) nur "Zerstückelung" nennen. Aber ich danke dir natürlich für die Zeit, die du dir erneut für meine Geschichte genommen hast.


Michael Kuss (26.10.2012)

Na da hast du dir ja ein interessantes Thema für eine deiner Kurzgeschichten ausgesucht. Der Krieg als Ganzes ist schwer zu erfassen und deshalb passt es auch so gut, dass du es gar nicht versuchst, sondern nur wenige Augenblicke nahezu wertungsfrei, aber dafür in eindringlichen Bildern schilderst.

Und weil ich eigentlich immer meckere kommt hier mein "aber":
Das Wort "Geländegewinn" stört mich etwas, allein schon vom Klang her und ich weiß auch nicht, ob es das überhaupt gibt - "Raumgewinn" wäre hier wohl eine bessere, militärischere Alternative.
Auch werden Menschen nicht von "Kanonen zerstückelt".
Zerstückeln ist ein Begriff, der eine mechanische Komponente hat. Da denkt man eher an Sägen, Häcksler, Äxte, Macheten... Und desweiteren sind es nicht die Kanonen selbst, die diese Schäden anrichten, sondern die damit verschossenen Kugeln oder Sprengladungen (keine Ahnung was damals benutzt wurde).


Jingizu (26.10.2012)

Diese berührende Geschichte kenne ich, hab sie schon in zwei oder drei verschiedenen Versionen gelesen. Find es schön, das sie hier jetzt auch zu finden ist.
Deine Nacherzählung ist dir auch gut gelungen.


Tis-Anariel (26.10.2012)

Auch ich finde den Text sehr gelungen. Schnörkellos schilderst du hier den Heiligen Abend in der Schlacht zu Verdun. Sehr plastisch, sehr brutal, schrecklich! Nie wieder Krieg! kann man nur dazu sagen.

Gerald W. (25.10.2012)

ist ja wirklich irre, denn jeder Krieg ist irre. Ganz, ganz toll geschrieben!

Dieter Halle (25.10.2012)

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