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Keine Visionen, keine Klasse, keine Persönlichkeit....

Nachdenkliches · Kurzgeschichten · Experimentelles
In einer seriösen Gesprächsrunde wurde ich vor einiger Zeit gefragt, was ich von der gegenwärtigen deutschen Politik und vor allem von den meisten unserer Politiker halte und ich kam spontan zu folgender Antwort:
"Wer heutzutage in die Politik geht oder schon drin ist, hat in der Regel das Niveau und die Fähigkeit, einen Geflügelzuchtverein zu leiten, oder glaubt wenigstens eine mickrige Nebenrolle im Vereinsgetriebe übernehmen zu können. Viel Gegackere, peinliche Hahnenkämpfe um Eitelkeiten, Macht und Positionen, obwohl die Perspektiven und Fähigkeiten gerade bis zur nächsten Vorstandswahl oder bis zur kommenden Hühnerschau reichen. Dieser Jahrmarkt der Eitelkeiten führt logischerweise zu potemkinschen Dörfern, in denen wir dann mit Mief und Mittelmäßigkeit von der Hand in den Mund herumdümpeln. Es fehlt an Visionen, an Klasse, an Persönlichkeiten, an Durchsetzungskraft und Durchsetzungswillen".
Das sind meine ersten Gedanken, wenn ich eine Aussage zur gegenwärtigen und zukünftigen Politik und Gesellschaftsgestaltung machen soll. Aber bin ich Karl Marx, Adorno, Sartre oder Einstein oder jemand aus der griechischen Mythologie, um hier eine Analyse vornehmen, Perspektiven aufzeigen oder Mahnungen aussprechen zu können? Oder bin ich nicht genauso Mittelmaß und Durchschnitt wie unsere Politiker? Denn offensichtlich gibt es da einen Zusammenhang, eine unheilige Symbiose zwischen Wählern und Gewählten.
Als Kind und Heranwachsender hatte ich noch die Idealvorstellung, ein Lehrer oder ein Polizist, eine Bürgermeisterin oder ein Abgeordneter, meine Eltern oder der Herr Pfarrer seien immer Vorbilder: Hilfreich, rein, selbstlos und idealistisch! Sie wüssten - jeder in seinem oder ihrem Arbeitsbereich - zu lenken und zu leiten, sie hätten Ideen und Perspektiven, mitunter würden sie sogar Visionäre sein, könnten begeistern und überzeugen, und sie würden nicht nur verantwortlich bis zu ihrer eigenen Rente denken und handeln, sondern bis weit über die Urenkel über ihren eigenen Clan hinaus auch an Nachbarn und Umwelt denken.
Na schön, zugegeben, das wäre ein bisschen zu paradiesisch; so viel idealistischer Perfektionismus ist wohl nur im Traum erhältlich. Besonders angesichts von Banken- und Flughafenpleiten, geschredderten Geheimdienstakten, vertuschten Parteispendengeldern oder - in betrügerischer Absicht - geschönten und gefälschten Armutsberichten.
Aber müssen es denn gleich jene Niederungen sein, in denen wir jetzt mehr herumstochern als gestalten? Und dabei denke ich nicht nur an die eitlen Möchtegerns, Eigenversorger und Unter-den-Teppich-Kehrer egal welcher Regierungskoalitionen. Wer sich einmal sehr genau im Fernsehen eine Parlamentsdebatte anschaut, bekommt eher den Eindruck, als würde es sich um Büttenreden eines Karnevalvereins, Helau und Alaaf, oder um eine Märchenstunde des Lügenbarons von Münchhausen handeln.
Wo sind sie, die demokratischen, die humanen Gestalter, die endlich merken, dass die Interessen einer globalisierten Wirtschaft längst den Parlamenten Motor und Ruder aus der Hand genommen haben? Wenn sie diese Werkzeuge denn jemals wirklich in Händen hatten. Wo sind die Weitsichtigen, die Analytiker, die Generationen übergreifend sich an die Stichworte "soziale Gerechtigkeit, Frieden, Waffenexporte, Bankenkrisen" heran wagen? Wer erkennt - und zieht daraus Schlussfolgerungen - dass die grenzüberschreitende Kriminalität uns lange Nasen macht, weil die polizeiliche Zusammenarbeit sich in mittelalterlicher Kleinstaaterei abspielt und jeder nur bis zum eigenen Tellerrand schaut?!
Wer denkt bei "Völkerwanderung und Immigrantenströme" an mehr als an ein Flüchtlings-Auffanglager in Nord-Afrika? Oder gar an militärische Auslandseinsätze!?" Wo sind sie, die Weitsichtigen, die die Ausmaße unserer Umweltkatastrophen einsehen und mit Nachdruck dagegen einschreiten? Spätestens bei unseren Clowns und Marionetten der Politik-Elite bemerken wir unsere Hilflosigkeit, denn wir haben sie ja nur als Ersatz und Alibi für unsere eigene Hilfslosigkeit gewählt. Oder haben wir tatsächlich geglaubt, durch unsere "Wahl" würde sich etwas ändern? Die profunden Entscheidungen unserer Gesellschaft werden ganz woanders getroffen. Wir dürfen - wie bei der Kinderspielzeugeisenbahn - ein bisschen herumrangieren; die Weichen stellen andere! Die Richtung wird von Kapitalinteressen bestimmt! Und um uns Sand in die Augen zu streuen, gibt man uns zwischendurch "Brot und Spiele", gibt uns drei Mal wöchentlich Fußball, ab und zu sogar Weltmeisterschaften, Autorennen, Deutschland sucht den Superstar oder andere hochintelligente Fernsehprogramme und die bürgerliche (nicht nur Springer)presse trichtert uns ein: "Euch gehts doch gut! Seht mal, welche Auswahl! Das ist alternativlos!"
Und schon gerate ich in Konflikte mit meinen eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten, die sich ja auch in Grenzen halten. Aber darf ich deshalb nachsichtiger mit Politikern sein, die doch eigentlich Hehres versprochen hatten, und sich dann doch als ganz normaler Bürgermief, als schlichter Durchschnitt mit Vereinsgehabe entpuppen?
Jede Medaille hat bekanntlich mindestens zwei Seiten. Wir, das Volk, sind - im großen Maße - nämlich genau so miefig, genau so kleinkariert, genau so ideenlos! Wir kontrollieren nicht! Wir hinterfragen nicht! Wir geben keine eigenen Impulse! Aber wir fordern! Mehr Geld, mehr Wohlstand, mehr Sicherheit von "denen da oben"! Und weil "die da oben" (welch schrecklicher Begriff, denn er impliziert ja auch "Wir hier unten!") uns befriedigen müssen, damit wir bis zur nächsten Wahl das Maul halten, versprechen sie das Blaue vom Himmel (und brechen es, noch bevor sie das Maul geschlossen und auf ihren Polstersessel Platz genommen haben). Seit Jahrzehnten! Zwei Löcher aufwühlen und nur eins zuschütten! Einen Schritt vor und zwei zurück! Eine verlogene Milchmädchenrechnung, wer dabei an "Ausgleich" denkt. Alle Seiten dieser Gesellschaft verantwortungslos wie Vogel Strauß und asozial wie ein Kuckuck.
Manchmal habe ich den Eindruck, als würden wir wie Nichtschwimmer, wie hilflos Suchende in einem reißenden Fluss treiben. Zwischen uns treiben unsere Politiker; verkrampft recken sie die Arme hoch und schreien großspurig "Folget mir, ich bin die Rettung!" Dabei steht ihnen selbst das Wasser schon bis zum Hals und sie retten höchstens das eigene banale Leben, den eigenen zusammengeramschten Profit. Und selbst dabei schanzen sie sich noch die besten Posten zu: Wer als Entwicklungsminister abgewirtschaftet hat, wird schnell noch Verteidigungs- oder Finanzminister oder nach Brüssel weggelobt. Und wir, das Volk, wir blöken dazu wie die Schafe.
Zurück zur Frage nach meinen Erwartungen: Es ist die Hoffnung, dass das Gegenteil meiner negativ- fatalistischen Beschreibung eintritt! Es ist die Hoffnung, dass es in jeder Generation Leute mit konstruktiven Visionen, mit Durchsetzungsvermögen, mit Glaubhaftigkeit geben wird; dass das Herumstochern und das Suchen der Stecknadel im Heuhaufen und der Marktplatz der Eitelkeiten wenigstens zwischendurch mal unterbrochen wird. Und es ist die Hoffnung, dass ich selbst versuchen werde, diesen Ansprüchen näher zu kommen. Unterdessen wird die Welt sich hoffentlich irgendwie weiter drehen und uns vor dem Schlimmsten, vor Krieg oder Faschismus bewahren ...

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Kommentare  

Ich habe Änderungen und Verschärfungen vorgenommen, da ich - nachträglich betrachtet - angesichts der Entwicklung meine ursprüngliche Betrachtung für viel zu harmlos halte und deshalb schärfer formuliert habe. Das war auch und vor allem nach den ausführlichen Stellungnahmen von Jochen und Jingizu schon lange überfällig.

Michael Kuss (01.01.2014)

@jingizu: Ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte, aber ich habe deinen ausführlichen und engagierten Kommentar völlig übersehen und entschuldige mich für meine Nachlässigkeit. Erst heute entdeckte ich die zahlreichen Details und werde mich demnächst damit befassen, entweder hier in der Kommentarspalte oder gleich per persönlicher Nachricht. Jedenfalls Dank für deine Anregungen.

Michael Kuss (25.12.2012)

Hallo Michael,
sehr gelungene Analyse unserer, ja, man kann sagen, der weltweiten Gesellschaftsordnung.
Irgendwer hat dazu mal gesagt:
Jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient.
Man stelle sich mal vor, es käme ein Politiker, wie du ihn dir vorstellst und verkündete Wahrheiten, wie:
- wir können nicht weiter Schulden machen sonst können wir uns niemals aus den Klauen der Banken befreien und das heißt: Erhöhung der Steuern, Senkung der Renten, Beamtenpensionen und Sozialleistungen, Kürzung der Staatsausgaben
- Deutschland braucht wegen seiner Altersstruktur ein Einwanderungsgesetz, Asylanten dürfen nicht nur, sie müssen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen und haben natürlich auch freie Wohnortwahl, Ausländer dürfen bei Nachweis eines Arbeitsvertrages auch mit einem Duchschnittseinkommen einwandern und so lange bleiben wie sie wollen
- Parteispenden jeglicher Art über 100 Euro pro Jahr sind verboten
- Nebentätigkeiten der Parlamentarier sind verboten
... da würde mir sicher noch einiges einfallen

würde solch einen Typen irgendjemand wählen?

ich glaube, eher nicht...

also haben wir die Politiker, die wir haben doch verdient!

Und bei allem berechtigten Gemeckere:

Wir meckern doch auf einem wirklich hohen Niveau!


Jochen (12.11.2012)

Oh, ich bin der felsenfesten Ansicht, dass es diese kompetenten Denker, die Verantwortungsbewussten und die kühlen Köpfe durchaus gibt - doch wird es nie einer von denen jemals in eine Position schaffen, in der er/sie etwas zu sagen hat. Franktionszwang sei dank.

Und wer denkt so ein Fraktionszwang sei ein typisch deutsches Phänomen, dessen Blick lenke ich hiermit einmal nach Westen ins "land of the free", wo erst kürzlich ein Republikaner ratzdifatz von der eigenen Partei aus seinem Amt entfernt wurde, weil er einen vernünftigen Gesetzentwurf unterstützte, den die Demokraten eingereicht hatten.

Wenn man so etwas erkannt hat, dann wird einem das Ausmaß unserer Misere erst richtig klar. Es geht nicht um vernünftige Politik. Es geht nur um das regieren, deshalb wehen hier auch alle Fähnchen nach dem Wind der öffentlichen Meinung - bestes Beispiel unsere Kanzlerin.

Kurz vor Fukushima hat Frau Merkel noch den Ausstieg aus dem Ausstieg bekanntgegeben, denn die deutschen Atomkraftwerke sind mit die sichersten der Welt - und nur eine Woche nachdem Baden Württemberg plötzlich grün statt schwarz wählt ist sie völlig anderer Meinung.
Die Frau ist Physikerin. Glaubt hier tatsächlich irgendjemand die Dame hat nochmal nachgerechnet?

Der Luther Begriff: "Hier stehe ich und kann nicht anders!" ist in der heutigen Politik völlig unbekannt.

Rot-Grün hat mit ihrer kurzsichtigen Wirtschaftspolitik die Heuschrecken ins Land geholt und die größte, soziale Ungerechtigkeit in der deutschen Geschichte eingeführt. Schwarz-Gelb setzt sich ganz offen für Spitzenverdiener und Multimillionäre ein - was soll da jemand von den ca. 12 Millionen Deutschen wählen die Hartz 4 beziehen, als Aufstocker oder im Niedriglohnsektor oder als Leiharbeiter arbeiten. Für 1/6 der Deutschen ist es doch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Kein Wunder, dass die nicht mehr wählen gehen.

Und wenn man jetzt noch weiterer Anekdoten gedenkt:
Ich hatte mit einer jungen Frau vor vier Jahren ein politisches Gespräch und was sie zu sagen hatte war: "Ich wähle Merkel, weil sie eine Frau ist."
Was soll man dazu noch sagen?

Wir sind in Volk voller desinteressierter und uninformierter Schafe. Jemand der sein Kreuzchen aus Gewohnheit an der altbekannten Stelle macht, ohne jemals das Wahlprogramm gelesen zu haben oder die aktuelle Politik zu kennen, oder gar gänzlich gegen die eigenen Interessen wählt, weil er es schon immer getan hat - der ist für mich weit schlimmer als einer der gar nicht erst wählen geht.

Aber was will man von einem Land erwarten, in dem Leute mit 100 Sachen am Schulgelände vorbeibrettern und wenn sie dabei erwischt werden, die Polizei als "Wegelagerer" beschimpfen. Die privaten Fernsehsender sind eine Verblödungsmaschine, die rund um die Uhr mit größtem Erfolg läuft, die öffentlich rechtlichen passen sich nun diesem Niveau an, um in den Quoten nicht abzustürzen. Die meistgelesene Zeitung in Deutschland ist die BILD...

Seien wir ehrlich - wir verdienen es doch nicht besser.

Wir rasen mit rasanter Geschwindigkeit auf einen Abgrund zu. Wie der aussieht, kann jeder sehen, der mal nach Westen in die USA blickt.
1% der Amerikaner besitzen 80% des Gesamtvermögens. Zeltlager, Suppenküchen, keine Krankenversorgung, alte Leute ohne Führerschein dürfen nicht wählen (in 33 Staaten), es sitzen dort mehr Menschen (pro 1000 Einwohner) im Knast, als sonst irgendwo im Rest der Welt...

Klar will der Deutsche "Dass sich hier endlich was tut!" aber bitteschön ohne dass sich für ihn persönlich etwas ändert.

Umdenken ist angesagt. "Jeder kann was erreichen, wenn er nur fleißig ist." Von dieser Lügen müssen wir uns endlich trennen. Die Zeiten in der 1/7 der Weltbevölkerung 60% der weltweiten Ressourcen verbraucht hat - sind vorbei. China und Indien ziehen nach und die sind selber schon 2,5 Mrd.

Reichtum für alle geht nicht. Das geben die Ressourcen gar nicht her.

Hm... wo bin ich jetzt mit meinen Ausschweifungen gelandet? Sicher weit ab vom Thema... Ach ja es ging um innovative Köpfe - da fällt mir der Film "Eine unbequeme Wahrheit" ein - in welchem Al Gore davon erzählt wie er seit 20 Jahren durch die Welt tingelt, um sie aufzurütteln. Dass von allen über Klimawandel verfassten wissenschaftlichen Berichten 0% sich gegen die Theorie aussprechen, dass der Mensch an der jetzigen Misere schuld ist - aber 53% der Medienberichte über dieses Thema das alles anzweifeln. Eine geradezu widerliche Diskrepanz.
Volksverblödung mit System.
Wirtschaftsinteressen bestimmen Politik - und solang sich das nicht ändert kann "da oben" stehen wer will - unser Zug rast weiter auf den Abgrund zu, während wir uns von der Springerpresser erzählen lassen, dass wahrscheinlich der Islam schuld ist.


Jingizu (11.11.2012)

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