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Die Ballade von Pretty Ramon - (4) Sayonara Bitches

Romane/Serien · Schauriges
„Heilige Scheiße“, murmelte Erwin Holtby. Im nächsten Moment zerfetzten metallene Krallen die Tür zu seinem Büro. Etwas, das aus weißem Fleisch und hell glühenden Augen bestand brach durch. Die Zähne, die sich zweieinhalb Sekunden später in den Nachtwächter schlugen schimmerten blaugrau und wiesen eine Festigkeit auf, die Erwin komisch vorgekommen wäre, wenn er ein Experte und nicht gerade gefressen worden wäre.

(Das vierte Kapitel der Web-Story um den Monsterjäger aus dem Jahr 2060. Mini-Kapitel erscheinen auf http://cyberzombiesattack.blogspot.de/ bis sie dann zusammengefasst auch hier veröffentlicht werden. Und ab jetzt geht dieses Kapitel los.)

„…fanden Henrick Andrews, seine Frau Paula und Tochter Maggie brutal ermordet in ihrer Wohnung vor. Henrick und Paula lagen blutüberströmt im Ehebett, die kleine Maggie fand ihren Tod in ihrem Kinderbett. Die Polizei geht davon aus, dass die drei Personen im Schlaf überrascht wurden und ihnen keine Chance zur Gegenwehr blieb. Die Täter gingen bei dieser Tat mit äußerster Brutalität vor. Die Ermittlungen beginnen gerade erst, erste Polizeiquellen sprechen allerdings davon, dass die Täter Schneidwerkzeuge, vermutlich Messer, benutzten. Dieses Ereignis ist ein großer Schock für die gesamte Nachbarschaft. Erste Gespräche mit Bewohnern des Hauses, die gut bekannt mit den Andrews waren, zeugen von Unverständnis, was dieses Verbrechen betrifft. Niemand scheint zu verstehen, warum diese Familie, über die niemand ein schlechtes Wort zu verlieren hatte, Opfer derartiger Grausamkeit werden konnte. Spekulationen über Wahnsinnige, die wahllos Familien töten, wurden geäußert. Wir bleiben natürlich dran und melden uns, sobald es Neuigkeiten über die Tat und ihre Hintergründe gibt. Jetzt erst einmal zurück zu dir, Steve.“
„Danke, Helga. Wow, das ist wirklich nichts, was man hören möchte. Und ich kann Ihnen versichern, dass dem Sender Bilder vorliegen, die belegen, dass wir hier wirklich von krankhafter Brutalität sprechen. Die Bilder sind so widerwärtig, dass wir sie um diese Uhrzeit nicht zeigen dürfen, aber wir bitten Sie, zur Mitternachtsausgabe unserer News wieder einzuschalten, um sich ein Bild über das Ausmaß dieses Verbrechens zu machen. Vielleicht können Sie mithelfen, diese offenbar geisteskranken Mörder, die nach ersten Informationen anscheinend wahllos amerikanische Familien in ihren Wohnungen und Häusern heimsuchen, in die Hände unserer Polizei und der amerikanischen Justiz zu bringen. Gott stehe uns bei!
Andere Neuigkeiten erreichten uns heute Morgen aus Denver. Steht Broncos Quarterback-Sensation Phil Simmons tatsächlich kurz vor einem Wechsel zu den Packers? Erwin McKenzie, du befindest dich gerade in der Mile High City. Erzähl uns, was an der Sache dran ist…“

Erwin Holtby sah zu einer Zeit fern, die ihm erlaubte, Bescheid zu wissen, dass Phil Simmons entgegen aller Gerüchte seinen Vertrag als Quarterback bei den Denver Broncos um zwei Jahre verlängerte. Er hatte außerdem die extremsten der Öffentlichkeit zugängigen Bilder vom Andrews Familienmord gesehen und hatte entschieden, dass es sich um Fakes handeln musste, weil Menschen ganz gewiss nicht soviel Blut im Körper halten bzw. außerhalb ihres Körpers verspritzen konnten. Jetzt sah Erwin Holtby eine im TV übertragende Show, die eigentlich fürs Radio konzipiert war und die einen weißen und einen schwarzen Mann zum Inhalt hatte, die über College Basketball diskutierten. Er sah die Sendung, hörte sie aber nicht, weil er den Ton abgedreht hatte. Eigentlich sah er sie auch nicht wirklich. Sie lief auf einem der beiden Monitore vor ihm. Der andere Bildschirm zeigte Bilder vom Schulhof und dem Inneren der Portland Central High School, deren Nachtwächter er war. Basketballkörbe, die einsam im Wind flatterten, leere Korridore, eine verlassene Turnhalle und ein kleines, graues Quadrat auf dem Bildschirm, das eigentlich den Eingangsbereich der Schule und somit auch das Areal vor seinem Büro anzeigen sollte.
Erwin sah weder die Show noch den Überwachungsmonitor wirklich, weil er auf die Tür seines Büros starrte. Seine momentan sehr bleiche Haut war feucht von dem Angstschweiß, der von seiner Stirn herab rann. Neben der Tür war ein Fenster aus kugelsicherem Glas in die Wand gebaut worden, aber er zwang seine Augen, dieses Fenster und das, was auf der anderen Seite – direkt vor seinem Büro – zu sehen war, zu ignorieren. Seine Augen gehorchten ihm. Um seine Ohren war es leider anders bestellt.
Irgendetwas kratzte an der Tür. Er hörte irgendjemanden stöhnen. Dann brach etwas im Licht der Deckenlampe grau glänzendes durch das verstärkte Holz. „Heilige Scheiße“, murmelte Erwin Holtby. Im nächsten Moment zerfetzten metallene Krallen die Tür zu seinem Büro. Etwas, das aus weißem Fleisch und hell glühenden Augen bestand brach durch. Die Zähne, die sich zweieinhalb Sekunden später in den Nachtwächter schlugen schimmerten blaugrau und wiesen eine Festigkeit auf, die Erwin komisch vorgekommen wäre, wenn er ein Experte und nicht gerade gefressen worden wäre.

Professor Oldyne betrat das Büro eine Minute später. An seiner Seite befand sich ein Zwerg, der dümmlich kicherte. Oldyne betrachtete den toten Nachtwächter und den Zombie, der sich an dem Kadaver gütlich tat.
„Dreißig Sekunden, um die Tür zu erkennen und sechs Sekunden, um durchzubrechen. Das ist absolut verbesserungswürdig, oder?“
Der Zwerg blickte in Richtung des Professors, wobei er darauf achtete, dass seine Augen niemals die von Oldyne trafen. Seine Schultern waren zurückgezogen und sein Rücken gebeugt. „Das Resultat des Experiments war der Tod der Zielperson. Sollten wir damit nicht zufrieden sein?“
Der Professor schüttelte den Kopf: „Wir wollen Effizienz, oder? Alles muss schnell gehen. Kann sein, dass sonst Hilfe kommt. Oder sogar Verstärkung. Nein, nein, nein. Wir können nicht zufrieden sein. Ein Anfang ist gemacht, aber ich brauche noch mehr Testsubjekte, um zufrieden stellende Resultate zu erbringen, oder?“
„Mehr Testsubjekte?“ Der Zwerg schien unter jedem zweifelndem Wort des Professors zu schrumpfen.
„Mehr von diesen Toten, die nicht tot sind. Du weißt schon. Lebensartige Tote, oder? So was wie der da.“
Als hätte der an den Eingeweiden des Nachtwächters fressende Zombie verstanden, dass der Professor über ihn sprach erhob sich das bleichhäutige Monster und schritt Oldyne und dem Zwerg entgegen. Einer Krümmung des rechten Zeigefingers des Zwergs zufolge brachen plötzlich steinerne Spieße aus der Haut des Zombies. Dünne, graue, wie Pfeile geformte Gebilde bohrten sich von Innen durch die Haut des Untoten. Das Wesen schrie auf. Dann durchbrach einer der steinernen Pfeile auch die Schädeldecke des Untoten. Stöhnend brach die Kreatur zusammen.
„Mehr von diesen da.“ Der Zwerg verbeugte sich. „Daran soll kein Mangel herrschen.“

-

Flaherty lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete die Patrone, die er als letztes gesegnet hatte. Dann legte er sie in die Schachtel zu den anderen und schob den flachen Karton zu Ramon herüber. „Der Gekreuzigte hatte Recht. Es fließt Blut in Portland.“
Ramon hatte sich in seinem Sessel vorgebeugt, um die Schnürsenkel seiner dunkelbraunen Schuhe zu richten. Seine schwarzen, glatten Haare bedeckten dabei fast die Hälfte seiner Lederjacke. Er schob seine Gucci Sonnenbrille hoch und blickte den Priester an: „Gibt es Leute, die bereit sind, zu zahlen, damit das Blutvergießen ein Ende findet?“
Flaherty lächelte und griff nach der sich auf dem zwischen den beiden stehenden runden, kleinen und bei Ikea erworbenen Tisch befindlichen Flasche Whiskey. Er füllte sein Glas mit dem braunen Inhalt und nickte dann. „Ich weiß, dass es nach nicht viel klingt, aber die örtliche Polizei ist sehr interessiert an deiner Mithilfe.“
„Die Polizei?“ Der Mexikaner gab sich mit dem Zustand seiner Schuhe zufrieden und lehnte sich ebenfalls zurück. Seine Hände fanden Blättchen und Tabak in den Taschen seiner Jacke und waren mit dem Drehen einer Filterlosen beschäftigt, während er danach trachtete, mehr in Erfahrung zu bringen. „Wenn sie Bescheid weiß, warum löst sie den Fall nicht selber?“
Der Priester nippte am Whiskey und stellte das Glas wieder auf den Tisch. Dann beugte er sich in Richtung seines Gesprächspartners: „Hast du jemals von Inspector Snyder gehört?“
Der Mexikaner schüttelte den Kopf: „Nee.“
„Ein kluger Kopf. Genügend Einfluss auf die höheren, finanziell interessanten Ebenen. Und genug Verstand, um zu erkennen, dass er und seine Kollegen den Fall allein nicht lösen können.“
Ramon entzündete seine Zigarette: „Über wie viel Geld reden wir?“

Eine Stunde später saß er in der Voodookarre. Über die Boxen liefen Songs des Wu-Tang Clans. Das Nav erklärte ihm den Weg nach Portland. Irgendwo, im Vorgarten eines Hauses, an dem er vorbei fuhr, flatterte die Flagge der USA.

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Als Timothy in den Lift stieg, um bis in die obere, von seinen Eltern bewohnte Etage des recht mickrig wirkenden Hochhauses zu fahren, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass er zu einer Waise geworden sein könnte. Er war zwar verwundert, dass niemand auf sein Klingeln reagiert hatte, hatte dies aber auf die Tendenz seines Vaters geschoben, ständig Musik und diese extrem laut zu hören. Außerdem hatten die Chancen gut gestanden, dass Juice und Feeva sich um diese Uhrzeit bereits intensiv der Wasserpfeife und dem Genuss Rausch fördernder Kräuter gewidmet hatten.
Es war kurz nach elf Uhr am Abend, als Timothy aus dem Fahrstuhl stieg und den kurzen Korridor bis zur Tür des Appartements seiner Eltern durchschritt. Dieses Mal hielt er sich gar nicht erst mit der Klingel auf. Natürlich hatte er einen Schlüssel. Als er ihn ins Schloss steckte, fiel ihm auf, dass keine Musik aus den sich hinter der Tür befindlichen Räumen drang. Zwei Schlüsseldrehungen später realisierte er, dass er tatsächlich zu einer Waise geworden war.

In der Wohnung herrschte das Chaos. Kein Regal, das nicht umgeworfen worden war, kein Zentimeter Teppich, der nicht von Glas- oder Holzsplittern bedeckt war. Bücher, Datenchips, die kleinen Holzfiguren aus aller Welt, die seine Mutter gesammelt hatte, zerbrochene Teller, verstreutes Besteck… Alles, was Timothy mit dem Heranwachsen in diesem über Puyallup, Seattle thronenden Appartement verband, lag auf dem Boden und malte ein Bild von einem lange währenden, hitzigen Kampf. Und überall war Blut.
Das Polster des Sofas im Wohnzimmer war völlig zerfetzt. Eine mit Wachsmalern bekritzelte Seite eines Comicbuchs lag auf der Armlehne. Die anderen Seiten lagen auf dem Boden. Der Tisch war zerbrochen. Die Trideoeinheit, die Timothy zahllose Stunden geistloser Unterhaltung beschert hatte, war vollkommen zerstört.

Der Junge gestattete sich nicht zu denken, während er durch die Wohnung ging. Von seinen Eltern fehlte jede Spur, wenn man von den überall zu sehenden Blutspritzern absah. Ihm wurde schnell klar, dass der Kampf, der hier stattgefunden hatte, sich unmöglich über alle Räume des Appartements erstreckt haben konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand später durch die Zimmer gegangen, alles zerstört und mit Blut besprenkelt hatte, war groß. Timothy zwang sich zu ignorieren, dass dieser jemand vermutlich mit irgendeinem wahrscheinlich nicht ursprünglich ihm gehörenden Körperteil herumgefuchtelt hatte, um für die roten Spritzer zu sorgen.
Er dachte nicht. Er fühlte nicht. Er nahm nur war. Dann verließ er die Wohnung, schloss die Tür und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum. Er durchschritt den kurzen Korridor und rief den Lift. Ein Film aus Tränen vernebelte seine Sicht, als er in den Fahrstuhl stieg und die rote, langsam an der Wand herab rinnende Botschaft las. Er ballte die Faust und rammte sie gegen den kalten Stahl der Fahrstuhlwand. Dann ließ er es zu, dass die Trauer und die Wut Überhand gewannen. Als der Lift im Erdgeschoss ankam, lag ein zitternder, hemmungslos weinender Junge in seinem Zentrum. Die Aufschrift an der Wand war so sehr verlaufen, dass sie kaum noch zu lesen war. Sie ergab eh wenig Sinn. Sie lautete: „Sayonara, bitches!“

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Keiko mochte jung sein, aber sie hatte bereits zahlreiche Flughäfen in ihrem Leben gesehen. Der Sea-Tac Airport beeindruckte sie nicht. Der Hauptunterschied zum Narita International Airport im Großraum Tokio bestand darin, dass die unzähligen umherhetzenden Anzüge zum Großteil in Designer-Regenjacken gehüllt waren. In den Anzügen stecken die gleichen gestresst wirkenden Menschen. Vielleicht pressten hier noch mehr Leute Mobiltelefone an die geröteten Ohren. In Japan war es üblich, sich Computer und Telefon implantieren zu lassen, sobald ein Doktor den Körper als ausgewachsen und eine Implantation für unbedenklich erklärt hatte. Die japanischen und chinesischen Schriftzeichen, die überall aufblitzten oder auf Schildern prangen, fielen stärker ins Auge als die englischsprachigen Hinweisschilder. Keiko nahm dies als Beweis, dass die Gaijins endlich auf dem Weg waren, ihre Unterlegenheit gegenüber der asiatischen Rasse einzugestehen. Immerhin. Keiko war tolerant genug, Einsicht zu akzeptieren, selbst wenn sie verspätet kam.

Sie wusste, dass sie sich nicht um ihr Gepäck kümmern musste. Ihr Großvater hatte versprochen, dass er jemanden schicken würde, um ihre Koffer und vor allem ihre Tasche mit den Schwertern und Messern abzuholen. Er hatte auch bereits im Vorfeld dafür gesorgt, dass weder diese Tasche noch ihr vermutlich auch in den Computern der amerikanischen Polizei registrierte Gesicht irgendwelche Lampen aufleuchten ließ. Letzteres fand sie bestätigt, als der Uniformierte an der Passkontrolle sich kaum mit einem Blick auf ihre Papiere aufhielt, bevor er sie durchwinkte. Dass auch ihre Tasche es durch die Kontrolle geschafft hatte, war spätestens dann klar, als sie Minuten später eben diese auf dem Boden stehend neben einem jungen Mann vorfand, der zumindest von den Gesichtszügen her auf eine japanische Herkunft schließen ließ.
Alles andere an dem Jungen war amerikanisch oder zumindest sehr retro. Sein Schädel war abgesehen von einer grün gefärbten, vor Gel triefenden Elvistolle kahl rasiert. Sein muskulöser, zumindest an den Armen stark tätowierter Körper steckte in einer Jeansweste, die über und über mit Aufnähern von Metal- und Punkbands verziert war. Die Rückseite dieser Weste wurde von einem Patch zu Ehren der Killer Critters dominiert, was zum einen eine große Verbundenheit zum lokalen Untergrund, zum anderen einen sehr zweifelhaften Musikgeschmack zum Ausdruck brachte.

(Keiko konnte den Aufnäher in diesem Moment nicht sehen und es würde eine ganze Weile dauern, bis ihr der Name dieser Band etwas sagen würde. Der Autor nimmt es sich an dieser Stelle einfach einmal heraus, eine Referenz auf ein früher geschriebenes „Werk“ und einige von ihm geleitete Shadowrun-Runden zu machen und bittet dies zu entschuldigen. Zwei bis drei Leute werden die Anspielung verstehen und sie hoffentlich spaßig finden.)

Er stand außerhalb der Haupthalle des Flughafens, direkt zwischen dem Eingangsbereich und einem sehr langen, sehr teuer wirkenden Mercedes. Neben ihm stand ein Angestellter des Airports, der abwechselnd auf die Limousine und seine Armbanduhr schaute und auf dessen Stirn sich sekündlich mehr Schweißperlen sammelten.
Der junge Mann in der Lederweste deute auf Keiko, als sie sie ins Freie getreten war. „Du bist die kleine Kurasawa, richtig?“
„Ich bin Keiko Diana Kurasawa. Richtig.“ Ihre Stimme war frostig.
„Ich bin hier, um dich abzuholen. Dein Opa hat es nicht geschafft, aber er erwartet dich im Tempel. Willkommen im wilden Westen!“
Sie zuckte mit den Schultern und ging auf den Jungen zu. „Dein Name?“
„Ich bin Roku.“
„Roku? So wie die Zahl 6?“
„So wie Teil der Top Ten, Baby!“
Keiko machte einen gedanklichen Vermerk, den Jungen sehr qualvoll sterben zu lassen, wenn sie sich erst in den Staaten eingelebt hatte. „Da du offensichtlich von Steinen aufgezogen worden bist, werde ich dein `Baby´ einfach ignorieren. Du darfst mir jetzt die Tür öffnen und meine Tasche verstauen. Ich hoffe mein übriges Gepäck befindet sich bereits im Kofferraum.“
„Wie Sie wünschen, Euer Gnaden. Und ja, die Koffer sind gut verpackt.“
Er öffnete eine der zahlreichen Türen der Limousine. „Treten Sie doch ein, Eure Kostbarkeit. Und genieß den Trip!“
Keiko würdigte ihm keines weiteren Blicks. Sie trat an ihm vorbei und schmiegte sich in das Leder der Sitzbank. Das Innere des Mercedes roch gut. Es roch nach neuen Möglichkeiten.

-

Timothy dachte nicht daran, die Polizei zu rufen. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lief los. Wenn er eines als Sohn seiner Eltern gelernt hatte, dann war es, dass die Polizei niemals ein Problem lösen aber immer Dinge verkomplizieren würde. Er stürzte aus dem Haus und hastete die Straße herunter. Die Blicke der Passanten, die eh halb damit beschäftigt waren, betont desinteressiert zu wirken, und die andere Hälfte ihrer Aufmerksamkeit darauf verwirkten, nach Mitgliedern der lokalen Straßengangs Ausschau zu halten, ignorierte er. Er stolperte über das ausgestreckte Bein eines dicklichen Jünglings in Farben der Hellraizers und schlug sich die Knie auf. Einen Moment später war er wieder auf den Beinen und rannte weiter. Er lief in Richtung Süden.
Die Lichter in den die Straßen flankierenden Häuser wurden weniger, das Graffiti an den Wänden zahlreicher. Die Anzahl der Laternen, die ausgetreten oder aufgrund erfolgreich verlaufender Schussübungen ausgelöscht waren, übertraf die der noch ihr Licht ausstrahlenden schnell. Der eine Streifenwagen, an dem Timothy jetzt noch vorbeihastete, lag auf dem Dach und brannte.
Seine Lunge schmerzte und seine Beine verkrampften. Er bog in eine Straße, in welcher der sich angesammelte Müll fast bis zu den mit Brettern verrammelten Fenstern reichte. Dann stürzte er. Er rutschte über den Asphalt, schlug mit den Fäusten auf die verdreckte Straße und blieb einfach liegen. Zu erschöpft, um zu weinen oder überhaupt zu denken, zog er die Beine an seinen Oberkörper heran und wartete auf den Schlaf. Die Möglichkeit, dass ihn jemand finden und aus Spaß erschießen würde, nahm er in Kauf. Vielleicht erhoffte er sich das sogar. Immerhin hatte er gewusst, dass er die Richtung der so genannten Barrens eingeschlagen hatte.
Er war gerade eingeschlafen, als ein junger Mann, in fleckigen Jeans und einer Kunstlederjacke, deren Rücken das Logo der First Nation Gang schmückte, und behütet mit einer leicht angeschimmelten Fellmütze, eines der verkommenden Häuser am Straßenrand verließ und auf den Jungen zutrat. „Heilige Scheiße“, murmelte der junge Mann und ging in die Knie, um Timothy genauer zu betrachten. „Sieht nicht annähernd genug nach Hühnchen aus, um ihn zu essen.“

-

Ramon hatte derweil den Grenzposten passiert und zahlreiche Meilen hinter sich gebracht. Portland war nicht mehr weit.

-

Es war bereits neun Uhr als sich die Sonne dazu durchringen konnte, die Wolkendecke zu durchstoßen. Timothy konnte sie nicht wecken. Er lag auf einer Luftmatratze in einem nahezu leer stehenden Gebäude. Ein Mädchen presste ihren nackten Körper an seinen. Der Adler der First Nation Gang war auf ihre Schulter tätowiert. Hätte man sie zu diesem Zeitpunkt geweckt, wäre sie vermutlich noch viel zu high gewesen, um sich an ihren eigenen Namen zu erinnern. Hätte man Timothy geweckt, hätte er gesagt, dass er nie nach dem Namen des Mädchens gefragt hatte.

Keiko lag in einem sehr großen Bett. Allein. Sie blinzelte, als die Sonne einige Strahlen durch das Fenster ihres Zimmers schickte. Das Dröhnen eines Gongs hallte durch den Tempel, zu dem sie der Mercedes gebracht hatte, und erreichte ihr Ohr. Sie lächelte und drehte sich noch einmal auf der weichen Matratze um. Wenige Sekunden später war sie wieder eingeschlafen.

Ramon saß auf der Kante seines Betts in einem günstigen Hotel in Portland. Er zündete sich eine Zigarette an und durchforstete im implantierten Datenspeicher die Nummern der örtlichen Polizeistation. Nachdem er die Direktwahl von Snyders Abteilung ausfindig gemacht hatte, wechselte er auf das Cybercom und wählte durch. Eine weibliche Stimme erklärte ihm, dass der Inspector in seinem Büro saß und bereits auf ihn wartete. Er entschied sich für ein aus Orangensaft und einem weichen Brötchen mit Nutella bestehendem Frühstück unten im Restaurant des Hotels, bevor er sich auf den Weg machte.

Kevin Palushaj führte zu dieser Zeit ein sehr gutes Gespräch. Er war in der schlimmsten Woche, welche die Portland High School jemals erlebt hatte, zum Hausmeister ernannt worden, aber er war einer dieser Menschen, die immer in der Lage waren, das Positive in jeder noch so furchtbar wirkenden Situation zu sehen. Er unterhielt sich mit dem neuen Nachtwächter. Dieser hieß Paul Bordeleaux, stammte ursprünglich aus Quebec und war ganz frisch an diesem Morgen eingestellt worden. Er war nervös, weil sein Vorgänger in der gerade vorbei gegangenen Nacht verschwunden war. Das Blut im Büro seines Vorgängers erschreckte ihn nur noch mehr.
Kevin zeigte sich ehrlich überrascht, dass der Direktor der Schule einen neuen Nachtwächter eingestellt hatte, bevor die Polizei ihre Untersuchungen bezüglich des Vorgängers überhaupt erst richtig begonnen hatte. Aber er schob es darauf, dass der Direktor den vorgesetzten Gremien einfach keine Möglichkeit geben wollte, den Schulbetrieb einzustellen. Ein Schüler, besser gesagt ein großer und sehr matschiger Teil davon, war bereits tot aufgefunden worden, zwei andere Schüler hatten sich in der letzten Woche auf ziemlich ungewöhnliche Weise das Leben genommen und nun war auch der letzte Nachtwächter anscheinend sehr blutig ums Leben gekommen. Vermutlich normal, dass der Direktor schnell reagierte. Der Stadtrat zeigte wahrscheinlich erste Zeichen von Nervosität.
Dennoch, der nächste Schritt durfte nicht darin liegen, einen oder zwei Schüler zu töten und darauf zu hoffen, dass die Schulleitung eine Einstellung des Betriebs vermeiden würde. Oldyne wollte Versuchskörper. Er wollte viele davon. Am besten würde er ihm die ganze Schule liefern. Auf einen Schlag.
Kevin lachte, als Paul Bordeleaux einen höflichen Witz bezüglich seiner geringen Körpergröße machte, beglückwünschte ihn noch einmal zu der neuen Anstellung und entschuldigte sich dann. Es gab viel zu tun. Das versicherte er und meinte es ehrlich.
 
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