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Katharina und der Kiez vom Pigalle - 15. Kapitel der "Französischen Liebschaften".

Romane/Serien · Spannendes
15. Kapitel der Französischen Liebschaften: "Katharina und der Kiez vom Pigalle".
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Es war wie an jedem Monatsanfang: Katharina hatte meine Mietzahlung quittiert, das Geld in ihrer Handtasche verstaut und dann die Getränke ausgepackt. Wir gingen zur Zeremonie des gemütlichen Teils unseres Mietvertrages über, genehmigten uns ein paar Gläser und spielten Strip-Poker. Zum Abschluss machte sie es mir noch einmal auf Französisch und ihr Mund saugte auch die letzten Tropfen aus mir heraus. Wenn mein Atem schneller wurde, wenn ich mit befreienden Schreien alle Viere von mir streckte, lächelte sie und war anscheinend zufrieden. Der Ablauf hatte sich ab dem ersten Tag eingespielt, nachdem wir den Mietvertrag unterschrieben und anschließend mit zwei Flaschen Wein zelebriert hatten. Den Wein hatte sie schon im Kühlschrank deponiert, bevor ich zur Wohnungsbesichtigung erschienen war. Etwas musste ihr bei unserem ersten Telefongespräch signalisiert haben, dass sich die Sache so entwickeln könnte.
Bei der Wohnungsbesichtigung zeigte sie mir die winzige Küche mit dem mickrigen Gaskocher, der auf dem Kühlschrank stand, die Küchenspüle und die beiden Schemel vor dem Klapptisch mit wackligen, dünnen Metallbeinen auf einem ausgetretenen Linoleumboden. Der mit einem Vorhang abgeteilte Schlafraum in der Größe eines Hasenstalls hatte eine Tür, durch die man sich in eine Quadratmeter große Kombination von Toilette und Dusche zwängen konnte, ohne sich gleich die Beine zu brechen. In der Wand war ein Fenster; wegen der eingedübelten Fernsehkonsole ließ es sich nur halb öffnen. Das Fenster führte in einen Hinterhof, der realistischer betrachtet ein schmaler Lichtschacht war. Da die Wohnung im dritten Stock lag, hatte ich Glück und konnte an schönen Tagen, wenn ich mich weit aus dem Fenster beugte, nicht nur die bröselige Hauswand des gegenüberliegenden Gebäudes berühren, sondern auch einen Streifen vom Pariser Himmel sehen und etwas Luft in den Hasenstall hereinlassen. Es war selbst für die ohnehin erbarmungswürdige Gegend nicht besonders komfortabel; trotzdem griff ich zu. Am Montmartre ohne Referenzen und ohne Verdienstbescheinigung eines festen Arbeitgebers auf legalem Weg eine Behausung zu finden, ist ähnlich wie ein Fünfer im Lotto. Aber woher hätte ich bei meinem Lebenswandel Referenzen und Verdienstbescheinigungen nehmen sollen? Doch von Hotels hatte ich die Nase voll und mit Katharina fing es vielversprechend an. Die Zeit unter den Brücken und auf der Straße war ohnehin schon lange vorbei. Zu viel hatte sich in der Zwischenzeit ereignet, seit ich von Marseille weg und zurück in Paris war. Aus Erfahrung lernt man, - oder man geht dummköpfig unter. Ich hatte mehr oder weniger regelmäßig unterschiedliche Jobs. Der Verdienst gab mir eine relative Geborgenheit. Endlich wollte ich unabhängiger sein, einen eigenen Telefon- und Fernsehanschluss, selbst etwas kochen, und sei die Küche auch noch so winzig. Aber ich wollte nicht mehr für jede halbwegs warme Mahlzeit die Straßen nach einem billigen Restaurant oder einem Sandwich abklappern. In Paris sind die meisten Wohnungen klein, aber im Achtzehnten Bezirk von Paris und am Pigalle und Montmartre fallen die Maße besonders bescheiden aus. Verglichen mit meinem Leben der letzten Monate konnte man Katharinas armselige Bude sogar als Luxus bezeichnen. Ich hatte mich arrangiert und verdiente genug für einen bescheidenen Lebensstandard.
Auf jeder Etage des Altbaus wohnten zwei Partien. Ganz unten befand sich ein Waschsalon mit vier Waschmaschinen und einem Trockner. Mit etwas Glück, oder wenn man die Francstücke mit leichter Gewalt in die Schlitze drückte und mit der Faust nachschlug, verrichteten die klapprigen Trommeln lärmend ihren Dienst und man bekam halbwegs saubere Wäsche. Gegenüber hauste ein Kunstmaler. Sein Atelier war Schlafstelle und Besucherraum für die bescheidene Fangemeinde des Künstlers. Vor der Tür stapelten sich leere Weinflaschen. Der süßliche Geruch von Haschisch schwang durch den Hausflur.
„Man verkommt hier in Paris!“ lamentierte Jean-Jaques. Wenn ich an seinem Fenster vorbeikam, saß er im düsteren Zimmer, den Pinsel in der Hand, und starrte in die zwei Quadratmeter Himmel oder auf sein unfertiges Kunstwerk. Manchmal goss er den Blumentopf, der mit einem Drahtgeflecht schief am Fensterrahmen hing. Oder er streichelte melancholisch eine von Madame Cocottes Katzen. Ich setzte mich in den schäbigen Ledersessel, der vor seinem Fenster auf der Straße stand. Jean-Jacques hatte ihn auf dem Sperrmüll gefunden und die Straße hochgeschleppt. Da der Sessel nicht durch die Haustür passte und in der Stube ohnehin kein Platz war, blieb das Ungetüm auf dem Trottoir vor dem Atelierfenster stehen und wurde an warmen Tagen Teil von Jean-Jaques Wohnzimmer und dort würde er wahrscheinlich stehen, bis er vom Regen verweicht und zerfetzt sein würde.
In Jean-Jacques Reibeisenstimme lag die frühe Müdigkeit eines enttäuschten Dreißigjährigen. „Kein Licht! Keine Sonne! Wo soll dabei die Kreativität herkommen? Im Süden müsste man leben, in Cannes oder St. Tropez! Dort würde ich Kunstwerke schaffen und Geld verdienen! Eines Tages werde ich mit meiner Staffelei in den Midi, nach Cannes oder Antibes ziehen!“
„Im Midi ist auch nicht alles Gold was glänzt!“ warnte ich. „Die Mieten sind astronomisch hoch, und die Reichen schotten sich ab!“ Auszugsweise hatte ich ihm von meiner Zeit an der Côte d’Azur erzählt. „Wenn du dort kein Geld hast, bist du noch ärmer dran als hier in Paris!“ Jean-Jacques seufzte und wurde nachdenklich. „Da ist was dran!“ überlegte er. „Hier in Paris findet man immer wieder Freunde oder einen Ausweg“. Er hielt die Flasche aus dem Fenster und goss Wein in mein Glas. Helene, das Mädchen vom Haus gegenüber kam hinzu und setzte sich auf die Sesselkante neben mich. Jean-Jaques reichte ihr eine Tasse mit Wein heraus. „Alors ma petite fleur!“ lachte er. „Ich hab’ keine Gläser mehr. Lass’ es dir aus der Tasse schmecken!“ Helene hob die Tasse und wir prosteten uns zu.
Im ersten Stock, zu dem eine enge, wurmstichige Wendeltreppe an bröckelndem Putz vorbei nach oben führte, wohnte Madame Cocotte mit ihren Katzen. Niemand wusste, wie viele Katzen dort zu Hause waren, wahrscheinlich nicht einmal Madame Cocotte selbst. Man roch nur durch die Tür den beißenden Katzengestank und hörte sie miauen; zu sehen waren sie nur selten. Hin und wieder ging ihr eine Katze verloren oder verstarb. Dann wackelte Madame mit ihrem Krückstock entschlossen durch die Nachbarschaft und fragte überall herum. Sie klebte Zettel mit krakeligen Suchmeldungen an Lichtmasten und Hauswände und ans Schwarze Brett von Miroslav. Der Serbe hatte zwischen der arabischen Bäckerei und der koscheren Fleischerei eines usbekischen Juden in einem überdachten Hausdurchgang eine Nähmaschine stehen und ein Schild mit der Aufschrift „Änderungsschneiderei“ angebracht. Madame Cocotte stand im Verdacht, sie würde die Verlustmeldungen ihrer Katzen übertreiben. Ihre Leidens- und Verlustgeschichten gaben ihr nämlich Gelegenheit, unter die Leute zu kommen und ein Schwätzchen zu halten. Besonders hinüber ins Eck-Bistro 'Les Trois Fréres’, wo sie bei jeder Verlustmeldung einen Petite Rouge von der Wirtin bekam, den sie am Tresen im Stehen trank und gleichzeitig die anderen Gäste mit Lebensweisheiten über die Schlechtigkeit der Menschen unterhielt, bis sie sich schließlich doch auf einen der alten, braunen Holzstühle an einen schmiedeeisernen Tisch setzte. Das führte in der Regel dazu, dass einer der Gäste sich erbarmte und ihr ein zweites und drittes Gläschen offerierte, bis ihre Stimme schwer wurde und sie mit der Welt versöhnt lächelnd verkündete: „Dann will ich mich mal auf den Heimweg machen!“
„A la prochaine!“ rief ihr dann die Wirtin nach, und Madame Cocotte grinste ein wenig trunken und idiotisch „Oui, merci! A la prochaine!“
Nach einer Weile brachten Kinder eine heimatlose Katze, die sie im Pigalle-Viertel aufgestöbert hatten und Madame Cocotte nahm sie in ihre Katzenfamilie auf. Abends, im Sommer so gegen Neun, im Winter früher, verließ Cocotte das Haus und schlurfte trotz ihres Beinleidens mit Ausdauer und zwei Eimerchen durch die steilen Gassen um den Montmartre. Mit sicherem Blick und ausgeprägtem Gespür durchsuchte sie neben den Restaurants die Mülltonnen. In einem Eimerchen landeten Futterreste für die Katzen, in das andere gab sie die Delikatessen für den eigenen Verzehr. Den Scheck ihrer Sozialrente löste Cocotte einmal monatlich im Postamt in der Rue Clignacourt ein.
Das alte Ehepaar Claudine und Emile Cheval wohnten Cocotte gegenüber. Es war die etwas größere Wohnung mit dem Fenster zur Straße. Claudine und Emile hatten alle Worte einer langen Ehe gewechselt und gingen sich, so weit wie möglich, aus dem Weg. Claudine füllte mit üppigem Oberkörper das Fenster aus und war somit optisch auf dem neuesten Stand der Ereignisse in unserer Straße. Da sie niemanden zum Reden hatte, - von den Nachbarn wurde sie wegen ihren Intrigen und ihrer spitzen Zunge gemieden -, machte sie ihrer Einsamkeit auf dem nahegelegenen Polizeirevier in der Rue Clignacourt Luft und erzählte dem Wachhabenden ihre Beobachtungen. Der hörte sich alles an und sagte zwischendurch, ungeduldig von seinem Schreibtisch aufblickend: „Ja, ja, Madame Cheval, Ihre Angaben sind sehr nützlich! Wir werden uns darum kümmern! Sie können beruhigt nach Hause gehen! Nein, sie brauchen nichts zu unterschreiben! Wir glauben Ihnen!“
Ihr Mann Emile war ein schmächtiges Kerlchen. Asthmatisch und gehbehindert hing er in einem wuchtigen Sessel vor dem Fernseher, der auch dann weiterflimmerte, nachdem Claudine „Au table!“ gerufen hatte; einen der seltenen Sätze, die man von den beiden durch den Luftschacht hören konnte. Dann schlurfte Emile in die Küche und setzte sich wortlos auf die Eckbank. Zuerst schaute er auf seinen Teller, dann, mit einem heuchlerischen Vorwurf im Blick fragend auf seine Frau, die sich den Schemel zwischen Tisch und Herd herangezogen hatte. Daraufhin nahm Claudine eine Tomate vom Teller, schnitt sie in Scheiben, streute Salz darüber und drapierte die Hälfte auf Emiles Teller. Schließlich legte sie noch ein Stückchen Leberwurst und eine Ecke Camembert daneben und schob den Teller wortlos über den Tisch. Emile nahm das Baguette, schnitt es in der Mitte durch, schmierte Margarine darauf und gab aus einem Glas einen Klecks Majonäse hinzu. Schweigend begannen sie zu essen, immer wieder durch die Tür hinüber ins andere Zimmer auf den lärmenden Fernseher schielend.
Unter mir wohnte die dicke Halima mit sieben oder acht Kindern in den beiden gegenüberliegenden Wohnungen. Die genaue Anzahl der Kinder wusste nicht einmal die Sozialhelferin, die mitunter kam und ein Lebensmittelpaket oder gebrauchte Kleidung von der Caritas brachte. Die dicke Halima konnte wegen den vielen Kindern und ihrem schlechten Gesundheitszustand nicht regelmäßig arbeiten. Unregelmäßig sah ich einen Mann sich durch Halimas Tür bücken; ein schmales, scheues Würstchen, die Hälfte von Halimas Volumen. Er schlich mürrisch durchs Haus, grüßte nie und war mir nicht sympathisch. Wenn Halima von einer Putzstelle oder vom Einkaufen kam, zwängte sie zuerst den Kinderwagen und dann ihren üppigen Hintern und zwei überdimensionale Brüste keuchend durch die Haustür. Nachdem sie den Doppelkinderwagen unten im Hausflur neben Jean-Jacques Fahrrad abgestellt und den Durchgang endgültig versperrt hatte, klemmte sie die Einkaufstüten auf einen und zwei Kleinkinder auf den anderen Arm. Hinter und vor ihr stürmten und kletterten die größeren Gören über die engen Treppenstufen. Minuten später waren Schimpfworte und Schreie, Weinen und schließlich tröstende Worte aus dem Luftschacht zu hören. Bis zu dem Tag, an dem Halima entschied, das Leben zu ändern und Tatsachen zu schaffen...
Die Leute über mir sah ich fast nie. Ich selbst kam selten über meine Etage hinaus; höchstens wenn ich hin und wieder der buckligen Madame Rosenboim im Treppenhaus begegnete und ihr die Einkaufstasche oder den Waschkorb bis zur Wohnungstür trug. Trotz meiner Hilfsbereitschaft behandelte mich Madame Rosenboim mit skeptischer Zurückhaltung. Sie war nicht unhöflich, aber verschlossen und wortkarg. „Der Krieg...!“ flüsterte mir Madame Cheval aufklärend zu. „Der Krieg - und die Deutschen! Sie wissen schon...!“ Madame Cheval erklärte nie etwas ausführlich. Ihre hinterhältigen Spitzen steckten in Andeutungen und Halbheiten. „Also, das muss ich Ihnen sagen, Monsieur Claude: Zu mir waren Ihre Landsleute immer sehr höflich! Ich war damals ja noch ein junges Mädchen, wissen Sie! Nicht mal Zwanzig! Ich war Hausmädchen bei einem Schlachter, mein Vater war Polizist, wissen Sie, immer für Recht und Ordnung, die Deutschen hatten ja das Sagen, also wie gesagt, die Deutschen waren die ganze Zeit über zuvorkommend und korrekt zu uns...!“
„Sie hießen ja auch nicht Rosenboim!“ erwiderte ich einmal. „Aber natürlich nicht!“ antwortete Madame Cheval, halb erstaunt, halb vorwurfsvoll. Später beschränkten sich unsere Gespräche auf ein nickendes und reserviertes „Bonjour“. Über französische Nazi-Kollaborateure und feige Mitläufer hatte ich unterdessen genug erfahren, um gegenüber Biedermännern und dem Stammtischgeschwätz der Madame Cheval gefeit zu sein.
Unter dem Dach wohnten Menschen mit dunkler oder getönter Hautfarbe; ich sah sie nur selten im Vorbeigehen und konnte sie anfangs nicht einordnen. An manchen Tagen kam die Polizei oder der Gerichtsvollzieher oder ein Jazztrompeter hatte sein Mansardenfenster offengelassen. Sonst war es ruhig in unserer Straße. Die Touristenscharen fuhren in der Regel mit der Zahnradbahn hoch zur Sacre-Coeur; nur wenige nahmen als Rückweg unsere stille Gasse. Zumal man von hier aus nicht zurück in den Rummel der Moulin Rouge gelangt, sondern sich bald im unbekannten Dschungel arabischer Gerüche und afrikanischer Bazare verirren würde. „Wir leben genau auf der Grenze zwischen Zivilisation und Afrika!“ lachte Katharina. Sie musste es wissen; sie war Grenzgängerin und schien auf beiden Seiten heimisch zu sein.
Katharina und ich sahen uns regelmäßig einmal im Monat. Immer am Tag der Mietzahlung, wenn sie herausgeputzt, geduscht und parfümiert mit frischer Unterwäsche, die sie ohne Kleid direkt unter dem Mantel trug, zur festgelegten Stunde bei mir klingelte, um Miete und Lichtpauschale zu kassieren. Im Sommer war es ein dünner, sportlicher Kleppermantel, der BH-Körbchen und Strapse verdeckte. Im Pariser Winter, der mit eiskaltem oder regnerisch nassem Wind durch Straßen und Metro-Schächte und um die Türme von Sacre-Coeur bläst, gönnte sich Katharina einen langen, glockenartigen Baumwollmantel. Darunter trug sie schwarze Wollstrümpfe, die in Stöckelschuhen steckten. Die Strümpfe wurden am Oberschenkel von einer roten Gummilitze weit unter den Schamhaaren gehalten. Immer brachte Katharina ein paar Büchsen Bier oder eine Flasche Wodka, meistens beides mit; ich hatte Häppchen mit Käse, Paté und Oliven vorbereitet, wir ließen es gemütlich angehen und es endete jedes Mal so heftig, dass mich Madame Cheval nach Katharinas Besuchen besonders freundlich und hinterhältig süffisant begrüßte und versuchte mich neugierig in ein Gespräch zu verwickeln. Nach unserem Liebesfest rauchten Katharina und ich in Ruhe noch eine oder zwei Zigaretten, tratschten wie zwei ausgebuffte Conçierges über Nachbarschaft und Hausbewohner, oder sie erzählte mir Lobeshymnen über ihre Kinder, bis ich ihr in den Mantel half und sie sich mit einem Lächeln und vier Wangenküssen freundlich und verschmitzt verabschiedete. Es war jedes Mal wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Einmal im Monat ein Fest der Freude, und dazwischen war ich vier Wochen frei für andere Varianten.
Nachdem ich in den Kiez von Montmartre gezogen war, hatte ich Pascale wiedergefunden und neue Leute kennengelernt. Pascale arbeitete unterdessen als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus und lebte mit ihrer lesbischen Freundin zusammen. Eine andere Bekannte, Veronique, war Film- und Theaterschauspielerin. Sie hatte mir den Statistenjob in den Filmstudios von Billancourt verschafft, was zusätzlichen Nebenverdienst bei interessanter Arbeit bedeutete. Ich hatte Veronique auf einer Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit kennengelernt. Sie war Wortführerin einer Gruppe Immigranten, die von einem Pfarrer in einer Pariser Kirche versteckt wurden. Wir wollten die Afrikaner gegen Ausweisung schützen und die Behörden bewegen, ihnen legale Aufenthaltspapiere auszustellen.
Isabelle, eine Air-France Stewardesse, hatte ich in einem Tanzschuppen kennengelernt. Sie hatte mich später in verschiedene Pariser Clubs der Spanner und Desous-Fetischisten eingeführt. Aber sie war nur gelegentlich in Paris und litt wahrscheinlich auch in der großen weiten Welt keinen Hunger. Sie war Nymphomanin und genoss es mit beiden Geschlechtern. Beschwipst traute sie mir einmal an: „Ich bin nur Stewardess geworden, um so viel wie möglich vögeln zu können! Da habe ich eine Auswahl von Typen, wie kaum in einem anderen Beruf!“
Mit Nathalie verband mich eine platonische Freundschaft, die ebenfalls auf einer linken Manifestation begann und vorwiegend von unserer politischen Übereinstimmung motiviert war. Nathalie war Lehrerin und unglücklich in einen verheiraten Kollegen verliebt. Während wir gemeinsam zum Essen in Restaurants gingen, erzählte sie mir von ihrer unerfüllten Liebe und wir hielten freundschaftlich Händchen. Nathalie besaß ein Grundstück mit einem Wochenendhäuschen draußen im Val de Chevreuse. Dort durfte ich meinen Minibus mit dem Werkzeug unterstellen. In Paris hätte es keinen Parkplatz dafür gegeben. Wenn ich Kunden hatte, fuhr ich mit dem Regionalexpress nach Chevreuse und dann mit dem Lieferwagen, in dem ich neben dem Werkzeug auch eine Küche mit Campinggasherd und ein Klappbett eingebaut hatte, zu den Kunden. Ich reparierte Hausmauern oder strich Gartenzäune an, mähte den Rasen und war der gute Geist für viele Arbeiten in Haus und Garten, für die Hausbesitzer kurzfristig keine anderen Handwerker fanden. Das war meine Marktlücke! Wurde ich mit einer Arbeit nicht am gleichen Tag fertig, schlief ich gleich vor Ort im Minibus, brutzelte mir eine warme Mahlzeit, oder verbrachte den Abend im örtlichen Bistro. Und wenn sich dort etwas in Sachen Liebe ergab, was gelegentlich unverhofft auftauchte und man nur die richtige Sekunde des Zugreifens erkennen musste, war auf dem Klappbett des Minibusses auch noch Platz für Frau und Fantasie. Aber auf dem Land außerhalb Paris war das nur selten der Fall; meistens hing ich nur in der Dorfkneipe herum und trank vor dem Schlafen noch ein oder zwei Bier.
Meine Freizeit in Paris verbrachte ich vorwiegend in Bistros und kostenlosen Bibliotheken. Auch klassische Konzerte konnte man im großen Sendehaus von Radio France kostenlos besuchen, und irgendwo in der Stadt fanden in Kunstgalerien immer Vernissagen statt, wo es Häppchen und Getränke auch für jene Abstauber gratis gab, die nicht eingeladen waren, sondern einfach auftauchten und sich mit altklugen Sprüchen unters kunstbeflissene Volk mischten und so taten als gehörten sie dazu.
Die Winterwochenende verbrachte ich oft genug in den Dancings, den ‚Balles Mousettes’, den Tanz- und Anmachschuppen der Stadt, in denen selbst blinde Hühner noch Körner finden. So überbrückte ich immer die vier Wochen bis zu Katharinas nächstem Besuch.
Katharina war Russin. Sie war groß, viel zu groß, um als Frau neben einem Durchschnittsfranzosen nicht deplatziert zu wirken. Optisch bestach sie durch lange Beine, ausgeprägte Rundungen und ein unbekümmertes, selbstsicheres, provozierendes Auftreten, das mich an Suzanna, die Polin aus Marseille erinnerte. Katharinas hohe Backenknochen ohne Fettpolster gaben ihr diese geheimnisvolle slawische Betonung. Die feinen Krähenfüße um Augen und Mundwinkel verliehen ihr etwas Verruchtes, einen Schuss morbider Verlebtheit, die mich anzog, die ich erotischer fand als die faden Plastikgesichter modisch aufgemotzter Jungblondinen, die in den späten Siebzigern den Gammel- und Hippie-Look der Achtundsechziger Generation abgelöst hatten. Wenn Katharina die langen blauschwarzen Haare nicht zu einem Knoten oder Pferdeschwanz gebunden hatte, sondern offen und wellig herabfallend trug, konnte Mann auf zauberhafte Gedanken kommen und trotz ihrer nicht mehr ganz taufrischen Jugend sogar daran denken, auch einmal ein paar Scheine locker zu machen, wenn sie es denn verlangt hätte. Doch anscheinend waren ihr meine pünktliche Mietzahlung und zwei Stunden Spaß als Gegenleistung genug. Katharina lebte seit ihrer Kindheit in der zweiten Generation in Frankreich und wohnte ein paar Straßen weiter hinter der Place de Clichy. “Meine Großeltern hatten Verbindung zum Zaren! Sie hatten am Hof des Zaren eine verantwortliche Stellung!” beteuerte sie stolz, aber ohne genauere Definition. Sie ließ keine Gelegenheit aus, auf ihre russische Herkunft hinzuweisen und auf alle Kommunisten Frankreichs und dieser Welt große Kübel Jauche auszuschütten. Für mich blieb ungeklärt, ob Katharinas Familie zu den großbürgerlichen Schleimern, Abstaubern und Hof-Intriganten gehörte, oder nur Stallbursche und Küchenmamsell im Umfeld des Zaren waren.
Katharina hatte drei Töchter im Alter von Vierzehn bis Sechzehn; eine Lolita schöner und verruchter als die andere. Die drei hingen mehr in den Bistros und an den Flipperautomaten um die Gare St. Lazare und an der Place de Clichy herum, als in der Schule, dem Licée Ferry, wo die Dealer damals noch nicht auf den Schulhof durften, sondern auf der Rückseite zwischen der Post und dem Square Berlioz die Schüler anmachten.
“Kinder habe ich! Kinder! Ich kann dir sagen! So etwas von brav und wohlerzogen! Da kann sich die ganze Elternbande rund um die Place de Clichy eine Scheibe abschneiden!” prahlte Katharina. Nie konnte ich herausfinden, ob sie selbst an diese frommen Lügen glaubte, oder sie nur benutzte, weil sie eben von jeder und jedem benutzt wurden, während alle wussten, wie das Leben wirklich abläuft. Jedenfalls fragte Katharina nie, warum ihre Gören bei knapp bemessenem Taschengeld in teuren Designerklamotten herumtigerten. Von Katharina hatten sie das Geld nicht…
Die Älteste, Cloe, hatte schokoladenfarbene Haut, Kulleraugen wie glänzende Murmeln, schwarzblaue lange Haare und einen Nigerianer zum Vater, der einst als Kunstmaler oder Karikaturist auf der Place de Tertre zwischen den Touristen herumhing und eines Tages unbekannt verschwunden war. Mit ihren langen Beinen und einer Stupsnase zwischen fantasievollen Augen hätte Cloe das Zeug zum Model gehabt, hätte sich denn jemand ernsthaft darum gekümmert. Stattdessen webte sie nach der Schule gelegentlich in einem afrikanischen Friseursalon in einer Nebengasse der Rue de Clignacourt Afrikanerinnen Haarteile und Perlen in die Kraushaare.
„Wir sollten Fotos von Cloe machen, und sie den Modelagenturen vorlegen!“ hatte ich Katharina vorgeschlagen. „Ich kümmere mich um die Kleine! Cloe hat das Zeug zum Model!“ Aber es war wie ein Stich ins Wespennest. „Wenn du nur ein einziges Mal die Finger an Cloe legst, dann war das dein letztes Stündlein! Dann beiß‘ ich dir den Pimmel ab und kratze dir die Augen aus!“ drohte Katharina. Ich lachte, aber ich unterließ jede weitere Diskussion zu diesem Thema. „Ich bin eine Mutter, und ich…“, Katharina schlug sich mit der flachen Hand auf die Herzgegend, „...ich bin Russin! Eine Frau mit Seele! Eine Frau mit Herz! Aber das kann ja so ein nüchterner Germane wie du nicht verstehen!“ Sie war wütend, schmollte herrlich und schenkte Wodka in unsere Gläser nach. „Nastrowje!“ Während wir tranken und ich das Glas in einer Hand hielt, tastete sich meine andere an Katharinas Pobacken vorbei zwischen ihre feuchten Beine. Katharina biss mir in die Schulter. Damit war das Thema Cloe erledigt.
Susi, die mittlere der drei Grazien, blickte die Männer mit provozierender Schüchternheit und chinesischen Schlitzaugen an. Katharina erklärte den asiatischen Ausrutscher mit einem Urgroßvater in ihrer Ahnengalerie weit hinter dem Ural. Dabei lag die familiäre Bindung viel näher: Susis Vater war Koch in einem Chinesen-Restaurant an der Place Maubert, wo Katharina ein paar Wochen in der Küche ausgeholfen hatte und mit dem chinesischen Koch in der Speisekammer verschwunden war. Susi war knabenhaft schlank und mittelgroß. Ihren Erbsenbusen unter viel zu engem Pullover hatte sie mit Schaumstoff im BH unterlegt. Sie hatte eine melodische Stimme, sang im Schülerchor und wollte Tänzerin und Sängerin werden. Unterdessen übte sie in den Karaoke-Clubs des Achtzehnten Bezirks und hatte schon Wettbewerbe gewonnen. Als Preise gab es ein Jahres-Abo für eine Disco, dann eine überdimensionale Puppe in einem rosa Tüllkleid mit Petticoat, die wegen ihrer Größe nicht auf den Kleiderschrank passte und einen Sessel in Katharinas überfrachtetem Wohnzimmer einnahm, so dass Besucher nur noch in der Küche Platz finden konnten.
Die Jüngste, Nicole, war eine jener typisch verwöhnten Französinnen, denen Schein mehr als Sein bedeutete. Eigenwillig, hochnäsig und introvertiert. Nichts war ihr gut genug, an allem hatte sie etwas zu mäkeln. Sie behandelte die Jungens und ihre Mutter wie Marionetten. Sie log mehr als alle Politiker dieser Welt zusammen, klaute mit Nonchalance Schallplatten, Parfüm und Klamotten und kam mehr mit List und kokettem Lächeln als mit Leistung über die Schuljahre. An ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie ihr Lebensziel manifestiert: „Ich will niemals arbeiten! Ich will niemals heiraten! Und ich will gut leben und reich werden!“ Cloe hatte ihrer Schwester, mit der sie ewig im Clinch lag, angeschrien: „Im Knast wirst du enden! Im Knast!“ Katharina hatte Nicole in den Arm genommen: „Mein Schätzchen!“ sagte sie zu Cloe, „Lass unser Täubchen träumen! Das Leben wird ihr den richtigen Weg weisen!“
Nicoles Vater Philip besaß ein Bistro, wo Katharina nach Susis Geburt und bis zur Trennung von Philip am Tresen ausgeholfen hatte. Ansonsten war Katharina offiziell arbeitslos und Sozialhilfeempfängerin, daneben freiberufliche Putzfrau und Büglerin. Ich hatte sie im Verdacht, gelegentlich auch in den Bistros am Montmartre herumzuhängen und ein paar schnelle Franc mit ihrer herrlichen Möse oder ihrer flinken Zunge zu verdienen, um am Monatsende die knappe Haushaltskasse kurzfristig aufzubessern und die steigenden Bedürfnisse ihrer Töchter zu befriedigen.
„Mit meinen Nebenbeschäftigungen als Büglerin und Kellnerin habe ich Franc für Franc zusammengekratzt!“ beteuerte sie, während sie sich rhythmisch auf mir bewegte. Sie war in jeder Hinsicht eine Arbeitsbiene. So konnte sie die beiden Hasenställe in zwei krummen fünfstöckigen Häusern als Eigentumswohnungen kaufen. Die Zwölfquadratmeterbude hatte sie seit gut einem Jahr an mich vermietet. In ihrer anderen Eigentumswohnung in der Rue St. Petersbourg wohnte sie mit ihren Gören in drei winzigen Zimmerchen im vierten Stock in für Pariser Arme-Leute-Verhältnisse beachtlichen achtunddreißig Quadratmeter, die mit Möbel und Krimskrams vollgestopft waren. Das Haus steht schräg gegenüber der kleinen Kirche St. André de l’Europe, in die Katharina jeden Tag zum kurzen Gebet und einmal in der Woche zur Beichte zu einem russischen Popen ging.
An diesem 1. Mai war Katharina verändert, war in Jeans und Pullover gekleidet, geschlossen und zugeknöpft. „Heute Champagner?“ fragte ich und deutete auf die Flasche, die Katharina ausgepackt und ins Kühlfach gestellt hatte.
„Ja!“ Sie zögerte. „Wir feiern unseren Abschied!“ antwortete Katharina leise, flüsternd, zaghaft.
„Willst du mir kündigen?“ Ich versuchte es mit Scherz und Ahnungslosigkeit.
„Nein! Es hat nicht direkt etwas mit der Wohnung zu tun!“ Katharina holte zwei Gläser aus dem Wandschränkchen, hielt sie umständlich gegen das Licht und stellte sie auf den Tisch. Schweigend sahen wir uns an.
„Du bist verliebt?!“ sagte ich endlich.
„Ja!“
„Schon lange?“
„Eine Woche!“
„Wer ist es?“
„Mein Traummann!“
„Hmm!“
„Nichts Hmm! Er ist wirklich mein Traummann!“
„Bist du sicher…?“
„Aber sicher bin ich sicher! Eine Frau kennt den Unterschied ob‘s klickt oder nur schön ist!“
„Und wir beide…?!“ fragte ich zurückhaltend.
„Nein!“ Katharina reichte mir die Champagnerflasche. „Es wird das letzte Mal sein! Mein Leben wird sich verändern!“
„Und ich? Unsere Treffen?“
„Das auch…!“ Sie lächelte schwach und ein bisschen wehleidig.
„Warum so plötzlich?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Plötzlich! Plötzlich! So etwas kommt eben! Das plant man doch nicht. Man wünscht es sich, und dann ist es plötzlich da…!“
„Was wünscht man sich...?“
„Die Liebe!“ sagt Katharina eine Spur zu hektisch. „Den Mann, mit dem man jeden Abend zusammen sein und morgens gemeinsam wieder aufwachen will!“
„Du hast dir das gewünscht? Aber ich dachte…“
„Du dachtest! Du dachtest!“ Katharina funkelte mich unruhig an. „Du hast mir ja nie einen Antrag gemacht…!“
„Iiich?“ Ich höre wohl nicht richtig. „Aber mein Mädchen! Sag’ mal...! Was habe ICH denn damit zu tun?“
„Ja, du!“ Katharina saß mir gegenüber. „Denkst du wirklich, ich hätte niemals mit deinem Antrag gerechnet? Aber du lebst ja nur so in den Tag hinein, schlimmer wie ein Steppenwolf! Mal hier und mal da schnuppern! Aber sich niemals festlegen, niemals Verantwortung übernehmen! Aber ich bin eine Frau! Hörst du: Eine Frau! Ich möchte wissen, wohin ich gehöre!“
Zwei Tränen drückten sich aus Katharinas Augen. „Und ich werde Fünfunddreißig! Fünfunddreißig Jahre!“ Jetzt heulte sie.
„Das ist jung!“ beschwichtigte ich und mühte mich um einen ruhigen Tonfall, um den depressiven Gang aus dem Getriebe zu nehmen. Ich versuchte sie zu streicheln. Sie setzte sich auf die andere Seite des Tisches.
„Ich habe drei Kinder von drei verschiedenen Vätern!“ Sie schnäuzte sich die Nase und wurde ruhiger. „Alle drei Kerle hatten mir Gott weiß was versprochen! Alle! Und keiner hat Wort gehalten! Das waren alle Scheißer! Jetzt ist der Richtige gekommen! Glaubst du vielleicht, eine Frau würde nicht auf den Richtigen warten? Du bist ja nur ein Kerl! Was wissen Kerle schon?“
„Du warst aber unterdessen auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit!“ Ich hätte mir besser auf die Zunge beißen sollen.
„Was meinst du damit? Willst du mich beleidigen? Hätte ich unterdessen ins Kloster gehen sollen?“ Ihre Augen sprühten Feuerwerk. „Schließlich hast du ja auch davon profitiert, dass ich keine Heilige bin!“
„Woher weißt du, dass es diesmal der Richtige ist?“ Ich versuche der Unterhaltung eine Wende zu geben.
„Das weiß man! Das spürt man als Frau! Oder?“
„Erzähl’ mal!“ Ich setzte mich und um Zeit zu gewinnen, öffnete ich die Flasche und füllte die Gläser.
„Er heißt Henry, ist etwas jünger als ich, Achtundzwanzig! Arbeitet im Hotel an der Oper als Zimmerkellner!“ Jetzt sprudelt es aus Katharina hervor. „Ich hatte an diesem Abend einen Herrn getroffen. Einen spendablen Herrn. Du verstehst?! Aber sehr anständig! Der hatte dort ein Zimmer für uns gemietet. Und stell dir vor, Henry brachte uns den Champagner aufs Zimmer! Wir schauten uns an und da hat es geklickt. Kannst du dir das vorstellen? Da gehst du mit einem Kerl ins Hotel, und ausgerechnet dort begegnet dir der Mann deines Lebens!? Ameisen, hat er gesagt, Ameisen krabbeln durch seinen Bauch! Aber bei mir waren es Schmetterlinge! Mein Kunde hatte sich verabschiedet, nachdem wir das Geschäftliche erledigt hatten, und ich bin noch im Zimmer geblieben, das war ja für die ganze Nacht bezahlt und auch vornehm und komfortabel. Hausbar, Piccolos und ausgiebig duschen! Ich dachte nur, hoffentlich kommt Henry noch mal rauf, trotz dem anderen Kerl, das war mir ja soo peinlich! Und Henry kam, immer zwischendurch, wenn er mal nichts zu tun hatte, wir liebten uns viermal in dieser Nacht. Er kann fast ohne Unterbrechung…“. Katharina verdrehte schwärmerisch die Augen. „Er erzählte mir alles über sein Leben. Spart sein ganzes Geld, um sich selbstständig zu machen. Ein eigenes Bistro, oder ein kleines Hotel mit Restaurant. Davon hab‘ ich mein Leben lang geträumt! Henry ist fünf Zentimeter größer als ich und ich kann sogar Stöckelschuhe neben ihm tragen. Er war verheiratet. Seine Frau ist mit einem Staubsaugervertreter aus Lille durchgebrannt. Sie wollte was Besseres sein, wollte nicht warten, bis Henry das Geld für was Eigenes zusammen hatte. Sie hat die beiden Kinder mitgenommen. Er wohnte in einer Mansarde im Hotel. Ein Loch, sag’ ich dir. Ein Loch! Da konnte er keine Minute länger bleiben! Ist doch nichts für einen solchen Mann! Henry hat Pläne! Und ich bin ja auch aus der Gastronomiebranche…!“ Sie schaute verträumt in ihr Glas. Dann sagte sie fest, als sei die Planung bereits perfekt: „Und ein paar Francs hab’ ich schließlich auch auf dem Sparbuch!“
„Ich freue mich für dich!“ sagte ich unsicher und skeptisch. Die Geschichte hörte sich zu glatt an. War ich eifersüchtig? Knabberte da etwas in mir? Oder störte mich Katharinas Bemerkung, ich würde ohne Liebe wie ein Steppenwolf in den Tag hinein leben? Scheiß Weiber! Sollen mir doch alle den Buckel herunterrutschen!
„Willst du mein Trauzeuge sein?“ Katharina kam auf den Punkt zurück.
„Denkst du denn schon ans Heiraten?“
„Wir haben darüber gesprochen!“
„Siehst du ihn denn oft?“
„Aber ja! Jeden Tag! Er wohnt ja bei mir!“
Ich seufzte. „Natürlich werde ich dein Trauzeuge sein!“ Ich bemühte mich, überzeugend zu klingen. Katharina lächelte. Nie zuvor kam sie mir so schön, so ausgeglichen und gleichzeitig so abgehoben vor. Sie kuschelte sich an mich und ich legte meinen Arm um ihre Schulter. Mit den Fingern streichelte ich über ihre schönen Krähenfüße an den Mundwinkeln.
„Komm! Ich möchte dich noch einmal lieben!“ flüstert sie. Zum ersten Mal hatte sie ‚lieben’ gesagt und nicht eins unserer ordinären Fickwörter benutzt. Mit ihrem Gesicht kam sie nahe an meinen Mund. Ihre Hände umschlossen meinen Kopf. Ihr Mund begann mich zu liebkosen. Ihre Lippen strichen über meinen Mund, mit einer Zartheit, wie ich sie mit Katharina nur an diesem letzten Tag erlebt hatte. In den vergangenen Monaten hatten wir alle sexuellen Stellungen und Ideen ausprobiert, sie hatte mir den Finger in den Hintern gesteckt und ihre langen schwarzen Haare um meinen Schwanz gewickelt. Ich hatte alle ihre Löchlein ausgeschlürft, hatte sie im Handstand genommen, über dem Küchentisch und von hinten im Fensterrahmen, bis die Nachbarn „Ruhe!“ schrien. Wir hatten uns beim Masturbieren gegenseitig zugeschaut und Champagner dabei getrunken und Joints geraucht und meinen Schwanz mit Nutella eingeschmiert, die sie mir abgelutscht hatte. Unsere Körperteile waren rot und blau geknutscht, aber -, wir hatten uns während einem Dutzend Orgien nicht ein einziges Mal innig mit dem Mund geküsst.
Katharina hatte sich angezogen und war gegangen. In der Tür hatte sie gelächelt und mit dem Zeigefinger über meine Nase gestrichen. Es war ein wortloser Abschied. Jedes Wort wäre wohl banal und kitschig gewesen. Katharina liebte zwar Plastikblumen, Plüschtiere und Groschenromane, sie hielt Picasso für ein pikantes italienisches Hackfleischgericht, aber sie hatte ein ausgeprägtes Gespür für den Unterschied zwischen tiefen Gefühlen und banalem Geschwätz. Ich schaute ihr nach und hörte, wie unten die Haustür einklickte. Ich ging ins Zimmer zurück und legte mich nachdenklich aufs Bett. Vor dem nächsten Monatsende rief Katharina an und gab mir ihre Bankverbindung für die Mietzahlung. Dann sagte sie zögernd „Du! Kann ich noch einmal mit dir reden?“ Sie sprach leise, beinahe ängstlich.
„Aber ja! Das weißt du doch!“
„Es geht um Henry!“
„Ja, das dachte ich mir!“
„Ich war bei einer Wahrsagerin!“ sagte Katharina.
„Und!“ Ich wartete.
„Sie hat mir abgeraten!“
„Von was abgeraten?“
„Von allem!“ Katharina schwieg und wartete wohl auf meine Stellungnahme.
„Hat sie Gründe genannt?“
„Ja! Jupiter würde im Mars stehen, das bedeutet Krieg! Keine gute Gelegenheit für neue Pläne! Schon gar nicht in der Liebe!“
„Das kann keine seriöse Wahrsagerin gewesen sein!“
„Sie war nicht billig, aber sehr konkret: Ein Mann wäre in mein Leben getreten, das hat sie gewusst, aber ich solle mich vor ihm hüten! Es wäre nicht die Liebe meines Lebens! Ich soll Geduld haben, die Sterne würden mir bald ein neues großes Glück verheißen!“
„Der Mann, vor dem du dich hüten sollst, damit bin ich gemeint! Und Henry ist der andere, der neue...!“ Ich kam ins Stocken.
„Claude, bitte sag’ mir, was soll ich tun?“
„Was soll ich dir raten, Katharina?! Was ich auch sage, es kann falsch sein! Du musst das aus dem Gefühl heraus selbst wissen!“
„Mein Gefühl sagt mir aber, ich liebe ihn, und ich will ihn, und er liebt mich, und wir haben gemeinsame Pläne. Wir waren sogar schon beim Immobilienmakler...!“ Jetzt hörte ich Schnäuzen und erahnte die Tränen. „Willst du zu mir kommen?“ versuchte ich zu beruhigen.
„N-nein! Lieber nicht...!“ Sie heulte weiter.
„Ich mache dir einen Vorschlag: Ich werde nachdenken und ich rufe dich morgen zurück! Okay?“ Ich hatte eine vage Idee.
„Okay. Dann bis morgen!“
„Ich küsse dich!“ sagte ich. „Bis morgen!“
*
Dies war ein Auszug aus
Michael Kuss
FRANZÖSISCHE LIEBSCHAFTEN.
Unmoralische Unterhaltungsgeschichten.
Romanerzählung.
Überarbeitete Neuauflage 2013
ISBN 078-3-8334-4116-5.
14,90 Euro.
Als Print-Ausgabe und als E-Book erhältlich in den deutschsprachigen Ländern, in Großbritannien, USA und Kanada.
Im Web: www.Franzoesische-Liebschaften.de
*
Demnächst hier: Französische Liebschaften (16) "Der Zauber vom Montmartre".
 
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